No future! Warum das Germanische keine Zukunft hat
Alles im Eimer? Anfall von Resignation zwischen Selbstkritik und Richtungszweifel? Oder einfach nur Weltuntergangsstimmung?
Weder noch – ja nichts von alledem! Eher sogar: ein Gegenteil! Voilá: Vorhang auf für germanische Gegenwart. Oder: für ein uns Heutigen neues, ungewohntes Verständnis von Zeit. Und: vom Sein, vom Werden, und was es soll.
Siehste – so funktionieren die sittenchristlichen Spurrillen. Was “keine Zukunft” hat, kann man abschreiben, aufgeben, lohnt nimmer? Nun – so denken wir, so haben wir es… mehr als gelernt: verinnerlicht sogar. Zutiefst.
(Anm.: Als “sittenchristlich” bezeichne ich bestimmte abendländische Denktraditionen, die wesentlich im Christentum fußen – aber von entsprechenden persönlichen Glaubensbekenntnissen längst völlig unabhängige Wirkkräfte entfalten. Insofern sind wir alle sittenchristlich geprägt: davon müssen wir ausgehen – gerade, wenn wir langfristig und erfolgreich etwas verändern wollen daran.)
Wir werden geboren, wachsen auf, hangeln uns so oder so durchs Leben (dessen allmähliches “Verrinnen” wie einen un-heimlichen Fluch im Hinterkopf: dies zu verdrängen, ist häufige Motivation eines Großteils gesellschaftlichen Lebens und seiner kulturellen Bemühungen bzw. “Zerstreuungen”… zumeist auch: tiefster Motor unserer Hektik) – denn wir empfinden das Ganze als “logische” zeitliche Abfolge: das Menschenleben bzw. seine Zeit als Kerze, die unerbittlich abbrennt. Und sie läßt sich messen.
Das haben wir begriffen. So sehen wir die Zeit als Achse, auf der unsere Gegenwart “verläuft” wie ein Wagen auf einem Eisenbahngleis, das noch dazu in ausschließlich eine einzige Richtung führt: geradewegs zum Ende. Bums, aus.
Das ist “no future” im Sinn des Slogans: denn was “danach” kommt (oder ob überhaupt), ist Ansichtssache beliebiger Glaubensorientierungen. Über das Leben vor dem Tod sind wir uns insofern alle einig: Es läuft ab. Früher oder später, immer aber: ausnahmslos. Die Uhr tickt unerbittlich – unabhängig davon, was wir jeweils draus machen. Aus dem “uns gegebenen Stück Zeit”.
Es gibt Gründe zur Annahme, daß Angehörige altvorderer germanischer Kulturen das ganz anders sahen und empfanden.
Die drei Weberinnen
Man kennt sie – auch, wenn ihre “Vornamen” nicht jedermann geläufig sind, haben die meisten doch schon mal was von den “Nornen” gehört. Sofort kommt einem das Bild der griechischen Parzen in den Sinn: jene drei alten Spinnerinnen, die die “menschlichen Schicksale” als Fäden weben – und die dritte böse Oma schneidet die dann immer ab, und bums, aus. Wenden wir uns auch von diesem Bild bitte wieder ab. Die griechischen und germanischen Kulturen mögen gemeinsame Wurzeln und, oberflächlich betrachtet, zuweilen ähnlich aussehende mythologische Bilder hervorgebracht haben – unabhängig aber davon, wie die alten Hellenen tatsächlich über ihre Parzen gedacht haben mochten, ist ihr Erbe vom späteren christlichen Denken und Empfinden aufgesogen worden und alle übriggebliebenen Bilder sind dessen Wertung unterworfen – niemand kriegt da nachträglich die Milch aus der Melange.
Dementsprechend versucht natürlich auch jeder nächstbeste Eso-Schmöker uns Urda, Verdandi und Skuld – die drei Nornen – als Synonyme für “Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft” zu verkaufen – wem dieser Deal schmeckt, muß sich jedoch die Frage gefallen lassen, wozu er denn überhaupt germanische Namen bemüht für lediglich abermals Wiedergekäutes.
Denn die Nornen sind keineswegs Personifizierungen von “früher / jetzt / und später” auf einer Art “germanischen Zeitachsen-Eisenbahn”. Die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit, die noch dazu mit einem Bums-Aus endet, wäre einem ollen “Germanen” so absurd vorgekommen wie uns die Vorstellung eines Menschen, der von den Knien an abwärts ohne auch nur eine Andeutung vorhandener Waden und Füße in der lauen Luft hängt: bodenloser Blödsinn (im durchschnittlichen Gesundheitsfalle, zumindest – und auch Beinlose hängen gewöhnlich nicht schwerkraftignorierend in der Luft herum). Die Kultur aber, die die Vorstellung von Nornen hervorbrachte, kannte “die Zukunft” nicht einmal in der Sprache. Die germanische Grammatik sah keinen Zukunftsbegriff vor. Vergangenheit und Gegenwart – sonst nix. (Noch in der viel späteren deutschen Sprache läßt sich eine Zukunftsform nur über die kleine Krücke von Hilfsverben herhex-, äh, herbiegen. “Ich fahre – ich fuhr – ich fiehr oder föhr?” Nö: “Ich werde fahren”…)
Vom Wie des Wyrd
Was also stellen die Nornen dar – wie “knüpfen” sie das “Wyrd”, das “Schicksalsgewebe”?
Urda (oder Urd) ist das Gewordene: das, was schon (da) ist. Insofern nicht einfach “Vergangenheit”, sondern vielmehr das “Manifestierte”. Wir dürfen es als Kern betrachten – um den es sich ständig dreht – die “Masse” sozusagen, die von den andern beiden Faktoren “behandelt” wird. Aber so, wie Finger den Ton kneten, bleibt, was immer sie aus dem Lehm formen mögen, der Lehm in Beschaffenheit und Masse gleich – er ist – ganz unabhängig davon, welche “Figur” sich daraus ergibt, oder was für Veränderungen der “Klumpen an sich” erfahren mag – viel mehr als nur “Ausgangsmaterial” (dieser Begriff bezieht sich ja nur auf die Form), denn dieses “Material” selbst ändert sich als solches nicht.
Das ist Urd. Das “feststellbar Vorhandene”. Unpoetisch gesagt: der Faktenkomplex, auch “Realität” genannt. Ja – ganz guter Begriff: denn “Realität” beinhaltet sowohl “Vergangenes” als auch “Gegenwärtiges” – nicht aber irgendwas Spekulatives wie Zukunft – die zu beschwören zumeist Gedankenketten in Konjunktiven hervorbringt (wenn… dann könnte… aber falls nicht, dann wäre… naja! Auch wenn man sie ebenso lust- wie kunstvoll bauen kann – was ich für meinen Teil durchaus gern tue – es bleiben Luftschlösser, bar jeder Anbindung an Tatsächliches).
Urd ist (germanisch-mythologische Personifizierung für) die Wirklichkeit.
Verdandi (auch: Werdandi) ist das Werdende: das, was der Finger im Lehm macht. Jene Aspekte ausdrückend, die die Wirklichkeit verändern. Der Spielraum ist nominell gering – bleiben wir beim Tonknet-Beispiel: physikalisch verändern die formenden Finger der Künstlerin wenig an der Ausgangsmasse. Binsenweisheit – aber wichtig. Worauf sich unsere assoziative Aufmerksamkeit immer so richtet, ist die uns beeindruckende (sic!) Form. Verdandi ist die Personifizierung solcher “Formung”, Formgebung, Veränderungsmöglichkeit – besser noch: Veränderungsbestrebens. Das Gestaltende. Insofern: das, was wird.
Was Verdandi von unserem gängigen Begriff einer “Gegenwart” unterscheidet, ist die Betonung dieses Werdegangs: Sie wird erst – sie ist nicht schon. (Wenn sie es geworden ist, sind wir wieder bei Urd: weil die ja das ist, was schon da ist.)
So wird Verdandi zur einzigen hauchdünnen Luftlinie dessen, was unserer Vorstellung von “Zukunft” am nächsten kommt – und doch etwas kategorisch anderes bedeutet. Denn Verdandi spekuliert nicht Waswärewenns und Waskönnteseins im freien Fall des Konjunktivs, sondern wirkt direkt auf Urd ein: was diese nicht “bietet”, kann jene nicht beeinflussen. (Die Finger träumen nicht von wunderwas, sondern können nur den Lehm kneten, der da ist: den man in Händen hält. Den reellen.)
Und somit wird Skuld, die dritte im Bunde, auch zu etwas anderem als der bösen Fee, die “Fäden kappt” (im Sinne einer Art Halsabschneidung) – ihr eine solche Killerfunktion zuzuweisen, hieße, ein beliebiges Auto mit einem Panzer zu verwechseln. (Auch Autos können töten – aber das ist, im Unterschied zu kanonenbestückten Kettenfahrzeugen, nicht ihr primärer Verwendungszweck.)
In unserem Tonbeispiel können wir Skuld als die Skulptur nehmen, die bei der ganzen Knetaktion (Verdandi wirkt auf Urd ein) herauskommt. Vom herkömmlichen Begriff eines “Ergebnisses” will ich das auch unterschieden wissen: denn ein solches könnte ledigliches (ggf. auch rein spekulatives Wunsch-)Ziel darstellen – jenseits manifester Tatsachen ergo – nicht aber Skuld. Die ist sowas wie “logische Konsequenz” – und wiederum nicht denkbar ohne die diesbezügliche Rück-Bindung an, wiederum, Urd. Man könnte auch sagen, Skuld ist die Personifizierung dessen, was Verdandi an Urd verändern soll.
Diese ständige Bindung an Urd, ans tatsächlich Gewordene, um das sich alles dreht, läßt uns endgültig die Start-go-stop-Zeitachse als ein Bild erkennen (mit dem wir umgehen mögen, wie wir wollen, aber) das nichts mit germanischen Vorstellungen zu tun hat.
Das Germanische hat keine Zukunft, weil es keine braucht. Spekulationen um ihre Möglichkeiten mögen reizvoll sein oder nur Gewohnheit – auf germanisches Weltverständnis haben sie sowenig Einfluß wie auf die Wirklichkeit selbst.
Aus dieser zyklischen Kosmologie von Sein und Werden und Wandel aber ergeben sich einige zusätzlich interessante Aspekte.
Magie jenseits der Zeitachse
Ein (nicht germanisch orientierter, obgleich mit vergleichbarem Pragmatismus vorgehender) Freund beschrieb mir kürzlich Magie als Phänomen, zu dessen Aspekten das “zeitliche Vertauschen” von Ursache und Wirkung zähle, an einem erlebten Beispiel.
Wir hatten gerade ein gemeinsames Ritualprojekt hinter uns, zu dessen Beginn wir vorher eine Tarotkarte gezogen hatten: in dem Fall den “Narren”. In der Tat ging dann (aus allen möglichen Gründen) in der anschließenden Ritualwoche alles dermaßen drunter und drüber, daß akut niemand mehr an jene Karte auch nur dachte. Hinterher fiel sie uns wieder ein.
Des Freundes Deutung dazu: Das Ritual sei nicht etwa deshalb chaotisch verlaufen, weil wir den Narren gezogen hätten (vorher), sondern die Narrenkarte sei lediglich das (kausal: nächträgliche) “Zeichen” für den tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse gewesen – ergo: Wir hätten den Narren gezogen, weil der Verlauf chaotisch “war”. Das temporär anschließend erlebte Chaos sei Ursache, die vorherige Orakelkarte nur dessen Folge gewesen – und dieses Phänomen halt Beispiel für eine solche “zeitliche Umkehrung” von Ursache und Wirkung. Mich beeindruckte an dieser Ansichtssache zumindest ihre Klarheit.
Betrachte ich dasselbe “germanisch”, stellt sich die Frage nach dem “was war zuerst da” gar nicht in der gewöhnlich als relevant gesehenen Alltagslogik. Die “narrt” höchstens insofern, wenn man erst dann auf die Tankanzeige guckt, wenn der Wagen stehenbleibt: oh verdammt, klar – kein Benzin mehr drin…
In germanischer Weltsicht findet der ganze Vorgang jenseits solcher Zeitachsen statt – womit gesagt sein soll: Er läßt sich anders denken und in ganz anderen dynamischen Zusammenhängen begreifen. Obiges Beispiel des “Freundes mit der Tarotkarte” (Wirkung zeigt sich zeitlich vor ihrer Ursache) erscheint nur solange “unlogisch”, wie die alltägliche Erfahrung beliebiger Abfolgen von “früher, jetzt und später” zu einem Welterklärungsmodell erhoben wird (indem wir die Zeitachse wie selbstverständlich als ein solches behandeln: schlicht, weil wir nichts anderes wissen – oder: meinen, verwenden zu können).
Aus dem alternativen Modell jedoch – Verdandi und Skuld wirken auf Urd ein – ergibt sich z.B., daß Vergangenes immer präsent bleibt (Urd ist) in der Vorstellungswelt, demnach auch nicht mit zunehmender zeitlicher Distanz als “schwächer” empfindbar ist im Sinne von: “ach, das war doch ganz früher… das spielt heute keine Rolle mehr”. Ein Aspekt spielt nur dann “keine Rolle mehr”, wenn Skuld entsprechende Veränderungen in Urd bewirkt – und die Kraft, die das einzig ermöglicht, liegt in Verdandi. Im jetzt Möglichen (noch nicht Getanen).
Wyrd-Kräfte im Alltag
Auf die menschliche Ebene übertragen: Etwas, das geschehen ist, hört nicht etwa deshalb auf, ins Heute zu wirken, weil es vielleicht “lange her” ist (Wirkungen von Vergangenem dieserart aus den Augen zu verlieren, klappt – genauer: passiert – nur aus der Zeitachsen-Sicht), sondern seine Wirkung kann sich nur in dem Maße verändern, wie ich heute darauf einzuwirken vermag. Klartext: in germanischer Auffassung vergeht oder verschwindet nichts allein dadurch, daß es lang her ist – also grundsätzlich nicht “von selber”, sondern verändert sich höchstens durch aktuelle Einwirkung. Es ist also nie “die Zeit”, die “Wunden heilt”, sondern nur die tatsächliche und aktuelle Behandlung der Wunde.
Hier liegt auch ein kleiner Hinweis zu möglichem Verständnis des berüchtigten “germanischen Pragmatismus” – diese reflexartige Bereitschaft, sofort zu reagieren auf etwas, ohne langes Gejammer um vergangene Umstände oder ebenso verquirltes Aufstellen irgendwelcher hochspekulativen “Milchmädchenrechnungen”. Die Konsequenz der Tat wird weder in die Vergangenheit noch in eine (de facto komplett irrelevante) Zukunft projiziert, sondern ergibt sich für den so Handelnden direkt aus den Umständen. Böszüngig ließe sich unterstellen, eine solche Reaktionsbereitschaft erspart den Denkvorgang. Von einer bloßen Affekthandlung unterscheidet sie sich jedoch durch den Verantwortungskontext, in dem sie stattfindet: weil sie, im verinnerlichten Wissen der Interaktionsparameter Urd-Verdandi-Skuld, das “Tragen” entsprechender Konsequenz schlicht beinhaltet. Für irgendwelche Gedankenrührereien hinsichtlich irgendwelcher so titulierbaren “Schuldfragen” ist in so einem Vorstellungskosmos wahrlich kein Platz! Weil kein Bedarf:
Das germanische Denken arbeitet nicht problem-, sondern lösungsorientiert.
Und jeder, der sich schonmal damit beschäftigt hat (oder konfrontiert war mit dem), was eine menschliche Seele so alles in sich ablagert, und wie diese Ablagerungen vor sich hingären (um bei entsprechendem Anlaß plötzlich – für den Betreffenden selbst oft überraschend – “angetriggert” zu werden – nur scheinbar zusammenhanglos mit dem möglichen Anlaß, aber umso heftiger emporschießend), wird zustimmen müssen, daß das “Nornenmodell” der praktischen Wirklichkeit eher entspricht als das der billigen Zeitachse: Das Gedächtnis mag – so pragmatisch ist es konstruiert – viel aus dem “Bewußtsein” entlassen (im RAM ist immer nur das Nötigste) – die Seele jedoch speichert alles, sie verliert nichts, und sie reagiert wirksam, auch jenseits unseres Wollens und vorgeblichen Meinens. Das “Zeitachsendenken” reduziert den Menschen auf sein flüchtiges, begrenztes Bewußtsein. Das “Nornenahnen” aber hält diesem die Wirkmächtigkeit und Relevanz des größeren Zusammenhangs präsent.
Die Ahnen sind nah!
Nein, bitte nicht schon wieder sittenchristlich interpretieren: Ich schwenke hier keine Wach´wurm-Postille der “Zeugen des Sofas” mit der Warnung dräuender Apokalypse oder derlei Angstverrenkungsspielchen. Ich schlußfolgere schlicht aus meinem “Nornenmodell”. Und ich schwöre euch: Es macht alles andere als ängstlich. Ganz im Geigentiel. Es schürt Vertrauen. Vertrauen ist heutzutage, will ich meinen, teurer als Euro. Ich kann keine Gelddruckmaschine basteln (so nötig ich – nein: wir! – sie hätten! Scheiße aber auch: Wenigstens in meiner Permanentpleite weiß ich doch eigentlich, daß ich damit, verdammt noch mal, alles andere als allein bin! Es ist vielleicht wirklich “neo-revolutionär”, das mal im Auge zu behalten…! Was uns da alle eint! Schonmal registriert, das? Ist doch so!)
Naja, Hand aufs Herz: ausgehen darf ich davon, daß ich hier vorwiegend für Leuts schreib´, die, wie meinereiner, sich nich´ wirklich aufgeilen können am Geld, das uns fehlt. Laßt uns nit beirren von dessen Rupprechts-Knecht Zeitgeiz, äh, Zeitgeist. Sind wir nicht Heiden? Vulgo “Ungläubige”? 😀 Das allmächtige Geld ist ebenso ein Glaubenssatz wie der “eine Gott”. Wenn wir mal sterben, werden wir nich´ unsere Kröten zählen, sondern ans Leben erinnern. Laßt uns also für dieses – denn wir leben ja noch! – eine Maschine erdenken, die uns mit einer mittel- und langfristig wichtigeren Währung ausstattet. Ohne Vertrauen kann man nichts bewegen. Nichtmal Geld. (Manager wissen das!)
Wenn ich in einer Landschaft stehe, auf irgendeinem Boden unserer Mutter Erde, dann ist binsenklar, daß meine real existierenden Quadratlatschen nur einen bestimmten Teil des Bodens bedecken, der mich trägt. Die jeweils weiter weg liegenden Bodenteile nehme ich als selbstverständlichen Bestandteil dessens wahr, was ich überhaupt “Boden” nennen kann. “Boden” ist also niemals nur der Quadratzentimeteranteil, der sich fühl- oder ggf. meßbar unter meinen Sohlen befindet. Boden ist immer mehr: die ganze Landschaft, im Grunde. Ja: der eine Baum, der andere Strauch, ist weiter weg als dieser oder jener Fels oder was auch immer. Aber sie alle sind. Wir sehen das alles. Wir fühlen die Verbindung von all dem. Ganz selbstverständlich.
Aber von den Ahnen meinen wir, wenig zu ahnen. Bloß weil die Älteren soweit weg scheinen, daß wir sie nimmer kennen – nix von ihnen “wissen”. Und die näheren – naja: Wer kommt schon groß ins Jauchzen ob der “buckligen Verwandtschaft”… mit Leuten, an denen, je näher sie uns stehen zeitlich und verwandtschaftlich, uns doch eher deren Unterschiede zu uns – und daraus auch resultierende Unvereinbarkeiten – unserm Selbstverständnis ins Auge (zuweilen: Herz) stechen, als daß wir da groß “Verbindung” zu fühlen vermöchten…
Was immer wir aber über die Einzelnen denken, und wie immer wir sie uns beurteilen trauen (aus unserer eigenen, anderen persönlichen Erfahrungsperspektive): Im “Nornenmodell” sind sie alle da, ihre Taten wie Unterlassungen, ihre Leben (unabhängig davon, was wir en detail davon zu “wissen” meinen, oder was wir halt bewußt kennen) – wir sind die Skuld – das Soll – ihrer (in der germanischen Auffassung: stets präsenten!) Existenz, und wenn wir daran irgendwas rütteln wollen, dann haben wir dafür Verdandi: unser Jetzt, Hier und Heute. Unsere eigene Möglichkeit, dies zu tun und jenes zu lassen: Das ist unser Leben. Unser eigenes. Unsere Gegenwart.
Spekulationen: Keine einzige der “Zukunftsvisionen” meiner putzigen Jugendbücher fand real statt. Wir haben keine Städte unter Käseglocken auf dem Mond – und der propagandistische Slogan aus meinem alten (60er Jahre) Schul-Physikbuch “Unsere Zukunft heißt Atom!” erwies sich als ähnlich zweifelhaft wie der zeitkritisch motivierte Unkenchor des “Club of Rome” in den frühen 70ern, der das Versiegen von irgendwie allen wesentlichen Ressourcen für die Ära der frühen 90er voraussagte… in der ich bei (weder trotz noch wegen) gefüllter Ölheizung unversehens die merkwürdige persönliche Gelegenheit ergriff, Heide zu werden… (Eine wissenschaftlich seriös ambitionierte Studie früherer Zeiten warnte übrigens vor der Idee der Eisenbahn: ab Tempo 35 km/h würde die Luft aus den Waggons gedrängt, die Reisenden folglich ersticken.)
Zukunft ist also definitiv Tinnef. Wir können unsere Zeit damit verbringen, sie mit Phantasien vollzustellen – ob jenen der Angst oder des Mutes: egal. Es hat keine Auswirkung auf unser wirkliches Leben, außer der, daß wir jenes u.U. wahrzunehmen vergessen (was nichtsdestotrotz unsere sozusagen zwangsläufige, da ja andauernde Gestaltung dieses Lebens beeinflußt!). Da es in der Tat “immer anders kommt, als man denkt”, im Großen wie im Kleinen, weiß ich, daß auch jeder Gedanke an das, was ich meine, in Zukunft kommen zu sehen, eine gewisse Kraftverschwendung darstellt. Die zudem ablenkt von dem, was tatsächlich erfahrbar ist – und worauf es zu reagieren gilt. Herkömmliche Zukunftsvorstellung macht vor allem eines: blind – für das, was ich verändern kann! Fast unweigerlich drohen dann (selbstverständlich gutgetarnte):
Kausale Denkfallen
Meine Hypothese: Das beharrliche gedankliche Bedienen (und Handeln gemäß) der Zeitachsensicht negiert Verdandi. Auf deutsch: Es läßt den Zeitpunkt und die Möglichkeit des Handelns verpassen, weil man ihn nicht als relevant oder wirkmächtig wahrzunehmen vermag. Dadurch ergibt sich die Abwesenheit von Skuld, was wiederum bedeutet: Urd wird zur Last, da sich das Sein, das Dasein, das Gewordene – nicht mehr verändert.
Stattdessen drehen sich, so sehr man sich bemüht, nur noch ewig ähnliche, scheinbar beständig wiederkehrende Situationsvarianten im Kreis. Stoßseufzer-Inhalte nach dem Muster “warum ich schon wieder…” oder “warum passiert mir immer…” – “wieso passiert immer mir…” dürfen getrost als Erkennungsmerkmale solcher “schicksalsimpotenten” Zustände betrachtet werden. Das Zeitachsengefühl – geschützt durch seine verinnerlichte, als “zwingend” eingeübte Kausallogik – läßt hierfür keine wirksame Lösung zu.
Das Nornenmodell hingegen erlaubt Gedanken und Ideen, die, da frei von Zukunftsverkettungen, tatsächliche Änderungen ins Auge fassen können, da sie immer und ausschließlich gegenwartsfixiert bleiben: Nur jetzt kommt man ggf. aus irgendwelchen Wiederholungszentrifugen heraus, ggf. mit Gewohnheitsänderungen, die rational wenig mit dem zu tun haben müssen, wo man die Probleme und Ursachen zeitachsenhalber (aber spekulativer, als man meist meint) vermutet. Der Einwand “ich kann aber doch jetzt nicht…” klebt am kausallogischen Irrtum, Ursachen der Lage einschätzen zu können – auf die man aber bezeichnenderweise nicht genügend Zugriff hat, da irgendein Aspekt immer in der Zukunft (ggf. auch in manifestierter Vergangenheit) zu liegen scheint.
Man kann freilich jetzt nicht die Schlacht von morgen oder gar übermorgen schlagen, aber man kann jetzt etwas ganz Ungewöhnliches dafür tun, daß man in dieselbe Schlacht morgen ganz anders hineingeht. Ursache der mißlichen Lage ist nämlich nicht die – bevorstehende – Schlacht, die man zu verlieren fürchtet, und auf die das Zeitachsendenken einen so fixiert, sondern die beständige Wiederholung der Strategie oder Taktik, mit der man die vorigen führte, welche man verlor oder nur unzureichend gewann. Und schon ist man auf der Zeitachse von einem effizienten Energieräuberpärchen eingezwickt: Hader bewacht die Vergangenheit, Furcht die Zukunft. Beide sind nebenbei, als Wiederholungstäter, wirksame Auswegs-Verhinderer.
Die Ausgangsvoraussetzungen des tatsächlichen Geschicks (!) liegen aber immer im Jetzt-Zustand und haben weder mit gewesenen noch künftigen Schlachten vulgo Aufgaben etwas zu tun – zumindest nicht unbedingt sicht- oder spürbar. Die Aufgabe selbst interessiert – in diesem Erkenntniszusammenhang – frühestens in ihren unmittelbaren Vorbereitungen. Und selbst diese sind, ist man bereits dabei, mit neuen Gewohnheiten unterfütterbar – immer.
Das vertikale Repertoire
Was hat all das mit den Ahnen zu tun? Mehr als man ahnt. Zuerst aber bedeuten sie m.E. weniger die Frage, was sie moralisch getan, gelassen oder ggf. verbrochen haben – als vielmehr den Umstand, daß man sich in einem größeren Zusammenhang befindet, der (Urd!) manifest ist: so wie der Boden direkt unter deinen Füßen mit der ganzen Landschaft zusammenhängt, die diesen Boden erst als solchen ausmacht.
Und so, wie man erst beweglich wird, wenn man mit den Quanten nicht am Boden klebt, in der irrigen Annahme, man verlöre sonst diesen, läßt sich auch das Potential der Ahnen erst ausschöpfen, wenn man sie als präsent wahrnimmt (ungeachtet ihrer zeitlichen Entfernung, ihrer Zeitachsen-”Reihe” – die in dem Zusammenhang, was wir mit ihnen anstellen wollen bzw. aktuell können, komplettino nebensächlich ist. Wer von wem abstammt und wo sich da dann was verliert – ist so uninteressant wie die individuellen Lebensläufe innerhalb eines Kriegerheers vor der Schlacht: an dieser gemessen, natürlich. (Man verzeihe mir bitte den martialischen Vergleich – er geht halt am besten “in den Bauch.”)
Ich wage mal die etwas blumige Behauptung, daß man sich mit den Ahnen eine Art “Geisterheer” aufstellen kann (etwa wie Aragorn im “Herrn der Ringe”) – das logischerweise nur wirksam agieren kann, wenn sie nich´ einer nach´m andern im Gänsemarsch dahertrippeln, sondern alle zusammen, in breiter Front, anrücken.
Dazu muß man natürlich ahnen, was die Ahnen eigentlich ausmacht, was die “so draufhaben” (spätestens hier wird deutlich, daß es nicht um Äußerlichkeiten, “Blutlinien” o.ä. Krempel gehen kann). Die Ahnen sind die Summe ihrer Taten. Ihre Taten sind getan – es wäre also ebenfalls Blödfug, genau die selben Taten wiederholen zu wollen, es “ihnen nachzutun”. Die Energie ihrer “Ergebnisse” aber hat etwas bewirkt, wobei letztlich zum Beispiel ich “herauskam” – und diese Energie, die “mich hervorbrachte”, will ich mir zunutze machen. Neben dem Bewußtsein, daß ich z.B. (mehr oder minder gegenwärtige, sichtbar nahe oder nur “in petto” vorhandene) Freunde, Unterstützer, Verbündete habe – mein “horizontales” Kraftrepertoire – kann das zusätzliche Bewußtsein eines “vertikalen Repertoires”, verkörpert durch die Ahnen, mehr bewirken als man gemeinhin ahnt. Sich selber in einem größeren Zusammenhang erkennen, schützt zum einen vor “kausaler Isolation” (nicht ahnend, warum man so ist, wie man ist, und nicht wissend, was einen wirklich treibt); es schützt dazu vor möglicher Bedeutungsüberschätzung des eigenen Selbst (die ganz normal ist: in der – stressigen oder euphorischen – Kraft-und-Konzentrations-Fixierung auf die jetzige Tat), verleiht also einem gewissen Relativierungs-Kontext erst die handlungs- bzw. entscheidungsrelevante Tiefenschärfe… Und zum andern kann ein solches Ahnenspüren zu einer ungeheuren Kraftquelle werden (deren akute Handlungsrichtung man immer selber bestimmt – und verantwortet!), da sich die Kraft nicht mehr allein aus den individuellen, ggf. rasch erschöpften “eigenen Reserven” speist: Erfahrungshalber darf ich hier vergleichen zwischen “Batterie” und “Stromnetz”.
Woher – wohin – womit
Ahnen – auf die Zeitachse gereiht, haben sie verloren (man könnte auch sagen: dort gehen sie uns verloren): Sie werden abhängig von unseren bewußten Erinnerungen an oder Wissen über Einzelne (samt unsern – im Rahmen dieses Themas: irrelevanten – moralischen Urteilen über sie). Zudem die Zeitachse ja suggeriert, daß, je ferner ein Ahn ist, er umso weniger mit unserm heutigen eigenen Leben zu tun habe. Tatsächlich bedeutet der Nornengedanke aber: Jener ferne Ahn ist Teil der “persönlichen Landschaft”, also wirkungspräsent. In mancher Hinsicht stoßen wir hier an eine Denkart, die unsere tradierte Vorstellung von Individualität überhaupt ins Wanken bringt: wir Bäume, die keinen blassen davon haben, daß wir zusammen einen Wald bilden – daß die Tatsache, “Teile eines Waldes” darzustellen, bedeutsamer sein könnte als das spezifische Selbst-Gefühl, ein bestimmter Baum zu sein. Mehr noch: Ich behaupte, ich bin ein Blatt meines “Ahnenbaums”. (Der wirkkräftig nichts zu tun hat mit irgendeinem “Stammbaum”, siehe oben.)
Wohlgemerkt: Ich parliere hier in der vergleichsweise dünnen Höhenluft eines absichtsvoll intellektuellen, gesellschaftsabstrakten Bildes. Auf deutsch: Komme mir niemand mit irgendeiner Rassenscheiße. Diese völlig andere Thematik geriete, bei solchem Stichwortreiz, auf eine hier irrelevante (geistige) Tiefflieger-Ebene. Ich bin ein Mensch, kein armer Hund (welcher das Ergebnis irgendeiner gezielten Züchtung sein mag) – Blut ist nicht national oder sonstwie gesinnt, sondern rot. Meine wie deine Hauttönung oder Haarwuchs, -farbe o.ä. spielt in meinem Bild (inklusive allen “Germanischens”) eine ähnlich tolle Rolle wie die Frage, welcher Firma Rohling ich in meinen Brenner schiebe, beim Versuch, die Funktionsweise eines Computersystems zu erklären. Bongi? Blut ist rot, und alle Sorten Geschöpfe, mit denen ich ggf. Nachwuchs zeugen könnte, gehören zu meiner Art.
Ein Blatt bezieht Kraft aus seinem Ast, Baum, Kontext (und führt seinem ganzen System Kraft zu durch Aufnahme und Umwandlung von Sonnenlicht). Das Nornenverständnis, auf das ich ziele, ermöglicht uns (auch) eine Verbindung zu allem, was uns jeweils hervorgebracht hat (und das wir, wie das Blatt den Baum, beständig beeinflussen). Noch meine allerfernsten Ahnen sind Bestandteil meiner Persönlichkeit (quantitativ ja eher umgekehrt, aber es kommt aufs gleiche raus – und aus der vernünftigen Egozentrik sinnlicher Gegenwart heraus betrachtet, verhält es sich ja wieder so wie gesagt: denn nicht mein Ahn agiert heute, sondern ich. Ich bestehe nur darauf, daß seine Energie meinen Arm mitbewegt – oder was auch immer, grad).
Besser ausgedrückt: Meine persönliche Existenz überhaupt ist eine Skuld meiner Ahnen (die zu Urd gehören, auf mich bezogen, gar Urd sind) – alles aber, was ich darob anzustellen vermag, ist Verdandi. Mein “Ahnensoll” (geschichtskundige Leser werden mehr als “ahnen”, warum ich hier unmöglich den Begriff “Ahnenerbe” verwenden kann! Als einen derart besudelten… Und auch gar nicht brauche: “Ahnensoll” trifft´s ganz gut, denn es) ändert sich durch mich, durch meine Taten. Ich bin der derzeitige Aktivposten in dieser Gemeinschaft. (Wenig schreckt mich der Umstand, daß ich, da selbst kinderlos, niemandes biologischer Ahn sein werde: Es gibt m.E. noch andere Formen der “Ahnenschaft” als die direkter biologischer Abstammung – was gerade germanische Geschichte wie auch Mythologie übrigens mehr als bestätigt. Für meinen Fall muß hier der laue Hinweis reichen, daß ich ja auch einen tieferen Grund haben mag, mich selber überhaupt z.B. schreibend zu äußern. Will sagen: Der Funke läßt sich so wie so übertragen – die einen Viecher kopulieren direkt miteinander – die andern, viele Pflanzen z.B., benutzen zuweilen kuriose Hilfsmittel, ihre Essenz weiterzureichen. Natur ist verschwenderisch! Aber von pragmatischer Effizienz – nicht zuletzt in ihrem Erfindungsreichtum.)
Nebenbei erspart mir das Erahnen meiner Ahnen (wird schon auch´n Grund ha´m, wieso die überhaupt so heißen) – im Bewußtsein, daß ich, als aktiver Teil von ihnen, Wirklichkeit gestalte, also: im Bewußtsein, der Verdandi-und-Skuld-Aspekt meiner Ahnen zu sein (ich bin ihr Veränderungs-, ihr Jetztpassiertwasneues-Faktor!) – jede Menge europäisch-esoterischen “Karma”-Spekulationsschrotts.
(Zumal es hier niemand beeindrucken wird, also meinen Sozialstatus nicht wirksam unterfüttern hilft, wenn ich euch beteuere, daß ich, ja ich … eigentlich Kleopatra war. In einem meiner früheren Leben… Ja gell! – Bedeutungsschwangeres Pausieren, für einen Jubel, der keinen Anfang nehmen will. Indigniert fortfahrend, diesen Fauxpas des Pöbels in zwangsläufig gönnerhaft schmollende Einlenkung ummünzend, hmpf, räusper, riechfläschchenzerbrech: … Wichtiger erscheint mir also, mein momentanes Leben hier entsprechend einzurichten. Klappklapp! Die Tänzerinnen, bitte! Ich wünsche zu dinieren vor dem Sex! … Damen und Herren: Sie sahen ein Beispiel aus unserer beliebten Serie: Was Sie germanischem Denken alles nicht zugetraut hätten…)
Ich weiß schon, warum ich mich nicht mit Trinkhörnern beschäftige (außer, daß ich gern daraus trinke. Aber das war rasch gelernt und bedurfte keiner weiteren Abhandlungen. Netten Mädels zeig ich natürlich gern, wie´s geht. Anmeldungen unter… 😀 . Will sagen: Mir geht es bei aller Beschäftigung mit Germanischem immer um anwendbare praktische Methoden – nie um Äußerlichkeiten (oder gar ledigliche Extrakte aus dem christlichen Nach- und Aufguß altisländischer Heidengeschichten, soweit aus jener Christenmönchszeit erhalten, heute versammelt in dieser oder jener Übertragung der “Edda”).
Schicksalsgefüge
Angesichts der “Universalität” des Nornenprinzips für die germanische Kosmologie versteht sich fast von selbst, daß auch die Götter den Wirkkräften dieses Gefüges unterworfen sind. Die Nornen sind demnach keine Gottheiten, sondern personifizierter Ausdruck des Wyrd selbst. Man könnte sie als übergeordnete Schicksalsmächte bezeichnen.
Der (typisch sittenchristliche) Eindruck eines “fatalistischen” germanischen “Schicksalsglaubens” entsteht wiederum allein durch die Fehldeutung von Schicksal als fixem Ereignis-Fahrplan auf einer Zeitachse. Das ist allerdings fatal – germanische Schicksalsvorstellung ist es nicht.
Die braucht keine Zukunft in unserm (spekulativen, also theoretischen) Sinne, weil sie – via Verdandi und Skuld – alle Ereignisse wieder in (die ebenso stetige wie wandelfreudige) Präsenz von) Urd hineingebacken bekommt – unabhängig davon, wann welches Ereignis stattfand oder -findet. Insofern kann man z.B. Orakel in germanischer Lesart auch nicht sinnvoll als “Zukunftsdeutung” bezeichnen – auch wenn es so scheinen mag. Erfragt wird da m.E. höchstens die “beste Eingriffsoption” im – insgesamt ja nicht ganz unkomplexen – Wirkungsgefüge der Nornenkräfte – oder der Über- bzw. Einblick in die spezifische eigene Lage (deren Wirkparameter immer als dynamisch anzusehen sind!).
Wenn ich beim Studium einer Landkarte einen See auf meiner Fahrtroute entdecke, werde ich auch nicht in Panik verfallen, ich “müsse” jetzt mit meiner Karre da reindonnern und jämmerlichst ersaufen. Das droht nur, wenn mich die Zwangsvorstellung reitet, ich könne a) nicht anhalten und müsse b) auf der festgelegten Route bleiben (beide Analogien hält die Zeitachse einzig bereit). Auch wird niemand die Haltung des Autofahrers eine fatalistische nennen, wenn der den verorteten See akzeptiert und fest an dessen reales Vorhandensein glaubt, und liegt er auch mitten auf der “geplanten” Route. Das Umfahren des Sees bedeutet auch nicht, dessen Existenz zu bezweifeln – das Gegenteil ist der Fall.
Nur so läßt sich in germanischem Sinne durchaus von einem “manifesten Schicksal” sprechen (so, wie die Landschaft für den Autofahrer manifest ist – der selbstverständlich nicht in einen See hineinkippen oder an irgendein anderes Hindernis donnern muß).
Unser Fahrer greift überhaupt nur zur Landkarte, um sowas wie besagten See nicht erst dadurch zu entdecken, daß er jäh die Vollbremsung einlegt am Kai – dort längst abseits sinnvoller Umgehungsstraßen womöglich. Aus vergleichbarem Grund mag man zu Orakeln greifen. (Ihre Zeichen jedoch als fixe “Zukunftsereignisse” anzunehmen, halte ich für extrem ungesund – schon aus Prinzip, will sagen: aufgrund der seelisch-charakterlichen Konsequenzen möglicher Gewohnheitseinübung. Aberglaube macht unfrei, weckt irreführende Hoffnungen und verstärkt Ängste. Die besten Orakel aber sind nicht mehr als banale “Landkarten”. Sie nehmen auch niemandem irgendeine Entscheidung ab… geschweige denn Verantwortung.)
Was den sittenchristlichen Beobachter an z.B. germanischer Haltungslogik möglicherweise so “fatalistisch” anmutet (in seinem alternativlosen Zeitachsendenken), ist höchstens die pragmatische Akzeptanz der (kombinatorisch verstandenen, “erfragten” oder einem sonstwie klar gewordenen) jeweiligen Handlungs- oder Ereigniskonsequenz. In der aber liegt der eigentliche Unterschied zum Zeitachsenprinzip verborgen: Denn die Folge der jeweiligen Handlung wird ja in germanischem Wertesystem als genau der Faktor begriffen, der die “Masse an Wirklichkeit” einzig zu verändern vermag! Daraus ergibt sich fast das genaue Gegenteil von statischem Fatalismus: optatives, ja sogar kreatives Potential nämlich, Hebel- und Angelpunkte, Eingriffsmöglichkeiten – dynamische Mittel in einer ebenso als dynamisch (subjektiv: veränderlich) begriffenen Schicksalswelt.
Der Algorithmus lautet: Urda – Verdandi – Skuld – Urda. Auf deutsch: Es ist etwas gegeben (und zwar alles, was war, beinhaltend in Gesamtpräsenz) – es tut sich was (ggf. auch: ich tue was) in gegenwärtiger Option (”es steht etwas an”) – das hat bestimmte Folgen – in deren schließlicher Manifestation wieder etwas gegeben ist (alles, was war, beinhaltend in Gesamtpräsenz – kleiner Unterschied zu vorher: mein Krempel ist jetzt “mit drinne”).
Hier und jetzt
Versteht sich vielleicht noch, warum ich, von irgendwem etwa ganz freundlich nach meinen eigenen “Plänen für die Zukunft” befragt, mittlerweile ähnlich hilflos dreinschaue wie, sagen wir, der nächstbeste durchschnittliche Büroangestellte, befragte man diesen heutzutage, mit wievielen “täglichen Selbstgeißelungen” er hoffe, der drohenden “höllischen Verdammnis des ewigen Widersachers” zu entkommen…
Also ich, äh, ja: ich mach mir jetzt was zu essen. Mein fatalistischer Schicksalsglaube zwingt mich zur Annahme, daß ich ohne Nahrungsaufnahme schwächer würde und, bliebe es dabei, sogar siechte und stürbe alsbalden. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit: ganz und gar vordergründig treibt mir urheidnische Wollust das Wasser auf den Gaumen, ich werde ganz fickrig beim Gedanken, wie sehr mir jetzt / dann ein leckeres Essen schmeckt (Urd: Ich fühle, daß ich bin. Und ich bin hungrig! Verdandi: Ich mach mir jetzt was zu essen – hab´s noch nicht getan. Skuld: Das Essen soll mich satt und froh machen. Und gleich sind wir, unabhängig vom “Gelingen des Plans” selber, ob satt oder unzufrieden, wieder bei Urd. Aus dem Bajuwarischen mal borgend, ooch wenn ick “a Saupreiß” bin im Dienste der nämlichen Göttin Syr – aba “hund samma” un´ Völkerverschtändigung hamma, odda –, wa: Ois is´. 😀 )
Soweit zu meinen realen Zukunftsplänen (nicht ganz vollständig: aber was ich nach dem Essen mache, geht Sie nichts an, okay?) Natürlich hab ich noch wunder was für Taten vor! “Viel weiß der Weise, sieht weit voraus…” raunt´s aus der Edda – friggseidank bin ich aber kein Weiser und werd´ dann schon sehen, ob und was wirklich passieren wyrd. Fragen Sie mich darüber bitte direkt davor, oder wenn´s passiert ist, ja!? Ich geh jetzt was essen, wie gesagt, und zwar was ganz Leckeres.
Wollten Sie sonst noch etwas wissen über typische Ritualpraktiken germanischer Spiritualität?
Duke Meyer, im Juli 2005
P.S.: Kleine handwerkliche Schliff-Arbeiten an obigem Essay ließen das groß angekündigte Mahl auf morgen verschieben. So schnell kommt´s anders: mit der Zukunft – selbst der allernächsten! Was weder im Widerspruch steht zum Gesagten – noch zu jenen unverratenen Gelüsten… die auch ohne Mahl erfreuen, in der lauen Nacht. Von dieser germanischen Praxis aber sei ein andermal erzählt.
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Hallo Duke,
super Artikel! Asatru ist eigentlich nicht meine Baustelle, aber nach dieser Lektüre kann ich ihm (also zumindest dem „Asatru zum Selberdenken“) echt was abgewinnen… sehr spannend!
Nur einen Punkt der Argumentation kann ich so nicht nachvollziehen: Die Sache mit der Tarotkarte ist aus meiner Sicht kein Beleg für das Auftreten einer Folge vor der Ursache, weil ich sowohl das Chaos in der Ritualwoche als auch die Tarotkarte des Narren als Ausdruck von etwas tiefer liegendem interpretieren würde.
Viele Grüße
Ata
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Toller Artikel! Danke. Habe ihn vor ein paar Tagen bereits schon mal gelesen, aber ehrlich gesagt nicht ganz durchdrungen. Dann stieß ich gestern auf diesen Artikel:
http://m.digitaljournal.com/science/experiment-shows-future-events-decide-what-happens-in-the-past/article/434829
Passt doch wunderbar zu dem von Dir erklärten „Nornenmodell“, oddr?