Puritanismus auf islamisch?
Vergleicht man die Motive von Menschen mit „Hexenpanik“ in verschiedenen Kulturen und historischen Zeitabschnitten, dann fällt eine Gemeinsamkeit auf: ein sehr engstirniges und von Ängsten geprägtes religiöses Weltbild. Das gilt für die frühneuzeitliche Hexenverfolgungen genau so, wie für die Verhältnisse in Saudi-Arabien wie die ansonsten völlig verschiedenen Hexenjagden in Teilen Afrikas.
Der Glaube an Schadenzauber ist beinahe weltweit verbreitet, aber nur in wenige Regionen kam und kommt es zu systematischen Hexenverfolgungen. Ohne „Hexenpanik“ keine „Hexenjagd“. „Hexenpanik“ ist nicht ganz das Gleiche wie die „abergläubische“ Angst vor Schadenzauber. Für Hexenpaniker typisch ist die Angst vor einem strafenden Gott, die Angst vor einem allgegenwärtigen und fast allmächtigen Teufel, und die Vorstellung, Menschen seien von Natur aus moralisch schwach und sündig, verbunden mit der unerschütterlichen Überzeugung, recht zu haben und im Recht zu sein.
Vielleicht ist Puritanismus eine gute Bezeichnung für diese Verbindung aus rigidem Moralismus und religiösem Fundamentalismus.
Puritaner und die puritanische Religionsauffassung sind allerdings zutiefst protestantisch. Wahrscheinlich würden es die meisten Katholiken und erst recht die meisten Moslems empört zurückweisen, „puritanistisch“ zu sein, egal, welche Blüten ihre Moralpanik und ihr buchstabengläubiges Religionsverständnis auch treiben mögen.
Die historische Puritaner waren in der Lehre strikte Calvinisten. Sie sahen den Menschen als von Natur aus völlig verworfen an, glaubten, dass nur die von Gott Erwählten gerettet werden (also kommen fast alle Menschen „verdientermaßen“ in die Hölle), und dass die biblische Lehre im Gemeinde- und Privatleben kompromisslos angewendet werden sollte. Sie lehnten alle Formen der Religionsausübung ab, die sie nicht durch Gottes Wort in der Bibel begründet fanden, waren also, nach heutigem Verständnis, Fundamentalisten. Puritaner legten großen Wert auf persönliche Bekehrung und persönliche religiöse Erfahrung und Abkehr von allem, was sie als „weltlich“, sprich „verdorben“ ansahen. Und vor allem sahen die Puritaner den Teufel hinter allen „weltlichen“ Aktivitäten.
Auch wenn streng tradionalistische bzw. antimodernistische Katholiken eine völlig andere Glaubenslehre vertreten als die calvinistischen Puritaner, und auch z. B. moderne „Pfingstkirchen“ fundamentalistischen Zuschnitts schon rein äußerlich nichts mit dem traditionellen Puritanismus, wie es ihn in Teilen der USA bis heute gibt, gemeinsam haben, halte ich den Begriff „puritanistische Grundeinstellung“ für den Komplex aus Angst, Moralismus, Fundamentalismus, Dogmatismus und Selbstgerechtigkeit für angemessen.
Es gibt also durchaus so etwas wie einen nicht-protestantischen Puritanismus. Und so wie sich die Puritaner von der Reformation herleiten, leiten sich die katholischen Puritanisten von der Gegenreformation her.
Auch im Islam gibt es ein Gegenstück zu den Puritanern: die Wahhabiten.
Der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza umreißt in seinem auf Islam.de erschienenen Aufsatz Jenseits von Eden den Wahhibismus wie folgt:
2. Charakteristikum des Wahhabismus
Im Jahre 1740 ließ sich der muslimische Gelehrte Muhammad ibn Abd Al-Wahhab auf der arabischen Halbinsel in Dariya nieder, wo er eine Allianz mit dem Stammesführer Muhammad ibn Saud (gest. 1765) einging. Ihr Ziel war nicht mehr und nicht weniger als eine „Reinigung“ des Islam von allen Neuerungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen hatten, sowie die Errichtung eines islamischen Herrschaftsbereiches. Dieser „gereinigte“ Islam war aber nicht so rein, wie es augenscheinlich aussah, sondern ein Islam neohanbalitischer Prägung mit einer Beimischung kharidschitischen Gedankengutes. Um 1746 wurde die Lehre des Wahhabismus zur vorherrschenden religiösen Richtung auf der arabischen Halbinsel. Die Gewaltexzesse der Wahhabiten richteten sich primär gegen Sufis und Schiiten. So überfielen die Wahhabiten im Jahr 1802 am Aschura-Tag Kerbala und ermordeten 2.000 schiitische Muslime. Im Blut watend, zerstörten sie dann die Gräber Alis, Husains und weiterer Imame, plünderten die Stadt und machten sich davon. Zwar konnte ihnen 1818 durch das Eingreifen ägyptischer Truppen, die vom Osmanischen Kalifen entsendet wurden, Einhalt geboten werden. Doch nach dem 1. Weltkrieg gelang es ihnen schließlich 1932 das heutige Saudi-Arabien zu gründen. Die Anhänger dieser puritanischen Bewegung glauben, dass die Bedeutung des „wahren“ Islam nach dem Ableben der ersten drei Generationen der Muslime nach und nach verwässert und verfälscht wurde. Insbesondere verurteilen sie die philosophischen und theologischen Schulen des Islam, den Sufismus, die historisch gewachsenen Rechtsschulen und den Volksislam. Durch den Rückgriff auf die Altvorderen ignorieren sie die geschichtliche Entwicklung des Islam und der Muslime, um sich somit von einer für sie falschen Geschichtsentwicklung zu distanzieren und sie zu überwinden, indem sie quasi vom Anfang her einen Neubeginn starten.
Dies erklärt, warum für sie nur der Qur’an und die Sunna maßgeblich sind. Die Interpretation erfolgt unmittelbar, also literalistisch, ohne das Hinzuziehen der ihnen zutiefst suspekten Vernunft. Dadurch entsteht aber ein stark schablonenhaftes Denken, da bezüglich aller Handlungen – vom Gottesdienst über die Kleidung bis zur sozialen Interaktion – der Muslim angehalten wird, sich an einen authentischen Text zu halten. Somit werden die gesellschaftlichen Verhältnisse des 7. Jahrhunderts sakralisiert und der Gesellschaft ein starres Korsett übergestreift, das keine weitere Entwicklung erlaubt, ja sogar jeden Versuch, eine gesellschaftliche natürliche Dynamik zu entfachen, als Bedrohung betrachtet und als bid‘a (Neuerung, hier im Sinne von Häresie, also jede von der Tradition nicht sanktionierte Praxis) bezeichnet. Somit befindet sich diese Strömung in einer immerwährenden Dialektik zwischen der eigenen Tradition und der bid‘a. Kaum noch einer erinnert sich daran, dass der muslimischen Gelehrsamkeit diese Radikalität entschieden zu weit ging und der Wahhabismus in der gesamten muslimischen Welt zunächst als eine Sekte eingestuft wurde. Zwei Dinge haben dazu beigetragen, dass sich dies geändert hat. Zum einen der Ölreichtum mittels dessen man dieses imaginäre Islamverständnis durch großzügige Moscheebauten, Geldspenden, einem Bildungsnetzwerk und kostenloser Literatur exportierte. Und zum anderen die Kontrolle über die heiligen Stätten Mekka und Medina, wo Pilger aus der gesamten Welt nun mit dem Wahhabismus in Berührung kamen und von ihm beeinflusst wurden. […]
(Mehr hierzu auf islam.de „Jenseits von Eden“)
Ohne eine puritanistische Religionsauffassung gibt es zwar Verfolgung einzelner vermeintlicher Schadenzauberer, aber keine Hexenpanik. Denn nur in einer Weltsicht, in der der Teufel hinter jedem Busch lauert und das göttliche Strafgericht nah ist, können „Hexen“ als allgemeine Bedrohung wahrgenommen werden.
Die frühneuzeitliche Hexenverfolgung war eine Volksbewegung (wie es die heutigen „Hexenjagden“ in einige afrikanischen Ländern ja auch sind), aber die Theologie lieferte die Rechtfertigung und gab ihr die Form. (Was neben gesagt auch auf die „Hexenjagden“ in Westafrika zutrifft, bei denen christlicher Fundamentalismus eine Schlüsselrolle einnimmt.)
Die systematische, ausgedehnte Verfolgung von Zauberern und Hexen war damals geographisch auf jenes Gebiet beschränkt, das vor der Reformationszeit der Autorität der römisch-katholischen Kirche unterstand, und später durch Reformation und Gegenreformation geprägt war. Die „puritanistische“ Religionsauffassung entstand übrigens schon lange vor der Reformation und war eine ihrer Ursachen (neben dem offenkundigen Machtmissbrauch der katholischen Kirche).
Weder im Gebiet der griechisch-orthodoxe Kirche, noch im koptischen und kleinasiatischen Christentum gab es Hexenjagden.
Ein wichtiger Faktor bei der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen war aber auch das Fehler einer intakten Justiz und einer sich dem rationalen Denken verpflichtet fühlenden „Obrigkeit“. Es war nicht zufällig die als Inbegriff der Intoleranz bekannte spanische Inquisition, die in ihrem Machtbereich systematische Hexenverfolgungen verhinderte, denn eine Hexenjagd hätte die Rechtsordnung unterminiert.
Die Hexenpaniken in Afrika und Teilen Indiens passen in dieses Schema. (Ja, es gibt so etwas wie einen „Hindu-Puritanimus. Der ist aber ein Thema für sich.)
Während die politisch ohnmächtigen Kleinstaaten des heutigen Deutschlands traurige Hochburgen der Jagd auf Unschuldige wurden, gab es in Gebieten mit intakter Verwaltung und Justiz kaum Verfolgung. Mit einigen bezeichnenden Ausnahmen: Religiöse Fanatiker auf Fürstenthronen, wie der Kölner Erzbischof und Herrscher über den größten Teil des heutigen Nordrhein-Westfalens, Ferdinand von Bayern (1577 – 1650), tyrannisierten und disziplinierten mittels Hexenverfolgung ihre Untertanen. Ferdinand gilt als eifrigster regierender Hexenbrenner. Aber auch unter protestantischen Herrschern gab es Hexenjäger aus Kalkül.
Damit wären wir wieder bei den Wahhabiten und Saudi-Arabien: Hexenhinrichtungen mögen religiöser Wahnsinn sein, dieser Wahnsinn hat jedoch (machtpolitische) Methode.
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