Schneiden wir uns „ins eigene Fleisch“?
Die Stellungnahme zum „Projekt Swastika“ Heiden-TV-Projekt Swastika: Einladung an Nazis und völkische Verharmloser hat der Nornirs Ætt viel Lob, manche konstruktive Kritik, aber vereinzelt auch heftige bis wutschnaubende Schelte eingebracht.
Soweit diese Schelte von erkennbar völkisch bis faschistisch gesonnenen Zeitgenossen kommt, verbuche ich sie, als Autor besagter Stellungnahme, als Erfolg: Wenn der Beitrag von dieser Seite Lob bekommen hätte, wüsste ich, dass ich etwas falsch gemacht hätte.
Allerdings bekam ich von jemandem, der definitiv nicht extrem rechts steht, zu hören: „Übertreibt es bitte nicht mit der öffentlichen Kritik an anderen Heiden, denn damit schneidet ihr euch nur ins eigene Fleisch.“
Es war nicht das erste Mal, dass uns, der Nornirs Ætt, vorgeworfen wurde, wir würden uns „ins eigene Fleisch schneiden“ oder „Steine im Glashaus werfen“, wenn wir, als bekennende Heiden, andere Heiden scharf angehen. Auch die unsägliche Redensart vom „Nestbeschmutzer“ „durfte“ ich schon hören.
An dieser Stelle könnte ich die Gebetsmühle anwerfen, dass Toleranz für Intolerante eine schlechte Idee ist, bedingungslose Solidarität unter Heiden erst recht usw. . Ich mache etwas anderes: Ist es wirklich „unser eigenes Fleisch“, in das wir schneiden? Sitzen wir wirklich „im Glashaus“, wenn wir z. B. von völkischem Denken deutlich distanzieren?
Dahinter steckt die Annahme, „germanisches Neuheidentum“ sei eben automatisch eine „völkische“ bzw. „ethnische“ Religion, es ginge gar nicht anders. Es sei zwar legitim, Nazis und andere Rassisten zu bekämpfen, aber letzten Endes würde auch die Nornirs Ætt auf die Kultur ganz bestimmter nord- und mitteleuropäischer Völker und derer vorchristlichen Religion bzw. Spiritualität zurückgreifen. Den „alten Germanen“ wäre es nicht im Traum eingefallen, universalistisch zu denken. Wer nicht einer „germanischen Kultur“ angehören würde, könne eben kein Verständnis für „germanische Spiritualität“ entwickeln.
Abgesehen davon, dass „germanische Kultur“ ja nichts ist, was irgendwie über Gene oder, auf „metagenetische Weise“, über die Umwelt vererbt würde, sei dazu angemerkt, dass wir eben keine „alten Germanen“ sind, die in Stammesgesellschaften und Häuptlingstümern lebten, sondern Menschen des frühen 21. Jahrhunderts. Jeder Versuch, „authentisches Heidentum“ so zu leben, wie es, sagen wir mal, in Schwansen und Angeln in der Zeit um 950 u. Z. bestanden hatte, führt geradewegs ins „spirituelle Vollzeit-Reenactment“. (Die enge regionale und zeitliche Begrenzung rührt daher, dass es in der kultischen Praxis wie der spirituellen Kultur, wie auch der Mythologie ganz gewaltige Unterschiede zwischen „den Germanen“ gegeben hatte.)
Da die kulturelle Vielfalt gern ignoriert wird, und im „völkischen Asatru“ die mageren Fakten mit phantasievollen Annahmen und reichlich ideologischem Schutt aufgefüllt werden, liefe der Versuch, „germanisches Heidentum wie in der Eisenzeit“ zu leben, meiner Ansicht nach sogar auf „spirituelles Vollzeit-Fantasy-LARP ohne Offtime“ heraus.
Aber der Vorwurf, Steine im Glashaus zu werfen, gegen die eigenen Interessen zu streiten, begegnet uns auch auf anderen Gebieten. Typischerweise beruht das darauf, dass falsche Gegensätze konstruiert werden. Da es – übrigens „sittenchristlich“ argumentiert – nur eine Wahrheit gäbe, könnten wir zum Beispiel nicht pro-feministisch und anti-sexistisch sein, und dabei die freiwillige Prostitution gutheißen. Auch eine freiwillige Selbsterniedrigung sei eine Selbsterniedrigung und letzten Endes Verrat an der Menschenwürde, sagte mir eine engagierte Feministin als Reaktion auf den Artikel He, uns gibt’s ja gar nicht!.
Was viele Feminist_innen und noch mehr Anti-Feminist_innen gern übersehen: Es gibt auch Sex-positivem Feminismus, wobei sex-positive Feminist_innen oft durch eine sehr kämpferische Haltung gegenüber patriarchale Strukturen und die daraus resultierenden Privilegien für Männer auffallen. Das ständig wiederholte Hauptargument gegen sex-positiven Feminismus ist, dass bestimmte sexuelle Verhaltensmuster (außer Prostitution z. B. auch BDSM und besonders Pornographie) bisher fast nur Männern nützten, und dass daher die „undifferenzierte Förderung sexueller Verhaltensweisen“ grundlegend zur Unterdrückung der Frau beitrage. Die sex-positive Antwort darauf wäre: „Bisher nützt das fast nur Männern? Das ändern wir!“
(So wie wir in den 1990ern sagten: „Bisher war das Neuheidentum fast ausschließlich völkisch? Das ändern wir!)
Ein damit eng verwandter falscher Gegensatz beruht auf der falschen Annahme, die Darstellung von Sexualität sei notwendigerweise sexistisch. Kommt auch noch die ebenfalls falsche Annahme hinzu, dass Nacktheit immer irgend etwas mit Sex zu tun hätte, dann schlägt „Anti-Sexismus“ regelmäßig in Prüderie um. (Berüchtigtes Beispiel: Facebooks Anti-Nippel-Politik.)
Zur Klarstellung: Sexismus hat nichts mit „Sex“ bzw. „Sexualität“ zu tun, sondern bedeutet „Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“, und zwar ursprünglich des biologischen Geschlechts („sex“). Das englische Wort „sexism“ ist eine Analogiebildung zu „racism“. Inzwischen steht die Benachteiligung (negative Diskriminierung), aber auch Privilegierung (positive Diskriminierung) aufgrund des sozialen Geschlechts („gender“) im Vordergrund, aber der Begriff „Sexismus“ hat sich etabliert, obwohl auch viele englischsprachige Menschen beim Wortbestandteil „sex“ eher an „Sex“ als an „Geschlecht“ denken. Im Deutschen ist diese Denkfalle noch ausgeprägter.
Antifeminist_innen behaupten, als Reaktion auf die als „Anti-Sexismus“ ausgegebene Prüderie z. B. bei facebook, dass jede_r, der gegen Sexismus sei, eben prüde sei. Man dürfe ja gar nicht mehr mit „sexy Motiven“ werben, und wenn es nach dieser „feministischen Moralpolizei“ ginge, wären Aktbilder und dergleichen längst verboten. Auch die vielfach beklagte „neue Prüderie“ wird von diesen Kreisen gern Feminist_innen angelastet.
Das ist, wenn ich guten Willen und guten Glauben unterstelle, ein Missverständnis. In den meisten Fällen dürfte es ein Strohmannargument gegen den Feminismus sein.
Auf uns gemünzt: „Warum setzen sich Heiden (verdammt nochmal) gegen Sexismus ein, wo doch sinnenfrohe ausgelebten Sexualität ein Kerninhalt des Heidentums ist?“
Oft wird das „unverklemmte Heidentum“ als Gegensatz zum „prüden und lustfeindlichen“ Christentum und dem „frauenverachtenden und leibfeindlichen“ Islam gesehen. Das setzt aber voraus, dass „unverklemmt sein“ kein Euphemismus für „ungehemmte sexuelle Belästigung“ ist, und dass „unverklemmt“ auch Respekt und Akzeptanz gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transsexuellen, Intersexuellen, Asexuellen und vielem mehr einschließt. Und nebenbei: Ein demonstrativ nach außen getragenes Sexleben zeugt nicht immer von „Unverklemmtheit“.
Ein kleiner Exkurs zwecks Verdeutlichung: Besonders heiß diskutiert wird über das Dauerthema „sexistische Werbung“, wobei „Sex“ und „sex“ im Sinne von „Geschlecht“ besonders oft gleichgesetzt werden.
Nun kann Werbung durchaus sexuell provokativ sein, ohne damit notwendigerweise auch sexistisch zu sein. „Sex sells“ bedeutet eben nicht ausschließlich: „Lasst uns den Sportwagen mit einer leicht bekleideten sexy Frau dekorieren!“ (Wobei diese Art der Werbung auch noch außer acht läßt, dass sich nicht nur heterosexuelle Männer für schnelle Autos interessieren. Ganz abgesehen davon, dass selbst der frauenfeindlichste Macho niemals auch nur eine Sekunde annehmen wird, dass die „Bikinischönheit“ beim Kauf mitgeliefert würde. Der Frauenkörper ist lediglich Blickfang, die dargestellte Frau ist darüber hinaus unwichtig. Wenn Werbegestaltern kein besserer Blickfang einfällt, dann entlarvt das die „kreativen Werber“ als verdammt unkreativ.)
Ein Beispiel für den Unterschied zwischen „sexy“ und „sexistisch“ zeigt eine vom FC St. Pauli und Pinkstinks herausgegebenen sehr empfehlenswerten Broschüre (Sexismus hat auch im Stadion nichts zu suchen):
Zwei Werbeanzeigen mit dem selben Bild: Eine junge, nur mit Dessous bekleidete Frau räkelt sich in einem Sessel. Wird mit diesem Bild für BHs geworben, ist diese Werbung sexy, denn manche Frauen lieben es, Dessous zu tragen. Wird dagegen mit dem selben Bild für Sessel geworben, ist diese Werbung sexistisch, denn keine Frau liebt es, nur die Deko zu sein.
Die Broschüre enthält auch reale Beispiele sexistischer und nicht-sexistischer Werbung. Eine Werbung kann übel sexistisch sein ohne auch nur im entferntesten mit „Sex“ zu werben, und Werbung mit viel nackter (auch weiblicher) Haut kann aus feministischer Sicht völlig okay sein.
Ein klassisches Bespiel für Sexismus in der Werbung ist die Putzmittelwerbung mit einer putzenden Hausfrau. Wenn nur eine Frau beim Putzen gezeigt wird, ist das für sich genommen erst einmal unproblematisch, denn irgendjemand muss schließlich sauber machen.
Wenn aber in einer Werbekampagne fast nur „Hausfrauen“ und fast nie „Hausmänner“ mit dem beworbenen Putzmittel sauber machen, verfestigt das ein sexistisches Rollenklischee. Wird nun noch durch den Text vermittelt, dass sauber machen „Frauensache“ sei, etwa durch Aussagen wie „Ich als Frau weiß, wie wichtig das richtige Putzmittel ist“, dann ist die Werbung eindeutig sexistisch. (Und das, obwohl die Frauen in Anzeigen dieses Typs immer voll bekleidet sind und keine „aufreizenden Posen“ einnehmen.)
Exkurs Ende.
Wir denken nicht völkisch. Wir sind für sexuelle Selbstbestimmung. Dafür, dass es Leute gibt, die meinen, „germanische Heiden“ seien grundsätzlich „völkisch“ und ebenso grundsätzlich „Machos“, können wir nichts.
Es ist gar nicht unser Fleisch, in das wir schneiden, wenn wir uns zum Beispiel gegen völkisches Gedankengut oder für Feminismus einsetzen!
Martin Marheinecke, März 2018