Wogenrösser und Sonnensteine – Die Navigation

24. Oktober 2008 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt

Wie fanden sich die nordischen Seefahrer auf dem offenen Meer zurecht? Seekarten im modernen Sinne kannten die Wikinger noch nicht, und von einer Navigationswissenschaft konnte keine Rede sein, ihre navigatorischen Fähigkeiten beruhten ausschließlich auf Erfahrung. Dennoch konnten die Wikinger auf ihren Fahrten über den Nordatlantik durchaus Richtung und Distanz bestimmen.

Ihre Erfahrungen gaben die Wikinger-Steuerleute in detaillierten Segelanweisungen weiter, die gelegentlich auch aufgeschrieben und überliefert wurden oder in Sagas und Chroniken wie dem isländischen Landnamabok übernommen wurden. Eines der wichtigste Segelhandbücher des mittelalterlichen Nordens ist der Konungs Skuggsja , der Königsspiegel. Er entstand zwar erst im späten Hochmittelalter, um 1250, aber ging auf schon damals uralte Quellen zurück. In der Form eines Dialogs zwischen einen seeerfahrenen Vater und dessem Sohn, der sich als Kaufmann und Kapitän eines eigenen Schiffes bewähren will, enthält dieses Buch die nautischen Erfahrungen der Normannen.

Den Ausschlag über eine gute und schnelle Reise gaben die Windrichtung und die Meeresströmungen. Zusammen mit ihren meteorologischen Erfahrungen bildete die Windrose mit ihren acht Hauptrichtungen den Kern jeder Navigation. Unsere Namen der Windrichtungen stammen aus der nordgermanischen Mythologie – die Zwerge Ostri, Nordri, Westri und Södri tragen das aus dem Schädel des von Odin erschlagenen Riesen Ymir gebildete Himmelsgewölbe.

Schon zu Zeiten König Alfred des Großen wurden zusammen mit den Hauptwindrichtungen die Begriffe Nordost, Südost, Nordwest und Südwest verwendet. Ein System, das die Seeleute anderer Völker übernahmen und das die Grundlage der Kompassrose wurde. Der Magnetkompass war den normannischen Seefahrern noch unbekannt. Er hätte ihnen in grönländischen Gewässern auch wenig geholfen, denn die Missweisung ist dort, in der Nähe des Magnetpols, sehr stark – in der Gegend der Disko-Bucht zeigt die Kompassnadel zum Beispiel eher nach Westen als nach Norden.
In der Nacht, bei guter Sicht, fand man die Nordrichtung, indem man sich nach dem Polarstern richtete.
Obwohl die Wikinger keine nautischen Tabellen für Navigationsrechnungen kannten, hatten sie offensichtlich schon einen Begriff von der geographischen Breite. Sie wussten schon lange, dass der Polarstern umso höher am Himmel stand, je weiter man nach Norden kam. Entsprechend konnten sie auf See ihre ungefähre geographische Breite abschätzen. Sie wussten so zum Beispiel, dass die Südspitze Grönlands, Kap Farewell, genau so weit im Norden lag wie der Oslofjord. Somit war es ihnen möglich, Kap Farewell anzusteuern, indem sie den „Breitengrad absegelten“, also ihr Schiff so auf Kurs hielten, dass es immer auf der selben Nordbreite wie das Ziel lag. Früher oder später kam man zum gewünschten Ziel, obwohl man es so natürlich nicht direkt ansteuern konnte. Noch die Kapitäne des 16. Jahrhunderts machten es nicht anders. Natürlich stand der Polarstern nicht genau im Himmelsnordpol, aber da die Wikinger im Gegensatz zu den arabischen Astronomen dieser Zeit, die den Himmel schon mit fein gearbeiteten Astrolabien vermaßen, eher „über den Daumen peilten“, störte sie das wenig.

Das heißt nun nicht, die Nordmänner hätten ohne Navigationsinstrumente ausgekommen müssen, denn Bjarni und Erik hatten schließlich ihren Sonnenkompass. 1949 fand man in Grönland das Fragment eine Scheibe mit Strichen, die eine Windrose markierten, 1952 in England ein besser erhaltenes Exemplar.
Sonnenkompass
Sonnenkompass (Quelle: „The Illustrated London News“)
Dem Nautiker Kapitän Carl L. Sølver und dem Astronomen Dr. Curt Rolveg gelang es, den Sonnenkompass zu rekonstruieren. Unter Facharchäologen, die allerdings in der Regel nicht viel von Navigation verstanden, stieß ihre Rekonstruktion lange Zeit auf Ablehnung. Die experimentelle Archäologie – konkret: Navigationsexperimente auf hoher See – haben ihre „Außenseitertheorie“ mittlerweile weitgehend rehabilitiert.

Im Prinzip ist der Sonnenkompass eine Sonnenuhr. Er besteht aus eine Scheibe, in die konzentrische Ringe als Skala eingraviert wurden, einer ebenfalls eingravierten Windrose und einem Schattenwerfer. Wie findet man damit die Himmelsrichtungen? Das genaue Verfahren ist ziemlich zeitaufwendig und funktioniert nur, wenn man an einem Ort bliebt. Zunächst stellt man den Kompass möglichst waagerecht auf und bestimmt mit der Ringskala die Länge des Schatten. Man markiert auf der Windrose den Punkt, an dem der Schatten endet. Dann wartet man so lange, bis der Schatten wieder die selbe Länge wie bei der ersten Messung hat. Auch hier markiert man die Position des Schattens. Die Winkelhalbierende des Winkels zwischen dem ersten und zweiten Messpunkt zeigt genau nach Süden. Kam es auf See nur auf die ungefähre Orientierung an, ging es auch schneller: Die Schattenlänge zeigte die Tageszeit an, die Richtung des Schattens erlaubte dem erfahrenen nordländischen Navigator, der ja wusste, wo die Sonne zu bestimmten Tageszeiten stand, die Himmelsrichtungen abzuschätzen. Sehr viel genauer waren die Richtungsbestimmung, wenn er die Kurve, die die Schattenspitze im Laufe eines Tages zog, die Gonomkurve , kannte. Allerdings variiert die scheinbare Höhe der Sonne über dem Horizont mit der Jahreszeit, so dass er mehrere Gonomkurven gebraucht hätte. Am häufigsten dürfte der Sonnenkompass als Peilscheibe benutzt worden sein. Indem man zwei bekannte Landmarken, z. B. zwei Berge, anpeilt, lässt sich die eigenen Position genau bestimmen. Heute benutzt man einen Magnetkompass, um eine Bezugsgröße für die Peilwinkel zu haben, die Normanen hatten hatte ihre modifizierte Sonnenuhr.

Mit dem Sonnenkompass lässt sich auch die geographische Breite bestimmen, und zwar, indem man die Sonnenhöhe am höchsten Punkt ihrer scheinbaren Bahn ( Kulminationshöhe ) mittels der Schattenlänge bestimmt. Dazu muss man allerdings die Sonnenabweichung kennen, die an jedem Tag anders ist – die Sonne steht nun einmal im Sommer höher über dem Horizont als im Winter. Später entnahm der Seemann diesen Wert einer Tabelle. Obwohl es auch sehr gebildete Normannen gab, bezweifelt man gewöhnlich, dass der Kapitän einer Knorr sehr viel von Trigonometrie verstand. Allerdings: Gemäß dem Königsspiegel gehörten Arithmetik und Geometrie und das Studium des Laufs der Gestirne zum notwendigen Wissen eines Seefahrers.
Tabellen hatten die nordländischen Seefahrer wohl nicht. Sie benutzten ein einfaches graphisch-geometrisches Navigationsverfahren mit verschiedenen Skalen.
Das ist keine Spekulation: In einen dreieckig bearbeiteten Seifenstein (Steatit) aus der Wikingerzeit, gefunden 1949 in Vatnahverfi/Grönland, ist eine exakte Kurve eingeritzt. Die Kurve, eine Hyperbel, entspricht der Gonomonkurve für 61° nördl. Breite zur Zeit der Sommersonnenwende. Außerdem weißt dieser Stein eine Halterung für einen Schattenwerfer auf.
Selbst bei bedecktem Himmel brauchten die normannischen Navigatoren möglicherweise nicht auf ihren Sonnenkompass zu verzichten. Der geheimnisvolle Sonnenstein könnte ihnen geholfen haben, ein auf Island vorkommender Kristall, ein „Doppelspat“ mit polarisierenden Eigenschaften. Er verfärbt sich bläulich, wenn er in einer Achse mit der hinter der Wolkendecke stehenden Sonne steht.

Naturbeobachtungen waren wichtige Navigationshilfen: Frühe norwegische Segelhandbücher verzeichneten unter anderem die Flugrouten der Zugvögel. So gelangte man am sichersten und schnellsten von den britischen Inseln nach Island, indem man dem Zug der Wildgänse im Frühjahr folgte. Die Gänse gaben nicht nur den Kurs vor, sie nutzten bei ihren Flügen die Südwestwinde des Atlantiktiefs – die selben günstigen Winde konnte auch ein Segelschiff nutzen. Für die Rückkehr im Herbst konnte man ebenfalls den Gänsen folgen, die mit nordwestlichen Wind gen Süden flogen. Die alten Segelanweisungen enthielten zudem Hinweise auf die unter bestimmten Bedingungen zahlreich auftretenden Meerestiere, die zahlreiche Seevögel anlockten und so dem Seefahrer einen Anhaltspunkt für seine Position und der Verlauf der Meeressströmungen gaben.

Gemäß einer alten Segelanweisung begann die Reise von Norwegen nach Grönland bei Hernø, in der Nähe von Bergen. Von dort sollte der Seefahrer auf Westkurs so weit nördlich steuern, dass die Shetland-Inseln gerade in Sicht blieben. Weiter führte der Kurs so weit südlich von den Färöern, dass die hohen Felsen der südlichsten Insel Siderø gerade in Sicht blieben. Der Kurs folgte etwa dem 61. Breitengrad. Die nächste Anweisung lautete, den Kurs südlich Islands abzusetzen, bis dass viele Möwen und Wale gesehen werden können. Eine überraschend zuverlässige Anweisung, denn in 50 bis 60 Seemeilen Entfernung von Island fällt der Kontinentalschelf steil ab und bieten den Meerestieren die besten Lebensbedingungen, die dortigen Fischgründe gehören zu den ergiebigsten der Welt. Dieses belebte Seegebiet gab auf 62 ° nördlicher Breite gab den Wikingerkapitänen den notwendigen sicheren Abfahrtsort für den letzten Reiseabschnitt über die Dänemarkstraße, bis der Grönlandansteuerungspunkt Hvitserk, ein markanter, über 3000 m hoher Berg, in Sicht kam. Nach der Segelanweisung sollte jetzt so lange nach Südwest gefahren werden, bis der Hvitserk im Norden lag. Erst dann konnte gefahrlos bei Hvart, dem heutigen Kap Farewell, auf die Küste Grönlands zugehalten werden, denn die Südostküste Grönlands wird auch in warmen Sommern von dichtem Treibeis blockiert.
Die meteorologische Kenntnisse der nordgermanischen Seeleute waren gut entwickelt. Sie kannten eine Unzahl manchmal überraschend zuverlässiger Erfahrungsregeln, die über die heute noch bekannten „Bauernregeln“ weit hinaus gingen. Auch dieses über Generationen gesammelte Wetterwissen ging in die Segelanweisungen ein. Aufgrund ihrer Erfahrungen wählten die Wikinger zum Beispiel von Island nach Grönland einen sehr weit nördlichen Kurs, nachdem sie festgestellt hatten, dass die Tiefdruckgebiete dann südlich vom Schiff entlang zogen und mit östlichen, über Nord rückdrehenden Winden die Ausreise förderten. (Natürlich nannten die alten Normannen es noch nicht „Tiefdruckgebiet“, aber die Gesetzmäßigkeiten der stets entgegen dem Urzeigersinn sich drehenden Zyklone kannten sie sehr wohl.) Die günstigste Route von Grönland nach Island verlief auf direkten Kurs zwischen Kap Farewell und den isländischen Südküste. Die Tiefdruckgebiete ziehen dann mit südwestlichen und westlichen Winden nördlich von Schiff entlang.

Die Zusammenhänge zwischen Ebbe und Flut gaben den alten Normannen längst keine Rätsel mehr auf. Durch Erfahrungen kannten die Seeleute die Zusammenhänge zwischen dem Zyklus des Mondes und der Tide. Im bereits erwähnten Königsspiegel gibt es sogar brauchbare Ansätze, Ebbe und Flut zu berechnen.

Überraschend wichtig für die nordländische Navigation war das Lot. Mit Lotgewicht und Messschnur maß man nicht nur die Wassertiefen, mit der „Lotspeise“, etwas Wachs, das am Lotgewicht klebte, entnahm man auch Bodenproben. So enthalten die alten Segelbücher auch Anweisungen wie: „Segel so lange nach Norden, bis Du in vier Faden Tiefe sandigen Grund findest.“ Später, zur Hansezeit, war der Grund der Küstengewässer in Nord- und Ostsee schon so gut bekannt, dass die Kapitäne sich mit dem Lot buchstäblich wie Blinde mit dem Stock am Meeresboden „entlang tasten“ konnten.
Alles in allem waren die Ozeanstürmer der Wikingerzeit kaum weniger gut für die Fahrt ins Unbekannte gerüstet, als die berühmten großen Entdecker 500 Jahre nach ihnen.

Martin Marheinecke
Erstveröffendlichung: „Paradise 42“, TCE-Clubmagazin, November 2000
Aktualisierte und überarbeitete Fassung: Oktober 2008

Quellen:
Hans Peter Jürgens: Alle Meere haben Ufer , Südwest-Verlag, München. 1974
Heinz Barüske: Grönland , Safari-Verlag, Berlin, 1977
Jürgen von Fricks: Wikingerschiffe , Hinstorff Verlag, Rostock, 1979
Wolfram zu Mondfeld: Wikingfahrt , Koehlers Verlagsgesellschaft mbH, Herford, 1986
Alfred Dudszus / Alfred Köpke: Das große Buch der Schiffstypen , Transpress, Berlin, 1986
Eugen Diederichs (Hrsg.): Die Helden von Thule , Isländische Sagas, Diederichs, Köln, 1987
Regis Boyer: Die Piraten des Nordens , Klett-Cotta, Stuttgart, 1997
„Die Wikinger in Massachusetts“, GEO, Heft 1/1994, „Geoskop“, S. 166

Leif Eriksson in Greenland (engl.):
http://www.greenland-guide.gl/leif2000/

Viking navigation hypothesis under foggy and cloudy skies requires more light
http://www.physorg.com/news91798327.html

Navigation Instruments:
http://www.viking.no/e/travels/navigation/e-instru.htm

Sea Stallion from Glendalough 2008:http://www.havhingsten.dk/

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2 Kommentare
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  1. […] Teil 3: Die Navigation Tags: Archäologie, Island, knorr, navigation, Normannen, schiffbau, schiffe, skudelev, Wikinger, Zeit […]

  2. […] wohl nicht ganz das selbe wie ein Sonnenkompass. In meinem nun schon nicht mehr ganz neuen Aufsatz Wogenrösser und Sonnensteine – Teil 3: Die Navigation der Wikinger schrieb ich: m Prinzip ist der Sonnenkompass eine Sonnenuhr. Er besteht aus eine Scheibe, in die […]

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