Müssen wir dran glauben?
In der ollen Schmähbedeutung des Spruches, insofern der ausdrückt, dass wir alle mal sterben, sicherlich. Da gibt´s soweit keinen Diskussionsbedarf.
Einig darf ich mich mit allen Leserinnen und Lesern dieser Leseecke auch dahingehend wissen (glaube ich wenigstens), dass es der, dem und den Ásatrú aber meistens und vorwiegend um die Zeit vorher geht: das Leben vor dem Tod, meine ich. Denn selbst bei denjenigen Vertretern von Ásatrú, deren Lebensauffassungen und Weltsichten mich zuweilen befremden, ist mir noch nie ein übermäßiges Interesse am Jenseits aufgefallen. So weit, so schön.
Aber lasst uns über Glauben nachdenken (nein, ich schelle nicht an deiner Tür und frage mit hundeblickiger Sanftstimme … Pause … Augenaufschlag … ins Gewissen bohrgucken möcht´ – ganz bedächtig und feierlich formulier´: „Haben Sie heute schonmal über … Freyja nachgedacht?“ – Nö, derlei Schmäh überlassen wir getrost oder ungetröstet den „Zeugen des Sofas“).
Germanischer Glaube?
Nuja – „der germanische Glaube“… hm. Immer, wenn ich genau diese Wortkombination höre, stellen sich mir erst mal die Nackenhaare auf – verbirgt sich hinter solcher Begrifflichkeit doch allzu oft ein Weltbild, das alsbalden von „Art“ spricht, dabei „Rasse“ meint (nicht etwa Hunde-, sondern Menschenrasse!), und – heutzutage gern säuselnd und viel esoterischer als zu deutschen Militärstiefelknechts Zeiten – ausgerechnet „Germanentum“ dem Leichtgläubigen als etwas irgendwie biologisch Bedingtes verkaufen will. Tinnef!
Wieso „biologische“ oder „genetische“ Tümeleien mit den historischen Zuständen, Befindlichkeiten und Praktiken germanischer Kulturen völlig unvereinbar sind – daher auch mit all dem, was aus den Hinterlassenschaften der Altvorderen zu lernen ist –, will ich ein andermal aufzeigen. Hier jetzt soll es nicht um die krassen Deutungsverdrehungen lediglicher Möchtegern- oder Scheingermanen gehen. Die klammern wir gleich mal aus Richtung Orkus oder Hel oder am besten gleich in ihre „geheimen SS-Ufos“ – guten Flug, Kinners, und kommt mir ja nicht zurück! – oder in die gähnenden Leeren ihrer „Hohlwelt“ (die manche Eso-Leuchten ja unter der Erdkruste verorten, wir aber eher in den Köpfen solcher Zeitgenossen vermuten dürfen, die derart esobärmlichen Schmonz verbreiten)…
Ich wende mich hier an ehrbare Leute. Und dass die mit „germanischem Glauben“ was durchaus und kategorisch ganz und zwar ganz anderes meinen (als braune Kacke oder auch nur jenen beige aufgehellten Dünnschiss, der aus ideologischen Propagandasümpfen blubbert), setze ich hier mal voraus. Auch und gerade viele ehrbare und glaubwürdige (sic!) Ásatrú aber reden gern von ihrer Religion als einem „Glauben“.
Hä? Ist doch ganz normal, oder? Was hatter denn jetzt, der Autor dieser Zeilen? Willer uns Korinthen kacken? Nicht doch.
Mir geht´s schon, meine ich, um was Wesentliches. Bleiben Sie dran (es folgt auch keinerlei „Werbeeinblendung“. Versprochen! Schließlich sind wir hier bei der Nornirs Ætt und nicht beim Dudelfunk!
Die hiesige Religionsfreiheit (basierend auf den Menschenrechten) hat die heutige Vielfalt spiritueller und lebensweltsichtlicher Auffassungen und Ansichten zu einer gewissen gesellschaftlichen Normalität werden lassen. Selbst wer sich für Religiöses überhaupt nicht interessiert, muss nicht weit laufen oder blicken, um zwischen bekennenden Christen allerlei Couleur, manchen Muslimen – sowie all den Materialisten, Rationalisten und Atheisten in mutmaßlicher Mehrheit – auch zahlreiche Buddhisten, Esoteriker vielfältigster Spielarten, Wicca, Hexen (huhu, Küsschen – *wegduck*), keltisch Orientierte, nordisch Faszinierte (heya, Grüßlis!), schamanisch Praktizierende – wie auch die ganzen möglichen bis unmöglichen Mischformen (im Extremfalle sogar vereint in einer einzigen nächstbesten Person – alles schon da gewesen) anzutreffen oder auszumachen.
Gegenwartsorientiert, wie wir uns aber benehmen, vergisst man (außer jenen notorisch „Verfolgten“ natürlich, die noch unter jedem Pfaffenrock ein Reisigbündel für künftige Scheiterhaufen wittern – manche derart, dass mich schon der Verdacht beschlich, mancherhex vermisse die Inquisition geradezu) – vergisst man also allzu leicht, möcht´ ich nur sagen, dass über eineinhalb Jahrtausende christlicher Kirchendiktatur unsere Gefühle und unser aller Denke vorgeprägt haben. Auch uns Heiden. Und ich behaupte: gerade uns. Dies: tiefgreifender, als man gern zugestehen möchte. Mögen wir uns von den Werten des Christentums und seinen bekannten Strafmythologien (Sünde, Hölle, Schuld usw.) jeweils persönlich noch so weit entfernt und emanzipiert haben, fühlen oder auch nur dünken: Der allgemeine Begriffskanon rangiert immer noch über christliche Gleise – die ich hier und ab jetzt „sittenchristlich“ nenne, da eben keineswegs nur Fans vom armen Lattengustl betreffend. Nahezu jeder kulturreligiöse (oder auch ganz „arschnormale“, aber in religiösem Kontext mit auftauchende) Begriff ist gemeint – und sittenchristlich „vorbesetzt“: Religion. Ritual. Natur! Materie. Gott. Geist. Spirituell. Priester. Predigen. Sakral. Geistlich. Segen. Unschuld. Weltlich. Jungfrau. Liebe. Heilig. Bekenntnis. Glauben. Noch unzählige andere – hier nur ein paar der gebräuchlichsten.
Sprache spricht – spricht Sprache?!
Nein, so einfach können und dürfen wir´s uns nicht machen, jetzt etwa Worte aus unserem Sprachschatz zu verbannen – was auch gar nicht geht, solange wir uns noch so einigermaßen verständigen wollen, miteinander, wie auch und gerade mit „der Welt“. Aber, genau: die Welt. Wer von uns kennt nicht die Irritation des nichtheidnischen Gegenübers – dem wir auf seine interessierten Fragen gern was von unserer Religion, unserer Spiritualität, unseren Priesterinnen erzählen und was uns alles so heilig ist? Warum versteht der „geneigte Heidenbefrager“ oft nur Bahnhof und hört uns einigermaßen verzetteln – bis hin zur armrudernden Auflistung von Covengebräuchen (ja guck ma´: Ich Ásatrú tippe hier durchaus auch für Leuts, die den Besen nicht nur zum Kippenaufkehren verwenden) oder gar Gruppenmitglieder-Geschichten… Was den „Bahnhof“ unseres ratlosen Fragers womöglich dermaßen ins auch für ihn plötzlich Visualisierbare vergrößert, dass unser fiktiver Freund den nächsten virtuellen Zug nimmt, „und tschüs…“?
Das liegt keineswegs nur daran, dass „unserem Nichtheiden“ vor allem das Ungewohnte unserer Begriffswelt fremd sein mag („Göttinnen“, „Götter“, „Priesterin“ usw. – von jeweiligen „Insider Specials“ wie „Blót“, „Sumbel“, „Initiation“ u.ä. mal ganz abgesehen) – seine Irritation resultiert aus dem ihn unversehens verwirrenden Gewohnheiten – das heidnischerseits eben ganz anders „verknüpft“ ist als im (auch jedem Atheisten vertrauten) Kirchensprech.
Und hier kommen wir zum Punkt. Denn ich hab das Beispiel aus „wie erkläre ich Nachbar Normal meine Religion“ nur bemüht, um bei uns zu bleiben. Bei unserer Sprache und Denke.
Worte sind verknüpft. Ein einzelnes Wort kann eine ganze Vorstellungswelt heraufbeschwören – so wie eine Rune. Wenn ich sage – hey, das ist eine Dagaz-Situation – dann wird eine Runenkundige gewisse Assoziationen ihrer eigenen Lesart zumindest soweit „klicken“ lassen können, dass eine sinnvolle Nachfrage möglich ist und ein Gespräch entsteht. Und Otto Normal denkt bei „Priester“ eben nicht an einen Deppen, der nach dem Ritual im Hain die doch von ein paar Blótgästen weggeworfenen Kippen im Gras aufsammelt, während die andern ihm ein launiges „hey jetz´ komma endlich, Alter, mir wolln feiern“ zurufen, sondern an eine deutungsbefugte Autorität, die von einer Kanzel in einem respektheischend mächtigen Steinbau auf stumm Geduckte Verhaltensmaßregeln hinunterpredigt. Weil das Wort „Priester“ sittenchristlich verknüpft ist – und nicht heidnisch, in unserem Sinne. Worte als Glyphen, Bedeutungsträger. Sprache funktioniert so. Mit der absolutistischen Sexualisierung eines Wortes wie „Jungfrau“ und des diesbezüglich inwendig losknatternden Bedeutungs-Rattenschwanzes mag ich mich hier gar nicht befassen. Erst mal. Für hier und heute reicht mir ein einziges Wort. Glauben.
Den fiktiven Fragefreund von vorhin lassen wir mal einstweilen mit dem virtuellen Zug vom unsererseits versehentlich errichteten Unverständnis-Bahnhof auf und davonfahren. Ciao Baby, das nächste Mal mach ich´s besser. Wennde nich´ eh auf der nächsten Party ´ne Hexe triffst, in diede dich verguckst, und, ihre Göttin gönne es dir, vice versa. Die hat dann ganz andere Möglichkeiten als ich… und mehr Zeit für dich.
Ich will darauf hinaus, was die ungeahnten Wortverknüpfungen des verfügbaren Vokabulars in uns machen, in unseren heidnisch sein wollenden Gehirnen, in unseren „Bäuchen“, unserem Denken und Fühlen.
Freiheit, die ich meine…
Wir haben ja den Vorteil, daß wir machen können was wir wollen. Es gibt keine „heidnische Autorität“, die uns vorschreiben könnte, was wir zu glauben, zu fühlen und anzunehmen haben. Wir wollen keine – und olle selbsternannte Heidenfürsten, die ihr Heidentum noch immer nach dem Strickmuster einer Kirche aufziehen wollen (auch wenn sie das im Hain zelebrieren und einen unsortierten Haufen „Quellwissen“ zum gefälligst nachzubetenden Verhaltenskatechismus zugrunderaspeln), sind endlich zu vorwiegenden Lach- oder Seufznummern geworden im unfreiwilligen Kabarett neopaganischer Unübersichtlichkeiten der „Szene“. Schön.
Aber bereits diese selbstverständliche Freiheit persönlicher Ausdeutung spiritueller Wahrheiten macht manchen Neuheiden erkennbar nervös – und welche sittenchristlichen Wurzeln der plötzlich entflammende Streit hat darüber, wie herum oder mit welchen Mitteln „der Kreis zu ziehen“ ist oder dergleichen, kann wohl nur dem kritischen Auge und Ohr gerade Außenstehender auffallen. Wenn überhaupt.
Wenn wir aber Heidentum nicht in scheinheiligen – und scheinheidnischen – Katechismen verkümmern lassen wollen (und gerade die vielhundertjährige – auch uns angeblich so „traditionsbewußten“ VergangenheitsforscherInnen doch offenliegende und jederhex mühelos zugängliche – christliche Kirchengeschichte sollte uns lehren, wie sinnlos und schädlich das Konkurrieren um jeweilige spirituelle Deutungshoheiten ist!), müssen wir uns daran gewöhnen, daß der eine den Kreis eben so zieht und die andere so. Was dann „funzt“, ist eine ggf. empirische Frage, und vielleicht auch eine des persönlichen Geschmacks. Gut möglich, dass tausend unterschiedlich gezogene Kreise so sind wie Hühnereier. Aus den meisten schlüpft was, unter bestimmten Bedingungen, und aus manchen aber nicht, selbst wenn die Bedingungen genauso sind oder scheinen. Fürs Thema hier: egal.
Wir sind Heiden. Im Unterschied zu vielen nominellen Christen muss, kann oder darf man noch immer feststellen: Wir sind Heiden – geworden. Das heißt: Wir haben uns entschieden. Und diese Entscheidung war, bei vielen von uns: einsam. Unvorhergesehen: von uns, wie auch von unserer Umgebung. Wir wuchsen nicht in Heidentum hinein wie in sonstige kulturelle Selbstverständlichkeiten – denn „selbstverständlich“ ist unsere Entscheidung, objektiv gesehen, nicht. Keine und keiner von uns hätte ein heidnisches „Bekenntnis“ ohne den ganz spezifischen, individuellen Lebensweg – und dessen äußerst unplanbare Stationen. Alle „Tradition“, um die wir uns ehrlich bemühen, beginnt für unsereiner als ein Aufklauben von kleinen halbsichtbaren Scherben in meeresgroßen Halden von Müll, und keineswegs als: bloßes Erinnern dessen, was Mama, Papa, Oma, Opa, Uroma und so weiter sowieso seit eh und je gemacht und vorgelebt haben. Wessen heidnischer Neu- oder „Wiedergeburt“ (hier: ganz weltlich gemeint – innerhalb der real erinnerbaren Biografie dieses einen Lebens) ging ganz und gar kein „Unfall“ voraus, keine Lebensverzweiflung, kein Crash, keine Not und kein Schmerz?
Verzeiht mir, oder habt ein Quentchen Nachsicht für Mehrheiten, wenigstens: ihr wenigen Gesalbten und Gesegneten irgendwelcher generationenlangen „Familientraditionen“ heimlich überdauerten Heidentums oder Hexenwissens – um eure Befindlichkeiten oder Identitätsprobleme geht´s mir hier überhaupt nicht. Euch küß ich auf ´ner andern Feier. Vielleicht. Was aber dann immer noch mehr mit eurem möglichem persönlichen Charme oder Reiz zu tun hat, und nichts mit dem Eindruck, den Ihr mit euren Geheimratsgeschichten zu erwecken hofft. Bei allem Respekt: auch vor individueller Glaubwürdigkeit.
Not wurde gewendet, Notwende, Nauthiz die Rune, und das Notfeuer des Altneuen, Neualten, für uns: immer neu Gefundenen (für die Kreativen – oder Nervenstärke beweisen müssenden Ganzehrlichen – unter uns: auch jederzeit neu erfundenen) nährte und nährt die Flamme, das Feuer unserer jetzigen heidnischen Identität. Wir müssen aufpassen, dass dieses heilige (= uns heilen könnende) Feuer nicht auch versehentlich die Dampfmaschinen all zu leicht übersehbarer Denk- und Fühl-Gleise in Fahrt setzt oder (auch nur) hält.
Für germanisch Orientierte: Unzufällig rede ich von „Dampfmaschinen“. Denn viele, sehr viele angeblich „germanisch“ geglaubte Aspekte unserer Religiosität, unseres Weltbildes, unseres Selbstverständnisses wurzeln nicht etwa dort, wo wir zu suchen meinen: deep down in den versunkenen antiken Zeitaltern von Tacitus (inklusive ein paar Jahrhunners rauf und runter) – sondern im ganz und gar unheidnischen frühindustriellen Zeitalter, als Kohle noch etwas war, das in Heizkesseln von Lokomotiven verdampfte – damalige Rückbesinnungen auf (angeblich!!!) germanische Mythologie aber auf Ideologie-Gleise verführte, die im 20. Jahrhundert „plötzlich“ Massen von Menschen als Brennmaterial in die Öfen von Auschwitz karrte.
Ich bleibe bei den sittenchristlichen Gleisen. Diese trennen die Welt. Machen aus „Glauben“ ein Gebilde, das nichts mit Materie zu tun hat. Nichts mit Erde, und realem Leben auf ihr. Und schon gar nicht mit: ganzheitlicher Weltsicht in Ahnung oder Fühlbarkeit ihrer Zusammenhänge – woraus m.E. auch sowas wie „persönliche Verantwortung eigenen Handelns und Unterlassens“ zu resultieren hat. „Glaube“ ist – gewohnheitsmäßiger Verknüpfung gemäß – etwas Geistiges, Immaterielles. Jenseits noch vom Denken – denn Denken gilt als was anderes. „Glaube“ führt nicht ins Jenseits, sondern ist jenseitig. „Kommt aus“ dem Jenseits, ist gerichtet auf dieses, bleibt verhaftet darin: bewusst bei Christen – oder unbewusst, z.B. bei uns heutigen Heiden.
Wie gesagt, fände ich es höchst albern, Begriffe verdammen zu wollen. Es fragt sich nur, wo welche jeweils passen.
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