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„Die Erschaffung der Götter: das Opfer als Ursprung der Religion“

Zwölf Jahre nach „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ griff Heinsohn mit „Die Erschaffung der Götter. Das Opfer als Ursprung der Religion“ wieder ein „heidenrelevantes“ Thema auf. Da es unter modernen Hexen und Heiden weniger bekannt ist als die „Weisen Frauen“, hole ich etwas aus.

Ein altes Rätsel der Frühgeschichtsforschung

Warum fingen die Hochkulturen zu Beginn der Bronzezeit auf einmal an, Menschenopfer darzubringen, und wieso hörten sie nach dem Ende der Bronzezeit wieder damit auf?

Eine mögliche Antwort gab der französische Kulturanthropologe René Girard in seinem Buch: „Das Heilige und die Gewalt“: das mimetische, nachahmende Verhalten des Menschen sei es, das aus jeder individuellen Begierde sogleich Rivalität und Gewalt erwachsen ließe. Da die Rivalität den sozialen Zusammenhalt bedroht, würden alle Gruppen zu stellvertretenden kollektiven Gewaltakten an einzelnen „Sündenböcken“ neigen, deren Opferung zu einem „heiligen“ Akt verklärt wird.
Die Menschenopferkulte der Bronzezeit erklärt Girard aus einem Akt der „kollektiven Gründungsgewalt“: Irgendwann beging eine Gemeinschaft in grauer Vorzeit einen Lynchmord, um ihr blutiges Auseinanderbrechen zu verhindern. Allerdings wurde der ursprüngliche Mord bald vergessen. Später hätten die Menschen ihn immer dann wiederholt, wenn die Götter sie mit politischen oder ökonomische „Opferkrisen“ bestrafen. Die Gemeinschaft bewältigte die psychischen und sozialen Auswirkungen der Krise, indem sie die Sündenböcke rituell abschlachtete.
Ein plausible Hypothese, die vieles erklärt, aber die Eingangsfragen nicht schlüssig beantwortet. Offen bleibt, wieso erst relativ spät in der Kulturgeschichte Massenopfer auftauchen. Schon gar nicht erklärt dieser Ansatz, warum diese blutigen Opfer in der Eisenzeit nach und nach aufgeben wurden.

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Globale Katastrophen als Beginn der organisierten Religion?

Nach Heinsohns These begründeten die Überlebenden globaler Naturkatastophen die Opferkulte.
Heinsohn zufolge prägten Menschenopfer und Tötungsrituale die Hochkulturen der Bronzezeit, genauer gesagt, der Epoche vom Ende des 3. Jahrtausends und dem Beginn des 1. Jahrhunderts v.d.Z.. Das gälte nicht nur in Mesopotamien, Kleinasien, dem Mittelmeerraum, Nordafrika und Europa, sondern auch in Zentralasien, Indien, China, und Indonesien. Sogar die anscheinend besonders blutigen Kulte der mittelamerikanischen Olmeken bezieht Heinsohn mit ein, die zwar zeitlich „passen“ (Blütezeit um 1200 v. u. Z.), aber eben keine Bronze verwendeten.
Heinsohn behauptet, dass noch in der vorausgehenden Kupfersteinzeit (Chalkolithikum) Kulte und Heiligtümer auf den häuslichen Bereich beschränkt gewesen seien, und dass es noch keine öffentlichen Tempel und Berufspriester gegeben hätte.
Heinsohn sieht am Beginn der bronzezeitliche Hochkulturen einen weltweit beobachtbaren Bruch mit einer Zeit, deren Religion sich noch im wesentlichen auf Toten- und Jagdtierversöhnungsrituale beschränkt hätte. Für die Bronzezeitkulturen wären neben den Menschenopferritualen Mythen über Himmelkörper (Astralmythen), Priesterfürsten und oft monumentale Sakralarchitektur (Tempelbezirke) typisch gewesen.

Das Opfer nach dem Prinzip do ut des (Ich gebe, damit du gibst) sei verständlich, ebenso das Blutopfer sekundären Typs, das Gefolgschaftsopfer. Verständlich wäre auch das Vorbeugungs- und Beschwichtigungsopfer, z.B. Verzicht auf Blutverzehr bei Tierschlachtung. Aber unverständlich sei, wieso Göttern zu Ehren Menschen und Tiere geschlachtet und verspeist werden, unverständlich seien auch die Enthauptungs- und Herzentfernungsrituale in Alt-Mexiko.

Nach Heinsohns Ansicht wären Götter in Menschen- oder Tiergestalt erst verehrt worden, nachdem kosmische Verheerungen den Himmel verdunkelt, Berge umgestürzt und ganze Landstriche unter Wasserfluten begraben hätten. Die Überlebenden der Vulkanausbrüche, Überflutungen und Meteoriteneinschläge hätten ihre Panik aber weder durch Flucht noch durch Angriff oder Verhandlung bewältigen können. Sie seien von dem, was da aus heiterem Himmel über sie hineingebrochen wäre, infantilisiert worden. Also verhielten sie sich wie kleine Kinder, die ein Trauma überwinden, indem sie es nachspielen, und dabei spielerisch die Position der Stärkeren einnehmen. Heinsohn behauptet: die Position der unheilvollen Gestirne.
Texte und Bilder aus dem Altertum würden davon zeugen, das im Ritual aufwendig geschmückte und maskierte Spieler Himmelskörper symbolisierend und gegeneinander antraten. Dabei würden die „Darsteller“ – Tiere oder Menschen – enthauptet, zerstückelt, kastriert und verbrannt werden. Alles, was einen überwältigenden Eindruck macht, würde nachgespielt, erklärt Heinsohn, auch das Verbrennen von Haaren, In-die-Hosen-Machen und die Angsterektion. (Was Heinsohn für die „peinlichsten Rätsel der Opferforschung“ hält.)
Den Preis für die heilsame kathartische Abfuhr der gestauten Wut beim rituellen Gemetzel wären Schuldgefühlen gewesen. Die Leichen der Opfer wurden deshalb erhöht, um vor ihnen Versöhnungsgesten vollziehen zu können.
Die Brand- und Blutopfer wären also nicht etwa „den Göttern“ dargebracht worden, sondern es wäre genau anders herum gewesen: Durch den Opferkult wurden die Götter erst konstituiert. Die Himmelskörper erhielten deshalb menschliche Züge, weil sie ja von Menschen gespielt worden wären.
Nach Heinsohn töteten die Priester also real Lebewesen, um Menschen von ihrem Trauma zu heilen. Die Priester hätten dafür die Schuld des Tötens auf sich genommen. Die Gemeinde stünde dafür in der Schuld des Priesters und hegte ihm gegenüber eine heilige Scheu. Die Hochachtung würde durch materielle Gaben abgetragen. So wäre der Priesteradel der frühen Hochkulturen entstanden. Die Opferpriester würden sich ihrerseits durch Selbstverstümmelung, Askese und Zölibat entsühnen.

Damit Heinsohns „spieltherapeutische“ Hypothese funktioniert, muss es während der Bronzezeit eine anhaltende und weltweite Serie verheerender Naturkatastrophe gegeben haben, die nach dem Ende dieser Epoche nachlies.
Um zu begründen, wie es zu dieser (weitgehend hypothetischen) jahrhundertelangen Serie der Meteoriteneinschläge, Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche vor und während der Bronzezeit kam, greift Heinsohn auf eine vom „Mainstream“ der Althistoriker, Archäologen, Geologen und Astronomen übereinstimmend als „pseudowissenschaftlich“ eingeschätzte Hypothese zurück, die Immanuel Velikovsky in seinem Buch „Welten im Zusammenstoß“ aufstellte. Darin stellt Velikovsky eine katastrophistische Sichtweise der Geschichte der letzten 5000 Jahre vor. Kern ist seine Annahme, dass durch eine kosmische Katastrophe Masse vom Jupiter „abgesprengt“ wurde, die sich in einer Proto-Venus sammelte. Die Proto-Venus wäre als „Komet“ auf einer unregelmäßigen Bahn durch das innere Sonnensystem gekreist, wobei sie durch ihre Gravitation und ihre elektromagnetische Wirkung die Erde mehrfach verwüstet habe.

Heinsohn versucht, seine Hypothese anhand vom Aussagen antiker Autoren wie Theophrastus, Platon oder Aristoteles, aber auch z. B. anhand mesopotamischer Texte zu belegen. Daneben zieht er, wie schon Velikovsky, Mythen und Sagen als „Zeugnisse“ der Katastrophenzeit heran.

Erst nach dem Ende der Katastrophenzeit seien die Blutopfer einschränkt worden. Man opferte vor den Götterbildern. Aus der bronzezeitlichen Darstellung der kosmisch-göttlichen Geschehnisse mit ihren Blutopfern wären, als die Erinnerung an die Katastrophenzeit verblasste, Tänze, die Tragödie und Komödie und die bildenden Künste hervorgegangen. Es bliebt nun beim gespielten Töten. Mensch- und Blutopfer überhaupt wurden im Judentum und ebenfalls im Buddhismus verworfen. Auch in Rom wurden im Jahr 97 v.d.Z. Menschenopfer verboten. Dass Paulus ein symbolisches Menschenopfer als Jesusopfer (Brot bzw. trockene Kekse und Wein als Fleisch und Blut Jesu) wieder einführt, führt Heinsohn auf denselben kosmisch-religiösen Impuls wie bei Nero zurück: Paulus sieht Himmelslicht, Nero einen Kometen.

Nach der kosmischen Beruhigung und dem Ende der großen Katastrophen entstand eine neue Auffassung des Himmels, welche die Symmetrie, Regelmäßigkeit und Konstanz der Naturvorgänge betonte. Die Gestirne auf ihren immer gleichen Bahnen waren göttlich, nämlich unveränderlich und ewig. Heinsohn behauptet, indem er Velikovskys „planetares Billardspiel“ aufgreift, dass man sich in den Beobachtungen des Himmels des Endes der Katastrophen versichert hätte, des Endes der Zeit, als Merkur ein Satellit der Venus war. (Im griechischen Mythos gibt es die Jungfrauengeburt des Merkur aus der Venus.) (Ich kann mir diesen Seitenhieb nicht verkneifen: an solchen Stellen erinnert Heinsohn lebhaft an Erich von Däniken.)

Das Christentum mit seiner Rückkehr des Jesus-Menschenopfers hätte auch die im Judentum längst überwundene Apokalypsenangst zurückgebracht. In der Apokalypse des Johannis ginge alles so zu wie in der Bronzezeit, der Katastrophenzeit, als die Blutopferreligionen entstanden.
Heinsohn erklärt den religiösen Judenhass dadurch, dass die Juden das Ritual der Erregungsabfuhr nicht mitmachten. So lassen sie bei den Christen, die so ein Ritual haben, Zweifel an diesem bzw. Vergeltungsangst aufkommen und verderben den psychischen Genuss.

Eine „Patenterklärung“ in Kollision mit den Fakten

Auch mit diesem Buch erwies sich Heinsohn als Meister der „Patenterklärung“ für ein komplexes Problem, wobei er neben seinen Lieblingsthemen „Demographie“ und „Eigentumsökonomik“ vor allem seine Vorliebe für unorthodoxe Geschichtsmodelle und für „Chronologiekritik“ einbringt.

Die größte Schwäche in Heinsohn Gedankengebäude ist unübersehbar die Physik: Eine planetare Katastrophenzeit im Sinne Velikovskys kann es innerhalb der überlieferten Menschheitsgeschichte nicht gegeben haben, denn es ist unmöglich, dass sich ein hochkomplexes und dynamisches System wie das Sonnensystem nach einer massiven Störung derart schnell in einen stabilen Zustand einpendelt. Im klassischen Altertum, nur wenige Jahrhunderte nach den behaupteten kosmischen Katastrophen, waren die Planetenbahnen auch für Heinsohn stabil. Es ist auch kein Mechanismus bekannt, wie die Venus von einer exzentrischen „Kometenbahn“ die heutige fast perfekte Kreisbahn hätte einschwenken können. Das Hauptproblem beim „Planetenbillard“ ist allerdings, dass solche Abläufe die Erde völlig zerstört hätten.

Nun ist Heinsohn kein Naturwissenschaftler, und für eine jahrhundertelange Katastrophenzeit ist sicherlich auch eine etwas kleinere Ursache als der Komplettumbau des Sonnensystems denkbar.
Es gab in der Tat große, global wirksame Katastrophen in der Bronzezeit. Das Ende der Bronzezeit im Mittelmeerraum fällt mit einem Erdbebensturm zusammen. Zwischen 1225 und 1175 v. u. Z. wurden 47 bronzezeitliche Städte im Nahen Osten und am östlichen Mittelmeer durch Erdbeben zerstört. Das war wahrscheinlich der entscheidende Faktor für den Untergang der bronzezeitlichen Hochkulturen in diesem Raum. „Seevölkersturm“, spätbronzezeitliche Völkerwanderung und wohl auch der Trojanische Krieg und der Kollaps des Hethiterreiches wären demnach Folgen von Naturkatastrophen gewesen. Allerdings liegen diese Ereignisse gegen Ende der in Rede stehenden Epoche, blutige Opferkulte, Priesteradel und monumentale Tempel gab es schon lange vorher. Auch für die vom irischen Dendrochronologen Mike Bailie festgestellte abrupte kurzfristige Klimaverschlechterung, auf die sich Heinsohn beruft, fand „erst“ um 1200 v. u. Z. statt und hängt wahrscheinlich mit Vulkantätigkeit zusammen.
Eine schwere vulkanische Katastrophe der Bronzezeit war der Vulkanausbruch von Santorin der mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % zwischen 1627 und 1600 v. u. Z. stattfand. Wahrscheinlich wird sich diese Katastrophe in Mythen niedergeschlagen haben. Aber es fehlen Hinweise darauf, dass die Bronzezeit ganz allgemein eine außergewöhnlich katastrophenträchtige Epoche gewesen wäre. Für Heinsohns Hypothese müssten sich Katastrophen mit weltweiten Auswirkungen in relativ kurzen Zeitabständen wiederholt haben. Dafür gibt es jedoch keine Hinweise.

Es passt auch nicht ins heinsohnsche Bild, dass z. B. die menschenopfernde Kultur der Maya ihre Hochblüte von ca. 250 bis 900 hatte. Die für ihre besonders grausamen Menschenopfer bekannte Kultur der Azteken hatte ihre Blütezeit erst um 1400, also lange nach den globalen Katastrophen der Bronzezeit.

Heinsohns Behauptung, es hätte in noch in der Kupfersteinzeit keine Götterverehrung und keine großen Sakralbauten gegeben, ist offensichtlich falsch. Zwar wusste er 1997 wahrscheinlich vom frühneolitischen Tempel von Göbekli Tepe (in Anatolien) noch nichts, aber die Bauwerke und Steinsetzungen der Megalithkulturen sind buchstäblich nicht zu übersehen – ebenso wenig, wie die astronomische Ausrichtung der jungsteinzeitlichen Steinsetzungen. Henge-Anlagen wie das 7000 Jahre alte Sonnenobservatorium in Goseck (2000 Jahre älter als Stonehenge) zeigen, dass es Astralkulte und wahrscheinlich auch Astralmythen schon lange vor der Bronzezeit gab. Es gab zu dieser Zeit auch schon Menschenopfer. Heinsohn „rettet“ seine Hypothese von der Katastrophenzeit durch Chronologiekritik, also indem er die Datierungen dieser Funde anzweifelt.

Einfachere Erklärungen

Unstrittig ist jedoch, dass Klimaveränderungen die Entwicklung der Kultur beeinflussten. Das Klima der Bronzezeit lässt sich beispielsweise anhand von Baumringuntersuchungen, Bohrkernen aus dem Inlandeis Grönlands und der Antarktis oder Pollenuntersuchungen in Mooren zumindest in groben Zügen rekonstruieren.
Die jüngere Jungsteinzeit fällt danach in die Zeit eines Klimaoptimums mit wesentlich höheren Durchschnittstemperaturen und geringerer Vergletscherung als heute. In dieser Zeit entwickelte sich z. B. die ägyptische Hochkultur. Auch die ersten Anlagen von Stonehenge entstanden zu dieser Zeit. Um 2200 v. u. Z. endet diese milde Epoche ziemlich abrupt. Etwa zur selben Zeit setzte eine Dürreperiode in Nordafrika ein. Dass die verschlechterten Lebensbedigungen die Kultur beeinflusste – im Sinne einer strafferen Organisation, aber auch einer „härteren“ Religiosität – ist plausibel.
Interessanterweise gab es zwischen 1100 v. u. Z. und ca. 950 v. u. Z. ein kurzes Klimaoptimum – in diese Zeit fällt z. B. die Blütezeit der „nordischen Bronzezeit“. Ab 950 v. u. Z. bis zum Beginn der „römerzeitlichen Optimums“ um 350 v. u. Z. herrschte wieder ein kälteres Klima. (Siehe: Kleiner Überblick zur Klimageschichte (TU Berlin) und 20 000 Jahre Klimawandel und Kulturgeschichte (pdf) (Uni Stuttgart).)

Ich halte es für bezeichnend, dass Heinsohn nicht nur „Chronologiekritiker“ ist. Er ist anscheinend auch „Klimaskeptiker“ – zumindest was die Rekonstruktion des bronzezeitlichen Klimas angeht.

Menschenopfer sind gemeinhin Akte der äußersten Verzweiflung. Das ist zum Beispiel Hunger. Moorleichen aus der germanischen Eisenzeit, die wie der berühmte „Tollund-Mann“ offensichtlich geopfert wurden, zeigen deutliche Spuren von Unterernährung.
Außer klimatischen Einflüssen war dafür das enorme Bevölkerungswachstum in den Agrargesellschaften ausschlaggebend. (Heinsohn wäre wahrscheinlich der Letzte, der das bestreiten würde.) Hohe Bevölkerungsdichte führte zu Knappheit an bebaubarem Land, das wiederum führte zu wachsenden Konflikten. Die Konflikte und Krisen wurden durch strenge und verbindlich durchgesetzte Regeln bewältigt. Eroberungskriege nach außen, aber auch Menschenopfer nach innen waren Folgen dieser Entwicklung. Dafür spricht, dass Menschen meist den Kriegs- oder den Regen- und Vegetationsgöttern geopfert wurden. Auch den Erdbeben- und Vulkangöttern wurden in Notzeiten Menschen geopfert. Im Falle des alten Kreta sind Menschenopfer während eines schweren Erdbebens um 1600 v. u. Z. archäologisch fassbar.

Es ist fraglich, ob jemals in jenem gewaltigen Umfang Menschen geopfert wurden, wie es Heinssohn darstellt. Er stützt sich auf schriftliche Quellen, aber gerade die sind unzuverlässig. Massenhafte Menschenopfer der „bösen Feinde“ waren immer schon ein beliebter Topos der Propaganda. (Siehe: In Karthago gab es wohl doch keine Menschenopfer). Es ist unbestritten, dass die Azteken systematisch Menschen opferten, aber die Angaben spanischer Chronisten, dass z. B. im Jahr 1487 bei der Einweihung eines Haupttempels 20000 (nach anderen Quellen: 80000) Blutopfer dargebracht worden sein sollen, können mit einigem Recht als sehr stark übertrieben eingeschätzt werden. Auch die römischen Angaben über das Ausmaß der Menschenopfer bei Kelten und Germanen sind mit Vorsicht zu genießen. Die biblischen Angaben über die grausamen Menschenopfer der heidnischen Nachbarvölker des alten Israels sind hochgradig parteiisch. Und für viele alte Griechen war klar, dass Barbaren grundsätzlich zu blutigen Kulten neigten.

Das Menschenopfer wurde übrigens, zumindest in den Hochkulturen des Mittelmeerraumes und des „nahen Ostens“, nicht abrupt aufgegeben, sondern allmählich durch weniger blutige Riten ersetzt. Es ist ja tatsächlich so, dass etwa der Ursprung der Tragödie (von tragodia – Bocksgesang) in Opferriten zu Ehren Dionysos – eines Gottes der Fruchtbarkeit und der Ekstase – liegt. Diese Riten gingen mit Blutopfern einher, wenngleich in historisch fassbarer Zeit nur Ziegen geopfert wurden. Es blieb in der Tragödie beim gespielten Töten. Nachdem „menschenschonende“ Opfer- und Kampfrituale, zu denen auch der Sport gehört, erst einmal allgemein etabliert waren, gab es auch in Krisenzeiten keinen allgemeinen Rückfall in alte Menschenopferpraktiken mehr.

Girards ursprüngliche Hypothese wird davon übrigens wenig berührt, während Heinsohns Ansatz als teils widerlegt, teils als Erklärungsmodel überflüssig gelten muss.

-> Weiter: Ein subjektives Fazit in drei Teilen.

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