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Odin, Thor und Loki – nicht nur für Einsteiger: Neil Gaiman – Norse Mythology (Nordische Mythen und Sagen)

Titelbild Norse Myths
Originalausgabe: Neil Gaiman: Norse Mythology, Norton & Company, London – New York, 2017

Titelbild Nordische Mythen und Sagen
Deutsche Ausgabe: Neil Gaiman: Nordische Mythen und Sagen, Übersetzt von André Mumot, Eichborn, Köln 2017

An Nacherzählungen der in der „Edda“ Snorri Sturlusons und der „Lieder-Edda“ enthaltenen altisländischen Mythen besteht kein Mangel. Neil Gaiman erhebt daher auch keinen Anspruch darauf, ein besonders originelles Buch verfasst zu haben. Er schrieb mit „Norse Mythology“ eine weitere, allerdings besonders gelungene, Nacherzählung altnordischer Mythen.

Anders als in anderen seiner „mythologischen“ Werke, z. B. „American Gods“ oder in seinem Kinderbuch „Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard“, wo er sich recht frei bei den alten Überlieferungen bedient, hält er sich in „Norse Mythology“ eng an seine Quellen. Das sind, wie er im Vorwort schreibt, diverse Edda-Übersetzungen und Simeks Lexikon der germanischen Mythologie“ in englischer Übersetzung.
Gaiman wählt aus dem Material der eddischen Texte Geschichten mit den „Hauptcharakteren“ Odin, Thor und Loki aus, ergänzt durch Schilderungen der Weltenstehung, des Weltenbaum Ygdrasils und schließlich des Götterschickssals, dem Ragnarök – einer „Endschlacht“ zwischen Chaos und Ordmnung, der ein Neuanfang folgt. Die insgesamt 16 Geschichten decken zusammen nicht einmal ein Viertel des eddischen Materials ab. (Damit ist „Norse Mythology“ streng genommen auch keine „nordische Mythologie“, die würde die Gesamtheit aller bekannten nordischen Mythen systematisch darlegen.) Allerdings erzählt Gaiman damit jene Mythen nach, die für Fantasy-Fans und -Autoren besonders attraktiv sein dürften: „Odin als besseren Gandalf, Thor als besseren Superman und Loki als bestmögliche Kombination aus Batman und Joker“, wie Wieland Freund in seiner Rezension Thor ohne Steinar in der „Welt“ schreibt.
Ein Glossar am Ende des Buches rundet das nicht allzu umfangreiche Buch (256 Seiten) ab.

Gaiman hält sich wie erwähnt eng an den überlieferten Stoff, würzt ihn allerdings mit viel Witz und Sinn fürs Groteske – insofern ist „Norse Mythology“ ein „typischer Gaiman“. Die Sprache ist bewußt einfach gehalten, in einem Stil, der den ursprünglich mündlich überlieferten Geschichten vielleicht sogar gerechter wird als die hochmittelalterliche Prosa Snorris. Gaiman stellt sich vor, dass die Geschichten am Lagerfeuer erzählt werden – entsprechend schreibt er ziemlich „rotzig“, der Umgangssprache nahe. Seine Sprache ist modern, aber ohne anachronistische „Modernismen“. Die betont respektvolle „Achtung Kulturgut!“-Attitüde anderer Edda-Nacherzählungen liegt Gaiman fern.

Die „Nordischen Mythen und Sagen“ sind sogar für jene, die bisher Yggdrasil für ein exotisches Gewürz hielten, als Einstieg in die nordischen Mythologie geeignet – ohne anderseits „Edda-Kenner“ zu langweilen. Entgegen der Altersempfehlung des Verlags halte ich das Buch auch für Jugendliche unter 16 sehr geeignet; ein „Kinderbuch“ ist es allerdings in keiner Weise.

Gravierende Mängel hat dieses Buch aus meiner Sicht keine. Zwar könnte ich bemäkeln, dass auch Gaiman die Nornen Urd, Verdani und Skuld mit „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ in Verbindung bringt – obwohl das Germanische keine Zukunft hat (buchstäblich!). Wie die übliche Deutung der „Winteresche“ (wahrscheinlich Eibe) Yggdrasil als „Weltenesche“ ist das allerding die – außer in Fachkreisen und unter „fortgeschrittenen Ásatrú-Kundigen“ – gängige (Fehl-)Interpretation.

Anders als z. B. im oben erwähnten Artikel „Thor ohne Steinar – Wie man die germanischen Götter entnazifiziert oder auch in dieser Rezension im Deutschlandfunk Kultur behauptet wird, war die nordische Sagenwelt nach 1945 nicht wirklich tabu. Trotz des Mythen-Missbrauchs selbsternannter „germanischer Herrenmenschen“ waren die eddischen Stoffe glücklicherweise auch hierzulande nicht „nur noch was für Isländer und Skandinavisten mit Elch-Aufklebern auf dem Volvo und einer Expertise in Mückenschutz“. Es gab zum Beispiel eine bunte Fülle an Nacherzählungen der alten nordischen Sagen für Kinder und Jugendliche – übrigens auch in der DDR. Das blieb bis heute so, wie ein Blick in das aktuelle Angebot eines nicht unbedeutenden Online-Buchhändlers zeigt.
Allerdings kann von einem unbefangenen Umgang mit „germanischen“ (einschließlich „altnordischen“) Mythen und Sagen im deutschen Sprachraum dennoch nicht die Rede sein, und von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihnen abseits der akademischen Diskurse auch nicht. Als zusätzliches Ärgernis sind einige der populären Sagen-Nacherzählungen nicht frei von völkischem Gedankenstaub.

Daher stimmt leider, was Freund in der „Welt“ schreibt:

Was die Germanen angeht, haben die Neonazis weitermachen können, wo die Nationalsozialisten aufgehört haben: Es hat sich in Deutschland außer Professoren ja sonst kaum einer für die nordischen Mythen interessiert.

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Auch deshalb ist Gaimans Buch eine große Leserschaft zu wünschen.

Martin Marheinecke

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