„Mit Stämmen ist kein Staat zu machen“ – Stammesgesesellschaften und Tribalismus

4. Januar 2018 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt

„Stämme“ genießen unter Heiden einen guten Ruf, was sicher auch daran liegt, dass die oft durch die rosafarbene Verklärungslinsen betrachteten „germanischen“, „keltischen“, „slawischen“ Ahnen aus vorchristlicher Zeit in Stammesgesellschaften lebten. Die allseits beliebten amerikanischen Ureinwohner alias „Indianer“ waren und sind ebenfalls, mit etlichen Ausnahmen (Azteken, Mayas, Tolteken, Inka usw. ) in Stämmen organisiert. „Stamm“ hat einen Klang irgendwo zwischen Naturromantik, „exotischer“ Folklore, konkreter Utopie und esoterischem Geschwurbel. Sogar die Nornirs Ætt ist unter anderem nach Vorbildern aus Stammesgesellschaften aufgebaut – vorwiegend, aber nicht zwingend, „germanischen“.

Im 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurde der „Stamm“ einerseits mit allerlei nationalromantischem Geblubber bis weit jenseits der Kitschgrenze überhöht, soweit es um „deutsche Stämme“ und dergleichen ging. Andererseits waren z. B. die „Stämme Afrikas“, durch die kolonialrassistische Brille gesehen, eben „primitive“, „unzivilisierte“, „vorstaatliche“ Gesellschaften, die man als Weißer auf keinen Fall ernst nehmen durfte, wenn es darum ging, mittels Lineal und Bleistift auf der Landkarte „koloniale Interessensphären“ abzugrenzen.

In den nächsten Monaten werden wir deshalb in loser Folge einige Aufsätze über die Thematik „Stämme“ veröffentlichen. Wobei zunächst einmal zu klären wäre, was „Stammesgesellschaften“ eingentlich sind – und was sich hinter dem Schlagwort „Tribalismus“ verbirgt.

Was ist eigentlich eine „Stammesgesellschaft“?

Der Begriff „Stamm“ ist schillernd, unscharf und zu allem Überfluss auch noch ideologisch belastet.
Wenn von „Sämmen“ die Rede ist, sind sehr unterschiedliche Kollektive gemeint. Die „vier Stämmen Bayerns“ sind beispielsweise Dialekt- und Traditionsgruppen, während z. B. die „12 Stämmen Israels“ eher politische und religiöse Gemeinschaften waren. Im Falle z. B. der „Indianerstämme“ bedeutet „Stamm“ etwa dasselbe wie „Volk“. Ja, und dann wäre da noch der „Stamm“ völkisch-rassistisch gesehen als „Gemeinschaft von Menschen gleichen Blutes“ (als ob das nicht überall rot wäre).
Statt von einem „Stamm“ wird heute lieber von einer „Volksgruppe“ oder, fast euphemistisch und jedenfalls doppelt gemoppelt, einer „ethnischen Gruppe“ geredet. („Ethnos“ bedeutet „Volk“ im Sinne einer kulturell und durch Tradition abgrenzbaren größeren Gruppe von Menschen, sinngemäß eben „Volksgruppe“.)
Immer noch unscharf, aber immerhin nicht wertend, ist der Begriff „Stamm“ in der Ethnologie. Moderne Ethnologen orientieren sich, wenn sie von einem „Stamm“ reden, an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität der jeweiligen Menschengruppe. Nennen sich z. B. die Sioux „Stamm“, dann sind sie auch einer.

Deutlich besser sieht es, auf der ersten Blick paradoxerweise, beim Begriff „Stammesgesellschaft“ aus. Hier ist zumindest ethnologisch und historisch gesehen einigermaßen klar, was gemeint ist.
Eine Stammesgesellschaft ist eine in der Geschichte der Menschheit bereits sehr früh auftretende Sozialstruktur und politische Organisationsform. Zu einer „typischen“ Stammesgesellschaft gehört in aller Regel ein Mythos über den Ursprung des Stammes. Meistens betrachten sich die Stammesangehörigen als Nachkommen eines mythischen Vorfahrens, eines „Stammvater“ bzw. einer „Stammmutter“ und daher als eine einzige große Familie. Die Betonung liegt dabei auf „Mythos“, denn praktisch alle Stammesgesellschaften adoptieren Stammesfremde, nehmen sie in die „Stammesfamilie“ auf, weshalb es z. B. „Schwarze Seminolen“ gibt, Nachkommen der von diesem in Florida lebenden Stamm adoptierten entkommenen Sklaven.
Ein anderes markantes Beispiel ist der „germanische“ Volksstamm der Goten. Hätten sich während der „gotischen Wanderung“ nicht zahlreiche „Stammesfremde“ angeschlossen, hätten selbst bei unplausibel hohen Geburtenzahlen aus dem winzigen Volk an der Weichselmündung nicht innerhalb zweier Jahrhunderte die gewaltigen Volksmassen werden können, die das Römische Reich in den „Gotenstürmen“ ab dem 3. Jahrhundert bedrohten. Dazu hätte es schon Vermehrungsraten wie bei Kaninchen oder Meerschweinchen bedurft. Die West- und Ostgoten der Spätantike waren ebenso wenig alle Nachkommen der einst an der Küste nahe der Weichselmündung gelandeten drei Schiffe des legendären Königs Berings, wie die heutige weißen englischsprachigen protestantischen Bürger der USA allesamt Nachkommen der mit der Mayflower gelandeten Pilgerväter wären. Was einen Stamm – oder auch eine Volksgruppe – zusammenhält, ist in den Köpfen, nicht in den Genen (oder „im Blute“)!

Germanengehöft, nach einer alten Schulwandtafel
Germangehöft(Schulwandtafel um 1900)

Stammesgesellschaften sind Personenverbandsgesellschaften. Ein Stamm kann zwar ein Gebiet als „Stammesland“ beanspruchen, ist aber, anders als ein (National-)Staat, nicht unbedingt an ein bestimmtes Territorium gebunden: Ein Stamm besteht, wie die Goten, fort, auch wenn er die ursprüngliche Heimat verlässt, während Frankreich, Dänemark oder Deutschland nicht ohne weiteres nach Australien oder Sibirien verschoben werden könnten.

Zum einer Stammesgesellschaft gehören meistens eine mündlich tradierte Rechtstradition, das Stammesrecht, und eine politisch unmittelbar entscheidende Versammlung von Stammesgenossen.
Stammesgesellschaften können herrscherlos („akephal“) sein, aber auch von einem oder mehreren Menschen angeführt werden. Zwischen diesen „Chefs“, „Häuptlingen“ oder „Anführern“ von Stämmen und den „Fürsten“, Königen“, „Präsidenten“ einer als Staat organisierten Gesellschaft gibt es deutliche Unterschiede.

Stammeshäuptlinge (männlich / weiblich) müssen sich durch besondere Fähigkeiten auszeichnen. Besonders talentierte Jäger werden „Jagdhäuptling“, begabte Strategen „Kriegshäuptling“ usw. . Diese Häuptlinge üben ihr Amt meistens nur für eine begrenzte Zeit aus. Alle Häuptlinge müssen gute Diplomaten und Organisatoren sein. Es gibt aber auch in echten Stammesgesellschaften zuweilen permanente Häuptlinge – bis zur Abdankung, zur Ablösung oder zum Ableben – die dann aber nur sehr beschränkte Befugnisse haben. Da Stammeshäuptlinge in der einen oder anderen Weise in ihrer Macht sehr beschränkt sind, herrschen sie vor allem durch die „Kraft ihrer Persönlichkeit“.

In Stammesgesellschaften gibt es keine sozialen Klassenunterschiede, die durch den unterschiedlichen Zugang zu Ressourcen gekennzeichnet sind. Folglich gibt es demnach keine regierende Elite, die exklusiv über die Produktionsmittel verfügt und politischen Zwang ausüben kann.
Das klingt äußerst attraktiv, beinahe utopisch.
Allerdings haben Stammesgesellschaften nicht nur angenehme Seiten. Der „Tribalismus“ (siehe weiter unten) ist nicht ohne Grund nach Stämmen benannt, obwohl er keineswegs auf Stammesgesellschaften beschränkt ist. Das Prinzip „große Familie“ funktioniert nur in vergleichsweise kleinen Gemeinschaften. Außerdem sind Stammesgesellschaften, wie die historische und auch die ethnologische Erfahrung zeigt, nur bei wenig entwickelten Produktivkräften möglich, oder, anders gesagt, nur dann, wenn alle „vom Hand in den Mund“ leben und niemand Reichtum anhäufen kann.

Häuptlingstümer

Zwischen der Stammesgesellschaft im eigentlichen Sinne und staatlich verfassten Gesellschaften gibt es eine Übergangsform, das in der Politenthnologie als „Häuptlingstum“ bezeichnet wird. Häuptlingstum gibt es bei sesshaften Ethnien, die permanent herrschende Oberhäupter anerkennen. Solche Häuptlinge werden in der Geschichtsschreibung oft „Stammesfürsten“, manchmal auch „Stammeskönige“ genannt. Unter anderem unterscheiden sie sich von den „Häuptlingen“ in Stammesgesellschaften durch ihre umfassenden Befugnisse: der „Stammesfürst“ / die „Stammesfürstin“ ist in jeder Hinsicht Chef.

Das Häuptlingstum ist Folge einer zunehmenden gesellschaftlichen Ungleichheit, die verstärkt in arbeitsteilige Ackerbaukulturen, aber auch in manchen Hirtenkulturen auftritt. Entscheidend war und ist vor allem die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern: Viele dieser Gesellschaften sind nach ihrer Väterlinie organisiert (also patrilinear) und haben eine männlich Erbfolge. Wenn nach dem Ursprung des viel beklagten „Patriarchats“ gesucht wird, liegt er wahrscheinlich in den „Häuptlingstümern“. Es gibt allerdings auch matrilineare Häuptlingstümer und weibliche Häuptlingsherrschaft, allerdings ist das „Stammesvaterprinzip“ sehr viel verbreiterter.
Wichtig ist auch die Ungleichheit zwischen jüngeren und älteren Menschen. Die „Ältesten“ haben häufig die größte Autorität und entscheiden über die wichtigsten allgemeinen Belange, und zwar, anders als in der Stammesgesellschaft, schon allein aufgrund ihres Alters und nicht ausschließlich wegen ihrer größeren Lebenserfahrung. Entscheidend ist, dass sie die landwirtschaftlichen Vorräte kontrollieren und typischerweise auch die Ehen arrangieren. Um „Chef“ zu werden, ist im Häuptlingstum ein fortgeschrittenes Lebensalter Bedingung. Was u. A. in der Alltagssprache Spuren hinterließ: „Der Alte“ ein gängiges Synonym für „Chef“, auch wenn „der Alte“ real erst ein mittleres Lebensalter erreicht hat und viele Untergebene an Jahren älter sind. (In vor- und frühgeschichtlichen Gesellschaften gehörte man allerdings schon mit Mitte 30 zu den „überdurchschnittlich Alten“ / „Senioren“.)
Eine weitere Ungleichheit in vielen Häuptlingstümern ist der Zugang zu den Göttern und Geistern, der nun nicht mehr allen offen steht. Zeitgleich mit dem Stand der spezialisierten Berufshandwerker bildet sich hier der Priester heraus, wobei die Priester oft zugleich die „weltlichen“ Chefs sind. Zunehmend wichtig in Gesellschaften, in denen nicht mehr jeder jeden kennt, ist das Prestige in einer Form, die sich vom persönlichen Ruf unterscheidet.
Die entscheidende Ungleichheit ist aber die zwischen „arm“ und „reich“!
Bei Sammlern und Jägern und auch bei „primitiven“ Nomaden und Ackerbauern ist dieser Unterschied schon deshalb gering, weil die Produktivität noch so wenig entwickelt ist, dass Überschüsse bestenfalls für Notvorräte ausreichen. Die arbeitsteilige Gesellschaft mit organisiertem Ackerbau und spezialisiertem Handwerk ist aber so produktiv, dass Überschüsse erzielt werden, die gehortet oder getauscht werden können. Die übrigen Ungleichheiten, nebst dem hier nicht extra erwähnten „Recht“ des Stärkeren, führen dazu, dass diese Überschüsse nicht gleichmäßig verteilt werden und auch dazu, dass sie nicht jenen zukommen, die sie durch ihre Arbeit erwirtschaftet haben.
Es gibt eine positive Rückkopplung, mit der die Ungleichheit wächst und die Macht der Häuptlinge immer weiter gestärkt wird, bis sich schließlich ein großer Teil des gesellschaftlichen Arbeitsprodukts in seiner Familie, seinem Clan oder seiner Gefolgschaft konzentriert. Das bewirkt dann eine relativ dauerhafte Institutionalisierung der politischen Macht beim Häuptling und begünstigt die Vererbbarkeit seines Amtes.

Von staatlich organisierten Gesellschaften unterscheiden sich Häuptlingstümer unter anderem dadurch, dass es kein Gewaltmonopol gibt. Zum Gewaltmonopal gehört ein ausreichend großer „Erzwingungsstab“ in Form einer Garde, in moderneren Staaten einer Polizei, aber auch von Steuereintreibern usw., mit dessen Hilfe die Regierung ihre Entscheidungen durchsetzen könnte. Häufig können die Häuptlinge nicht einmal allein entscheiden, sie sind auf die Mitwirkung des Stammes oder der Ältesten angewiesen und müssen ständig mit Intrigen und Revolten rechnen.
Nur wenn die (erweiterte Familie), der Clan oder die Gefolgschaft des Häuptlings über zahlreiche Arbeitskräfte verfügt, kann sie einen Produktionsüberschuss erwirtschaften, der für ihre Verpflichtungen und die für Häuptlingstümer typischen internen Machtkämpfe ausreicht. Nicht zufällig ist Sklavenhaltung in Häuptlingstümern weit verbreitet; in einer egalitären Stammesgesellschaft wäre sie unsinnig. Häuptlingstümer sind häufig expansiv bis eroberungssüchtig, getrieben u. A. vom ständig steigenden Bedarf an Arbeitskräften. Kriegsgefangene werden normalerweise versklavt.

Da der Übergang zwischen „Stammesgesellschaft“ und „Häuptlingstum“ fließend ist, und diese Gesellschaftsformen miteinander mehr gemeinsam haben, als das Häuptlingstum mit dem Staat, prägte der us-amerikanischen Kulturanthropologe Morton Fried in den 1960er Jahren den Begriff „Ranggesellschaft“, der Stammesgesellschaften und Häuptlingstümer vereint. Beiden gemein ist das Muster der Gemeinschaft als „erweiterte Familie“ oder „Familienverband“.

Es lässt sich ohne weiteres sagen, dass die eisenzeitlichen „Germanen“ und auch die frühmittelalterlichen Skandinavier der „Wikingerzeit“ in Ranggesellschaften lebten, und dass ihre „Fürsten“, „Herzöge“, „Jarle“­ und „Könige“ nach heutigen Begriffen Häuptlinge waren.
Für Ranggesellschaften ungemein typisch ist, dass im Krieg die Heere nach Familien- und Clanzugehörigkeit geordnet die Reiterhaufen oder die Fußformationen bilden. Sie sind Krieger – Soldaten, aber auch berufsmäßige Söldner gibt es erst in staatlich organisierten Gesellschaften.
Übrigens lebten auch die bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Griechen in Ranggesellschaften, nicht in Staaten. Homer beschriebt in seinen Epen geradezu idealtypische Häuptlingstümer. Agamennon und Odysseus waren dem Wort nach Könige, im ethnologischen Sinne aber in jeder Beziehung Häuptlinge.­

Stämme und Häuptlingstümer haben eine einheitliche Kultur und Sprache, pflegen den Mythos gemeinsamer Abkunft, bewohnen gemeinsam ein bestimmtes Land – und grenzen sich klar gegen gegenüber Außenstehenden ab. Deshalb sind Stämme und ganz besonders die expansiven Häuptlingstümer bei der Bildung von Staaten vielfach hinderlich. Mit Stämmen und Häuptlingtümern ist buchstäblich kein Staat zu machen: Um einen Staat zu gründen, müssen Stämme und Häuptlinge weitgehend entmachtet und das „Stammesdenken“ überwunden werden.

Was ist Tribalismus?

„Tribalismus“, von „Tribus = Stamm“, wird oft abwertend für kulturell begründeten Separatismus gebraucht, etwa für die Unabhängigkeitsbewegungen der Basken oder der Kurden.

In der Verhaltensforschung bezeichnet „Tribalismus“ etwas Anderes: Es ist die in allen menschlichen Gesellschaften zu findende moralisch-psychologische Anlage fast aller Menschen, ihre Stellung als Individuum immer in Beziehung zu konkreten Bezugsgruppen zu definieren. (Auf bairisch: „Mir san mir!“) Offensichtlich sind die üblichen moralischen Maßstäbe darauf angelegt, innerhalb von definierten Gruppen zu funktionieren. Fühlen wir uns einer Gruppe zugehörig, zeigen wir intuitiv – manche Verhaltensbiologen würden sagen: instinktiv – altruistisches und kooperatives Verhalten. Gegenüber Menschen aus Fremdgruppen ist oft das Gegenteil der Fall. Wir sind misstrauisch, weniger empathisch und „Fremden“ gegenüber sogar tendenziell feindlich eingestellt. Manche Verhaltensbiologen halten das für evolutionär bedingt und in unseren Genen festgelegt, was Fremdenfeinde dankbar aufgreifen, um ihre Fremdenfeindlichkeit als naturgegeben und unabänderlich darzustellen.

Trotz dieses lautstarken Missbrauchs und aller begründeten Skepsis gegenüber biologistischen Ansätzen ist die evolutionsbiologische Hypothese, wie der Tribalismus in unser Fühlen und Denken kam, nicht so ohne Weiteres vom Tisch zu wischen. „Vulgärdarwinistisch“, im Sinne des „Überlebens des Stärkeren“, betrachtet, müssten egoistische Individuen den größten Überlebensvorteil haben. Echter Altruismus, also jener, der nicht auf „Geben und Nehmen“ zum beiderseitigen Vorteil hinausläuft, wäre da eher ein Hindernis. Allerdings wissen Verhaltensbiologen seit langem, dass das bei sozial lebenden Tieren – zu denen wir Menschen bekanntermaßen auch gehören – nicht der Fall ist. Evolutionsbiologisch gibt es mehrere Erklärungsmodelle, warum das so ist, vor allem die alte Hypothese der „Gruppenselektion“ oder den neueren Ansatz des „Selfish Gene“ („eigennütziges“ und nicht etwa, wie in der unglücklichen Eindeutschung des von Richard Dawkins geprägten Schlagwortes heißt, „egoistisches“ Gen). Wie auch immer: Seitdem die Menschen bzw. ihre evolutionären Vorfahren den Weg zu intensiver Kooperation eingeschlagen haben, setzte sich nicht mehr das egoistische Individuum durch, sondern das kooperative. Man könnte auch sagen, das „tribalistische“, denn Altruismus und Kooperationsfähigkeit innerhalb einer Gruppe, Horde oder Stammes gehen mit Abgrenzungswillen und Gruppenegoismus einher.

Bonobo (Pan paniscus)

Bonobo (Pan paniscus)


Foto: Pierre Fidenci – CC Attribution ShareAlike 2.5

Das ist auch bei sozial lebenden Menschenaffen beobachtet worden, äußert sich allerdings bei unseren nächsten biologischen Verwandten, den Schimpansen und den Bonobos, unterschiedlich. Bonobos neigen dazu, Konflikte durch Sex zu lösen, und werden von Frauen dominiert. Das schließt sexuelles Dominanzverhalten bis zu etwas, was unter Menschen „Vergewaltigung“ genannt würde, ein. Das entspricht vielleicht nicht so ganz dem Klischee der „friedlichen Hippieaffen“, ist aber immerhin weniger blutig ist als das Territorialverhalten der Schimpansen. Die meistens von einem kräftigen Mann angeführten Schimpanshorden jagen die Artgenossen aus fremden Gruppen, verstümmeln oder töten sie, und wenden sogar kriegsähnliche Taktiken gegen „die Anderen“ an. Da Bonobos genau so intensiv innerhalb ihrer Gruppen kooperieren wie ihre größeren Verwandten, spräche das gegen die Annahme: „Je intensiver die Kooperation nach innen, desto aggressiver die Konkurrenz nach außen.“
Es sieht ganz so aus, als hätte das Sozialverhalten unserer Vorfahren zwischen dem der Schimpansen und der Bonobos gelegen.
Beim Menschen äußert sich der Abgrenzungswille auch als starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Identität. Eigenschaften, die häufig in Verhalten münden, das mit einigem Recht mit Feindschaft und Krieg in Verbindung gebracht werden.

Tribalistisches Denken gibt es, kurz gesagt, überall dort, wo Menschen sich zu Kollektiven zusammenschließen und diese Kollektive in mehr oder weniger starken Konkurrenz miteinander stehen. Das gilt für Sportfans wie für politischen Parteien. Es gilt auch für Kollektive, die mehr oder weniger durch Abgrenzung gegen „die Anderen“ zusammengehalten werden, für Familien wie für regionale Kulturen. Besonders stark ist es dort, wo sich durch Abgrenzung nach außen zusammengehaltene Kollektive in scharfer Konkurrenz stehen, namentlich in Nationalstaaten. Das ist so, obwohl Nationalstaaten und Stämme zwei gegensätzliche Formen der politischen Organisation sind.

Die Reihe „Mit Stämmen ist kein Staat zu machen“ wird fortgesetzt. (Teil 2 ist fertig: Vom Stamm zum Staat

Martin Marheinecke, Januar 2018

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