Wer erleuchtet das Meer? (Teil 1)
Gefragt nach meinen Göttern, komme ich ins Schwitzen: je mehr ich von ihnen erzähle, desto weniger erfährt man dabei über Asatrú. Fange ich aber damit an, muss ich soviel erklären, dass ich kaum mehr zum sog. Spirituellen komme. Ist Asatrú überhaupt spirituell?
Diese Frage ist leicht zu beantworten. Aber warum sollte ich das tun? Ich erkläre mich für befangen: da ich selbst Asatrú bin, halte ich unsere Riten natürlich für spirituell. Aber das kann anderen ja anders vorkommen. Macht euch selbst ein Bild.
Auf die Ahnen!
Draußen, nachts, ein Feuer, drumrum Herumlungernde. (Das Szenario ist ebenso in ein beliebiges Wohnzimmer verlegbar, aber draußen finde ich es behaglicher.) Die Luft ist warm, die Atmosphäre gemütlich, man plaudert miteinander, unaufgeregt. Entspannte Runde, vielleicht ein Dutzend Leute, vielleicht ein paar mehr. Plötzlich steht einer auf, hebt sein Horn: „Auf die Ahnen!“ Kurze Verdutzpause, dann stehen weitere auf und tun dasselbe, andere bleiben sitzen oder liegen, aber alle heben Horn, Flasche oder Becher und erwidern den Ruf im Chor: „Auf die Ahnen!“ Und daraufhin trinkt jeder einen tüchtigen Schluck. Aus seinem Horn oder sonstigen Gefäß. Met, Wein, Bier – je nach persönlichem Geschmack, oder was halt grad da ist (alkoholisch sollte es sein: in diesem Ritus).
Und weiter? Nichts weiter. Die Runde dümpelt wieder vor sich hin, als wäre nichts gewesen. Aber bald erhebt sich die Nächste: „Auf die Asen!“ Und alle trinken, teils sich erhebend, auf die Genannten, den Spruch wiederholend. Die nächsten, auf die dieserart getrunken wird, sind dann unweigerlich die Vanen. Ab da wird die Reihenfolge schon beliebig. Auf die Helden! … Auf die Heldinnen!… Auf die Disen, auf die Valkyries, auf die Einherjer… usw. usf. Die germanische Mythologie hat viele Figuren.
Allmählich wird es detaillierter, auf einzelne Gottheiten wird getrunken (was sich hinziehen kann, weil da jeder ein paar Lieblinge hat und anbringt), bald auf die versammelte Gemeinschaft, bald auf abwesende Freunde, oder verstorbene Verwandte (Ahnen). Spürbar steigt allmählich eine gewisse Spannung unter den Beteiligten. Noch ist keiner betrunken. Betrunkene Asatrú habe ich eigentlich kaum je gesehen – nicht in meiner Runde. Oder mir fiel es nicht auf. Wer als besoffen auffällt, ist in der Regel kein Asatrú. Zumindest nicht aus meinem Haufen. Manche Asatrú können ziemlich viel trinken, sie haben Übung. Andere, die weniger vertragen, nehmen halt kleinere Schlucke – darauf kommt es nicht an. Doch die Ruhepausen zwischen den Sprüchen werden kürzer. Es steigert sich.
So in etwa verläuft der zeremonielle erste Teil eines sogenannten „Ahnentrinkens“. Für Asatrú ein echter Gottesdienst. Der zweite Teil wird dann – für die Beteiligten – noch sehr lustig. Ich kann ihn allerdings nicht schildern. Weil: zu intim. Es wird nämlich geschworen. Nachdem die Ahnen, die Götter, die Gemeinschaft und alle, die man hochleben lassen will, durchgefeiert sind, kommt der magische Moment, den alle erwarten, vor dem manche sich fürchten… Wo eine oder einer aufsteht, diesmal aber nicht, um jemanden zu nennen. Der zweite Teil des Ahnentrinkens beginnt in dem Augenblick, wo einer aufsteht und sagt: „Ich schwöre…“
Und spätestens jetzt wird es ziemlich still. Alle wollen den Schwur hören, und der oder die, die jetzt schwört, vergewissert sich, ob alle auch zuhören.
„Gehört und bezeugt“
Wir haben oft Gäste gehabt in solchen Runden, Freunde und Bekannte, die mit uns feierten, ohne selbst Asatrú zu sein. Wenn es ein Ahnentrinken gab, haben die natürlich auch mitgemacht. Allerdings hat es ihnen meist keiner extra erklärt – weil sich Ahnentrinken oft ungeplant ergaben, und eh man sich´s versah, fand schon eins statt.
Es kam vor, dass im ersten Teil ein Gast aufstand und das Glas „auf Shiva“ oder sonst eine Gottheit erhob, mit der sonst keiner der Anwesenden im Bunde war. Asatrú haben nichts gegen andere Götter, feiern aber lieber ausschließlich ihre eigenen, und das wurde dann kurz erklärt, damit es niemandem peinlich sein musste, und ist ja auch leicht zu kapieren. Aber nach dem zweiten, dritten oder vierten Schwur eines Asatrú konnte es schon auch passieren, dass eine mitfeiernde Studentin z. B. aufstand und der wartenden Runde tapfer verkündete: „Ich schöre, dass… ich meine Diplomarbeit, von der für mich viel abhängt, gut hinkriege!“ Naja. Wir haben da schon auch drauf getrunken. Aber solche Schwüre sind keine gern gehörten auf Ahnentrinken. Sie erzeugen u. U. eine leichte Peinlichkeit, vergleichbar mit der, als würde jemand beim christlichen Kirchengottesdienst eifrig bekennen: „Den Jesus, den find ich soo geil, wenn ich den nackt seh, kann ich mich – slurp – gar nimmer halten!“
Schwüre auf Ahnentrinken sollen nämlich keine normalen Vorhaben zum Inhalt haben: nichts, was der/die Schwörende an und pfirsich sowieso erreichen kann. Im Idealfall sind die Inhalte völlig unausführbar. Den Mond herabholen, ihn in zwei Hälften schneiden um ein schmuckes Mieder damit zu schmücken – das wäre so was Unerreichbares. Natürlich schwört das keiner, nicht nur, weil ich noch kein Weib gesehen habe, ob Asatrú oder nicht, deren Brüste so groß gewesen wären, dass sie zwei Mondhälften hätte brauchen können als Push Ups. Aber so was würde vor allem deshalb nicht geschworen, weil es Blödsinn wäre. Der Inhalt des Schwurs, die Erfüllung seines Versprechens, sollte zwar unerreichbar sein – aber auch von etwas handeln, was sich der/die Schwörende wahrhaft wünscht. Und was die andern, im Idealfall, auch nachvollziehen können und gutheißen. Es müssen nicht immer gewaltige Großtaten sein. Es darf bizarr werden. Echt halt, authentisch, aus dem Bauch, tiefstem Herzen und Gemüt. Persönlich oder allgemein. Immer gebunden an den, der schwört, „gehört und bezeugt“ von denen, die mit drauf trinken.
Warum wird Unmögliches geschworen, begossen und gemeinschaftlich bezeugt? Bei einem Ahnentrinken wird davon ausgegangen, dass die Götter die Erfüllung des Schwurs tatsächlich ermöglichen. Irgendwann. Und allen Ernstes. Deswegen auch der Alkohol: Er soll enthemmen, möglichst größenwahnsinnige Schwüre zu wagen. Wir erinnern uns: Bis der erste Teil des Rituals, wo auf diese und jene getrunken wird, vorüber ist, hat man gewöhnlich schon ganz schön was intus. Auch wenn man nur kleine Schlucke nimmt.
Wir hatten Ahnentrinken, da wurde es echt peinlich: keiner wollte mehr was schwören, jeder druckste: mach du doch. Gekicher. Aber wer von den zwei vorigen Ahnentrinken noch Riesenschwüre offen hat, uneingelöste, der bindet sich dann nicht so leichtfertig einen dritten auf. Die Dinger sind ja noch im Gedächtmix, werden auch gern mal (augenzwinkernd) angesprochen. Auch ich habe, auf meinem allerersten Ahnentrinken, gleich einen Schwur getätigt, zu fortgeschrittener Stunde in heiterer Runde, der ebenso unerreichbar ist wie auch gleichzeitig sozusagen mein spirituelles Lebenswerk darstellte, gelänge es mir denn. Kleiner ging´s nich´, verstehste. Fragt mich nicht, wie weit ich damit bin. Ich verzweifle manchmal. Ein paar Jahre nach jenem Schwur machte ich ein Lied darüber, eigentlich nur für Freunde, aber später nahm ich es auf, es machte die Runde (über meine Kreise hinaus), und inzwischen erklingt es an manchem Lagerfeuer, zuweilen gar gesungen von Leuten, die mich gar nicht kennen (und eigentlich auch nicht wissen können, was ich mit dem Text meine). Aber vielleicht gehört das zur Schwurerfüllung…
Ganz nüchtern: ernüchternd?
Gesellschaftlich ist Asatrú ein umkämpftes Konfliktfeld. Rassistische oder sonstwie ideologisch gefärbte Deutungen des Begriffs klammere ich in diesem Artikel von vornherein aus (zumal ich Asatrú derlei nicht als Asatrú anerkennen kann. Das gehört zum Konfliktfeld). Aber auch auf der Seite der menschenrechtlich Orientierten sind, trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten, ab einer bestimmten Tiefe Gemeinsamkeiten nicht wirklich voraussetzbar.
Zur „Kategorie Asatrú“ gehört, dass Götter dort einen grundsätzlich anderen Stellenwert haben (können) als in andern mir bekannten neopaganen Richtungen. Dies meine ich wertfrei.
„Kategorisch anders“ meint hier auch: Um wirklich Wesentliches über Asatrú zu sagen, könnte ich meine (nur subjektiv hochwichtigen) Götter allesamt getrost weglassen, oder lediglich als „bei mir und für mich halt vorhanden“ am Rande miterwähnen. Was Asatrú nämlich ausmacht, ist weniger eine Frage göttlicher Vorstellungen als vielmehr eine irdischen Verhaltens.
Die gesellschaftliche Positionierung, die sozialen Bezüge, persönliche Verbindlichkeiten und aus all dem resultierende Konsequenzen sind für mich als Asatrú wesentlich entscheidender als Fragen von Ausstattung, Kult oder Ritus.
Und ich nehme mir die Freiheit heraus, auch andere eher nach Motivation, Tat und Selbstverantwortungsbereitschaft zu beurteilen (als etwa nach oberflächlichen Habitusmerkmalen).
Nun mache ich mein Verhalten durchaus „an den Göttern fest“, fühle mich ihnen verantwortlich und stehe mit ihnen in einem ständigen Austausch, den ich als ebenso selbstverständlich wie geradezu „familiär“ empfinde. Das ist meine Methode, mein „inneres Geländer“ – ich kenne jedoch einige respektable Asatrú, die ihr „Geländer“ eher umweglos in der Sozialgemeinschaft direkt finden; die Götter haben für jene eine dann andere Bedeutung. Spirituelle Inhalte wie daraus abgeleiteter Kultus als solcher sind sowieso individuell frei: Speziell in meiner Gemeinschaft wird der Umgang mit Göttern als persönliche Angelegenheit gesehen, gehört gewissermaßen zur Intimsphäre, und erfreut sich entsprechend rücksichtsvoller gegenseitiger Achtung (individuelle Unterschiede und Ansichten in spirituellen Fragen eher als normal voraussetzend als denn irgendwelche künstlichen Einigkeiten ersehnend: auf diesem speziellen Gebiet der „Religionsbräuche“ – um deren mögliche Details manch andere heidnische Religionsgemeinschaften unentwegt bis ausschließlich diskutieren. Was ihnen gegönnt sein soll. Wir von der Nornirs Ætt diskutieren eher um die gesellschaftlich-politische Arbeit).
Ich stelle fest, dass ich unmöglich von mir als Asatrú sprechen kann, ohne zehn Jahre Gruppenerfahrung mitzudenken, mitzufühlen. Die Entwicklung der Nornirs Ætt hat die meine seit 1995 entscheidend mitgeprägt; von den Anfängen eines eher losen Haufens verträumter Idealisten und mancher Mach-ich-mal-Mitmacherinnen, Dazustolperer – mit entsprechender Personenfluktuation – über die Jahre zu einer Art „Sozialexperiment“ auf kleiner Flamme hochgewachsen… Auseinandersetzung, Zusammenfindung durch (letztlich anspruchsbedingte) Gesundschrumpfung: bis hin zu jener heutigen kleinen, aber feinen Gruppe, die ihren Mitgliedern, obgleich die z. T. weit voneinander entfernt wohnen, die Nestwärme einer Heilsgemeinschaft bietet.
Der Eingangsfrage gedenkend – hin- und hergerissen zwischen „eher Religiösem“ und „eher Sozialem“, zwischen „auch von Kollegen ähnlich Gehaltenem“ und „eher Selbstgestricktem“ – schildere ich längst alles vermischt: zumal ich´s für meinen Teil auch nicht wirklich trennen mag noch kann. Für mich gehört all das zur „Siðr“ – zur Sitte, zum Brauch. Mag der meine auch besonders nach Promenadenmischung riechen: Generell dürften die allermeisten Bräuche von der Welt, näher betrachtet, sowenig „reinrassig“ ausfallen wie Menschen. Als asatrútypisch (für meinereiner) aber darf gelten, genau diesen Umstand als selbstverständlich zu betrachten.
Wo ich über die Götter selbst spreche, beschreibt mein Umgang mit ihnen ausschließlich Eigenerfahrung. Wie sie mir vorkommen, ich sie sehe, erlebe – wer mir wichtiger ist und wer weniger, samt warum: all das ist auf „meinem Mist gewachsen“ und ebenjenem zugehörig. Inspirationen von außen, diverse Quellen und Einflüsse anderer versuche ich, soweit möglich, kenntlich zu machen.
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