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Als die Sau noch Göttin war: Mythos Religion

Mythos Religion

Noch in den späten (erst in längst christlicher Zeit niedergeschriebenen – und uns allein daher überlieferten) Mythen Islands finden sich die merkwürdigsten Hinweise auf Geschöpfe und Gebräuche, die ebenfalls zu dem, was einst ein Tacitus über „sittsame“ Germaninnen (versus „verderbte“ Römerinnen) zu fabulieren nötig hatte, auffallend wenig passen wollen.
Ich denke an Mythen wie die der Rabengeist-Dämoninnen, der leichenfressenden Valkyries … Auch wenn sich allein daraus kaum erwägen lässt, inwiefern „weibliche Tugenden“ damals auch und gerade auf Erden anders beinhaltet gewesen sein könnten als tausend Jahre später: Im Filter heutiger Moral werden nicht mal die postpagan überlieferten Edda-Mythen scharf. Die wir im Folgenden ein wenig beschnuppern wollen.

Selbst hinter Vielzitiertem verbergen sich oft die interessantesten Details – und stellen bei näherer Betrachtung scheinbar Altvertrautes in unerwartet neues Licht. Ein Beispiel: Von dem (in der späten Völkerwanderungszeit aufgekommenen) Mythos, dass in der Schlacht gefallene Krieger „zu Odin nach Walhall kommen“, hat so ziemlich jeder Depp schonmal was gehört. Und so mancher germanengläubige Neuheide von heute, der vor lauter Rollenspielbegeisterung sein Schwertgeklirr im Eifer des Freizeitgefechtes mit „Krieg“ verwechselt und solchen „im Namen Odins“ lauthals propagiert (soll alles schon vorgekommen sein. Ich war Zeuge, Anm.d. Verf.), vergisst dabei, dass er selbst als echter Schlagetot im Falle des Falles (seines niedergesäbelten sterblichen Rumpfes) für den großen Speerschüttler Odin nichts weiter gewesen wäre als – zweite Wahl. Die erste hat nämlich immer noch Freyja. Diese als „Liebesgöttin“ nur äußerst unzureichend erahnbare Wildsau (jaja, ich weiß schon: Sie reitet nur auf einer, aber es gibt Situationen, da ähneln sich Ross und Reiter) sammelt auf demselben Schlachtfeld erstmal diejenigen Krieger ein, die ihr am besten gefallen. Ihre Auswahlkriterien sind dabei ebensowenig überliefert wie das, was diese Besten der Besten dann hinterher in Folkvang, wohin sie von Freyja verbracht werden, eigentlich so treiben. Hier schwieg des Christenmenschen Federkiel – der nur das auf Pergament kratzte, was die zweite Wahl der Erschlagenen, die Freyja für den ollen Schlachtenbummler Odin übrig lässt, in Walhall erwartet: Kämpfe, Met und Fressgelage, jeweils ohne Ende.
Unbeantwortet bleibt die Frage, was derweil die Göttin Freyja mit ihren ganzen Erste-Wahl-Kriegern so anstellt. Ob sie ihnen das Stricken beibringt, das Sticken oder das Flicken – so als sittsame Germanin, ich meine ja nur – wir können uns diesen oder jenen Reim drauf machen, aber wir wissen es nicht.

Eindeutiger sind Hinweise darauf, dass der schon erwähnte Odin all seine schamanischen Künste und Überlebenstricks von keiner Geringeren als ebenjener Freyja erlernte. Auch ist der Mann Odin ein Wissenssucher, während sein weibliches Pendant, die Obergöttin Frigg, ebendieses Wissen in persona bereits verkörpert. Um hinter die Dinge schauen zu können, opfert Odin ein Auge – von Frigg selbst erfährt er nichts: Da ist er schon auf deren Zofe Saga angewiesen, die ihm ab und zu eine Info der Herrin steckt.

Die Quellen dieser Mythenbilder sind literarisch, womit sie als Echtheitsbeleg für tatsächliche altgermanische Glaubensvorstellungen ausscheiden. Klaubt man die Bruchstücke aus den Hinterlassenschaften der Völkerwanderungszeit zusammen, bleibt von „altgermanischer Religion“ durchaus weniger übrig als die Edda suggeriert – die ja schließlich nur ein Lehrbuch für hochmittelalterliche Skaldendichtung war. Die damals schon „ollen heidnischen Mythen“ waren für den Verfasser lediglich „Stoff“ im Sinne von Übungs- und Anschauungsmaterial für eine hochartifizielle Methode des Verseschmiedens.
Das diskreditiert die nordischen Schriftquellen zwar keineswegs: Ohne sie wüssten wir noch viel weniger über mögliche mythologische Vorstellungen vorchristlicher Zeit. Nur darf man die überlieferten Legenden und Dichtungen halt nicht für original „altgermanische Religion“ halten.
Es ist ohnedies die Frage, ob die altgermanische „Siðr“, die moralisches Wertesystem, Riten und Brauchtum, spirituelle Vorstellungen, empirische Weisheiten und alltägliche Gesellschaftsregeln gleichermaßen enthalten haben dürfte (und selbstverständlich ausschließlich mündlich überliefert wurde), nach heutigem Verständnis überhaupt als „Religion“ auffassbar wäre.

Mit großer Wahrscheinlichkeit gab es bei den heidnischen Germanen keinerlei allgemeinverpflichtenden Glaubensinhalte, stammesübergreifend schon gar nicht. Ansätze irgendeiner Indoktrination oder auch nur Organsation des Sakralen sind nirgends erkennbar. Stattdessen bekommt man – beim Betrachten des Neben-, Mit- und Durcheinanders sich dynamisch verändernder Entwicklungsstränge – den Eindruck eines insgesamten (aus sittenchristlicher Sicht eher gemütlich anmutenden) individuellen, vielleicht gerade noch sippenverbindlichen (?) Gustos. Einflüsse anderer Kulturen (Römer, Kelten usw.) wurden, wo und wann immer sie stattfanden, auffällig bereitwillig aufgenommen, umgewandelt, integriert – Mischmasch allenthalben. Zudem war die uns Heutigen so selbstverständlich dünkende Trennung von Spirituellem und Profanem mit einiger Sicherheit unbekannt: Brauchtum, Glaubenswelt und Verhaltensregeln waren ineinanderfließend verwoben, ohne deren Trennbarkeit überhaupt nur erwägen zu lassen. Von der Abwesenheit theoretisch definierter Glaubenskonstrukte darf bei all denjenigen Germanenstämmen, die noch nicht (pauschal via Häuptlingstaufe) „christianisiert“ waren, ausgegangen werden.
Als wesentliches Merkmal – und einziger gemeinsamer Nenner – altgermanischer Glaubensvorstellungen ist die Bereitschaft auszumachen, ebendiese Vorstellungen bei nächstbester Gelegenheit zu modifizieren, zu verändern – oder ganz aufzugeben. Auffallend viele germanische Stämme kennen wir überhaupt nur als christlich, und noch die bekanntesten unter ihnen wurden es früh: die Vandalen zum Beispiel, oder die Goten.
Gewaltsame Missionierung? Wie so vieles, mag es auch die gegeben haben: da und dort.
Allein: Es fehlen die Spuren. (Die eine legendäre, das vielzitierte Sachsenköpfen durch Karl den Großen, geschah ein gerüttelt´ Halbjahrtausend später. Da waren die Vandalen – gute arianische Christen übrigens, die ihren sprichwörtlichen Ruf kurioserweise dem Umstand verdanken, dass sie bei der gründlichen Plünderung Roms keine einzige Kirche antasteten! – längst Legende, ihr Reich zerfallen.)

Und was geschah dem berühmten Bonifatius? Der Missionar wurde erschlagen, aber nicht weil er die heilige Donareiche bei Geismar fällte – das nahm heid hin – sondern viele Jahre später in Friesland.

Was beweist das? Nichts. Eben!
Aber kehren wir getrost zurück zu den Mythen der Edda, die wir ja nunmal haben – als das was sie sind (auch wenn sie nicht sein können, was manche katechismus-ersatzwütigen Neuheiden gern hätten).
Da reicht die Bandbreite der Weiblichkeit von der sanft-heilerischen Idun über die katzenartig aufbrausende Freyja bis hin zur Hel, der Herrin des Totenreichs. Ich kenne mehr nordische Göttinnen als Götter, und selbst die allen Gottheiten weit übergeordneten Schicksalsmächte, die drei Nornen, erscheinen personifiziert weiblich.
Hinweisen lässt sich auch, schon realer, auf die (mehrfach von Römern überlieferte) germanische Sitte, dass germanische Frauen ihre Männer vielfach in den Kampf begleiteten und bei wankendem Schlachtglück durchaus selbst mit eingriffen. Vielfach belegt ist auch die Tradition der germanischen Seherinnen, der Völvas. Die bekannteste heißt Walpurga, und eine interessante Nacht ist heute noch nach ihr benannt.
Walpurgizz
Zeichnung: Eibensang

Es ist halt immer die Frage, wer Geschichte schreibt, wofür, und für wen. Tatsache ist, dass die Männer meist lauter schreien: nicht nur im Kampf, sondern per se. Wer auf die Macht der Frauen stoßen will, darf sich nicht vom männlich-angeberischen Lärm davor abschrecken lassen. Das echte Potential liegt in der Tiefe, und dahinter. Geschichts-Schreibung ist nicht die einzige Art, Geschichte zu überliefern.

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