„Mit Stämmen ist kein Staat zu machen“ – Teil 2: Vom Stamm zum Staat
Im ersten Teil dieser lockeren Reihe befassten wir uns mit den Fragen, was denn eigentlich eine Stammesgesellschaft ist, wie sich „echte“ Stammesgesellschaften von den hierarchischen „Häuptlingstümern“ unterscheiden und was sich hinter dem Schlagwort „Tribalismus“ verbirgt.
Er schloss mit dem Fazit, dass Stämme und ganz besonders die expansiven Häuptlingstümer bei der Bildung von Staaten vielfach hinderlich sind. Mit Stämmen und Häuptlingtümern ist buchstäblich kein Staat zu machen: Um einen Staat zu gründen, müssen Stämme und Häuptlinge weitgehend entmachtet und das „Stammesdenken“ überwunden werden.
Wie kam es denn überhaupt dazu, dass Menschen sich in Staaten organisierten?
Die Schlacht bei Issos (333 v. u. Z.) – Ausschnitt aus dem „Alexandermosaik“, Pompeji, ca. 150–100 v. u. Z.
Dafür, was ein Staat eigentlich ist, gibt es unzählige widersprüchliche Definitionen. Eine der besten, weil auch ethnologisch und historisch brauchbarsten, stammt von Max Weber, dem „Vater der modernen Soziologie“. In seiner Herrschaftssoziologie definierte er „Staat“ als eine menschliche Gemeinschaft, deren Verwaltungsstab innerhalb eines bestimmten Territoriums erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges (also das Gewaltmonopol) für die Durchführung der Ordnungen beansprucht.
Zu einem „voll entwickelten Staat“ gehört demnach:
- Die Territorialität, vor allem definierte und gegebenenfalls verteidigte Grenzen,
- ein Gewaltmonopol, das durch die Polizei (Garde, Gendarmerie, Büttel usw.) ausgeübt wird,
- das Fachbeamtentum, worunter nicht allein ein Beamtenapparat im „preußischen Sinne“ zu verstehen ist, sondern der Umstand, dass Regierung und Verwaltung ohne ihnen verpflichtete Fachleute nicht funktionieren können, und
- eine bürokratische Herrschaft, also Machtausübung und Machtregelung durch Gesetze und Vorschriften.
All das gab es schon im „Alten Reich“ Ägyptens vor rund 4000 Jahren. Andererseits lebten die meisten Menschen vor der „kolonialen Expansion“ Europas in der Neuzeit in Gemeinwesen, die keine Staaten waren, meistens in Ranggesellschaften – also in Stämmen.
Modelle der Staatsentstehung
Wie wurde (und wird) die Macht der Stämme gebrochen, und ein Staat gegründet? Es gibt dabei mehrere Modelle, die sich übrigens keineswegs ausschließen.
Druck der natürlichen Umwelt. Die ältesten Staaten entstanden in trockenen bis wüstenhaften Klimazonen, und zwar in Flussoasen. Am Nil, im Zweistromland und am Indus ist Landwirtschaft ab einer bestimmten Bevölkerungszahl nur noch mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen möglich. Außerdem gibt es in Flussoasen regelmäßig Überschwemmungen, nach denen die Flur- und Ackergrenzen neu bestimmt werden müssen. Wenn außerdem die Bevölkerung so weit angewachsen ist, dass nicht mehr alle Konflikte persönlich geregelt werden können, geht es nicht ohne eine straffe, zentrale Organisation, die letzten Ende zu staatlichen Strukturen führt.
Entwicklung des Häuptlingstums zur Monarchie: Der Häuptling und sein „Clan“ bzw. sein Klientel erreichen eine unanfechtbare Machtposition, die nicht mehr allein von der Persönlichkeit des Herrschers abhängt und auch vererbt werden kann. (Dass ich das Maskulinum verwende, hat den Grund, dass mir kein Fall bekannt ist, in dem eine Herrscherin sich auf diese Weise zur Monarchin aufgeschwungen hätte.) Die unanfechtbare Macht erlaubt es ihm, „Polizeitruppen“ aufzustellen und ein Gewaltmonopol durchzusetzen. Bei hinreichend großer Bevölkerung und ausreichend entwickelten Produktivkräften geht es bei einer so zentralisierten Herrschaft nicht mehr ohne Verwaltungsapparat, also „Fachbeamte“ und Bürokratie.
Während Häuptlingstümer, bei denen die „starken Familien“ an Macht verlieren, oft wieder Stammesgesellschaften werden, kann der Sturz einer Monarchie in einem Staat zur Gründung einer Republik führen. Die ersten Republiken, die auf diese Weise entstanden, waren Stadtstaaten, Athen und Rom sind die prominentesten europäischen Beispiele.
Der häufigster Weg zum Staat ist die Eroberung: Ein Häuptlingstum unterwirft umliegende Stämme und konsolidiert seine Vorherrschaft. Das erfordert zwingend „Ordnungskräfte“ mit Gewaltmonopol, während das vergrößerte Herrschaftsgebiet sich nicht mehr ohne Fachbeamte verwalten lässt.
Der Zusammenschluss mehrerer Stämme bzw. Häuptlingstümer zu einem „Stammesverband“ oder „Großstamm“ führ hingegen erst einmal nicht zur Staatlichkeit. Die germanischen Stammesverbände der „Völkerwanderungszeit“ blieben zunächst „Personenverbände“ – die „Alemannen“ waren zum Beispiel tatsächlich ein Bund „aller Männer“, also ein Zusammenschluss der wehrfähigen Männer diverser Stämme, um ein gemeinsames Heer bilden zu können. Erst in der Auseinandersetzung mit dem straff organisierten römischen Staatswesen wurden staatliche Strukturen übernommen. Zur Staatengründung kam es zuerst bezeichnenderweise auf fremdem Gebiet. Dort waren die überkommenen Stammesstrukturen weniger wirksam und die „Germanen“ sahen sich einer einheimischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber. Sie konnten hier einen Staat nach dem „Eroberermodell“ gründen, auch wenn sie manchmal keine Eroberer im Wortsinn waren.
Das leitet zum letzten Beispiel dieser unvollständigen Auflistung über: Staaten, die von Kolonisten unterschiedlicher Herkunft gegründet werden. In der „neuen Heimat“ zählen die alten Stammesloyalitäten wenig, hingegen sind große Gemeinschaftsaufgaben zu bewältigen. Die mittelalterliche „Thing-Republik“ Island ist ein markantes Beispiel.
„Stammesnationalismus“ in Staaten
Zurück zu den ersten „echten“ Staaten auf europäischem Gebiet, den Stadtstaaten nach dem Model der „Polis“, auf das sich letzten Endes das „westliche“ Politikverständnis zurückführen lässt. Die Worte „Politik“ und „Polizei“ kommen Beispielsweise von „Polis“. Diese rund 600 Kleinstaaten mit zwischen etwa 5000 bis zu höchstens 500000 Einwohnern waren „Versuchslabore“ für Herrschaftsformen, die das ganze Spektrum zwischen „Tyrannis“, „Demokratie“ und „Kosmos“ – wie die Spartaner ihre stramm durchorganisierte „harmonische“ Staatsmaschinerie nannten – abdeckten. In ihnen wurde allerdings nach wie vor tribalistisch gedacht, und ihre Bürger verstanden sich als durch gemeinsame Abstammung, gemeinsame Sitten und die angestammte Heimat zusammengehaltene Gemeinschaften. In der Konkurrenz der Stadtstaaten bildete sich eine Haltung heraus, die der Philosoph Karl Popper mit dem etwas missverständlichen Begriff „Stammesnationalismus“ beschrieb. „Stammesnationalistisch“ sind nach außen aggressiv auftretende Staaten, die ihr politisches Handeln durchweg tribalistisch rechtfertigten und sich als „monotribal“, als aus einem Stamm gegründete Nationen, verstehen. Damit war es vorbei, als die makedonischen Herrscher Philipp und Alexander die griechischen Stadtstaaten unterwarfen:
Im Reiche Alexanders verschwindet der echte Stammesnationalismus für immer aus der politischen Praxis und für eine lange Zeit aus der politischen Theorie. Von Alexander an waren alle zivilisierten Staaten Europas und Asiens übernationale Staaten, die Völker sehr verschiedenen Ursprungs umfaßten. Die europäische Zivilisation und alle politischen Einheiten, die ihr angehören, sind seitdem international oder, genauer, intertribal geblieben.
Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2: Falsche Propheten, S. 64, Franke / UTB, Tübingen, 6. Auflage 1980
Das von Alexanders Armeen eroberte Persische Reich war, im Gegensatz zu den damals in Südeuropa bestehenden Staaten und vor allem den griechischen Stadtstaaten bereits intertribal und multikulturell, auch wenn die Perser eindeutig als beherrschendes „Staatsvolk“ auftraten. Da die Griechen bzw. Makedonier im Alexanderreich und den auf sie folgenden Diadochenreichen eine winzige Minderheit waren, konnten sie nicht mehr auf „nationaler“ und erst recht nicht auf tribaler Grundlage herrschen. In dieser Zeit bildete sich eine abstrakte Staatsidee heraus, der viel später auch das Römische Reich folgte: die stadtrömische Bevölkerung, unter der die „stammesechten Römer“ längst eine Minderheit waren, machte nur einen winzigen Teil der Bevölkerung des Imperiums aus. Eine analoge Entwicklung gab es im China der Qin- und der Han-Dynastie seit 221 v. u. Z. und in Indien seit der Herrschaft Aśokas (ab 268 v. u. Z.) Alle späteren Staaten (im modernen Sinne) Europas und Asiens folgten diesem Muster.
Auch die Gründung der Nationalstaaten seit der frühen Neuzeit änderte daran in der Praxis nichts, noch nicht einmal in faschistischen Staaten. Kein Nationalstaat war und ist ethnisch homogen. Es ist schon eine seltene Ausnahme, wenn in einem Nationalstaat alle Bürger die offizielle Nationalsprache gut beherrschen. Zwar sind alle Mitgliedsstaaten der „United Nations“ per Definition Nationalstaaten, mit wenigen Ausnahmen sind alle UN-Staaten jedoch faktisch Vielvölkerstaaten, die nicht nur nicht ethnisch homogen sind, sondern in denen überdies deutlich kulturell von einander unterscheidbare Voksgruppen in einigermaßen klar abgrenzbaren Regionen leben. Sie könnten ohne weiteres in mehrere „Nationen“ aufgeteilt werden: Schottland, Kurdistan, das Baskenland, Katalonien, Flandern oder Korsika sind einige bekannte Beispiele für „Nationen“ innerhalb eines Nationalstaates. (Umgekehrt ist nicht jeder Separatismus oder jede Autonomiebewegung kulturell begründet, Stichwort „Wohlstandsseparatismus“.) Einige „internationale“ Nationalstaaten erkennen das durch eine mehr oder weniger föderalen Verfasssung an. In anderen wird der „multiregionale“ und multikulturelle Charakter durch die Staatsführung vehement bestritten, wie z. B. in der Türkei.
In der Theorie aber bildete sich im 19. Jahrhundert die völkische Ideologie heraus; zunächst im deutschen Kulturraum. Sie geht davon aus, dass alle Bürger eines Staates „stammverwandt“ und „eines Blutes“ sein sollten. Der „völkische Staat“ ist faktisch ein mit staatlicher Autorität ausgestattetes Häuptlingstum, ein „Stammesstaat“, und damit etwas, was allenfalls in winzige Staatswesen von der Größe antiker Stadtstaaten machbar wäre. Eine Utopie, die aus der Sicht von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten eine schreckliche Dystopie ist. Das völkische Denken kann mit Fug und Recht ideologisierter Tribalismus oder nach Popper „moderner Stammesnationalismus“ genannt werden.
Martin Marheinecke, Februar 2018
Super Artikel! Mir gfallen Martins Artikel meistens urgut.
Danke!
Mc Claudia
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