Mit dem Wohlstand kamen die moralischen Religionen
Die heutigen Religionen sind ein Phänomen des Wohlstandes. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie. („Increased Affluence Explains the Emergence of Ascetic Wisdoms and Moralizing Religions“ von Nicolas Baumard und Kollegen, veröffentlicht in der Fachzeitschrift „Current Biology“.)
Betrachtete man die heutigen Weltreligionen, scheint es beinahe selbstverständlich, sie mit Selbstdisziplin, Askese und Verzicht – kurz: mit Regeln einer moralischen Lebensführung – zu denken. Das war nicht immer so. Frühe religiöse Traditionen in Jäger- und Sammlergesellschaften stützten sich vor allem auf Rituale, Opfergaben und Tabus, um Böses und Unglück abzuwehren bzw. um Gesundheit und Glück heraufzubeschwören.
Vor rund 2.500 Jahren wurden Moral und auch Verzicht wesentliche Bestandteile von Religionen. Grund dafür war der wachsende materielle Wohlstand, heißt es in der Studie.
Zahlreichen Studien zufolge gab es vor rund 2.300 bis 2.500 Jahren in drei Regionen Eurasiens – in Indien, China und Griechenland – ein enormes Wohlstandswachstum, gemessen am täglichen Energieverbrauch pro Person.
Zur selben Zeit entstanden in Indien, Südwestasien, China und Griechenland unabhängig voneinander neue Glaubens- und Morallehren. (Z. B. Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Zoroastrismus, griechische Philosophie, aber auch die „Neugründung“ des Judentums nach dem „Babylonischen Exil“.)
Zur Begründung schreiben die Evolutionspsychologen:
Bisher gingen viele Forscher davon aus, dass „moralische“ Religionen für große und komplexe Gesellschaften notwendig waren, da sie die Zusammenarbeit der Menschen garantierten. Baumard gibt zu bedenken, dass viele der erfolgreichsten Imperien wie zum Beispiel das Römische Reich, Ägypten, die Azteken, die Maya und die Inka keinen moralischen Gottglauben hatten.
Ausführlicher Artikel über die Studie auf ORF.at : Heutige Religionen sind Wohlstandsphänomen
Kommentar: Ein interessanter Ansatz. Allerdings düfte es schwer sein, die doch stark reduktionistische Hypothese – die Forscher haben sogar die genaue Energiemenge errechnet, ab der Religion individuell-moralisch wurde, sie soll bei 20.000 Kilokalorien pro Kopf und Tag liegen – zu überprüfen. Gemeint ist damit nicht alleine das Essen, das jemand zu sich nimmt, sondern die gesamte Menge Energie, die einer einzelnen Person pro Tag zur Verfügung steht, inklusive Heizmaterial, Infrastruktur, Haushalt, Arbeit, Freizeit usw.
In der Tat waren das alte Ägypten, die Azteken, die Maya und die Inka die meiste Zeit ihrer Existenz relativ „energiearme“ Zivilisationen, auf das römische Reich traf das allerdings nicht zu. Für den „Nahen Osten“ ist eine „Wohlstandsexplosion“ wie in China oder Indien nicht nachweisbar (auch, weil das Niveau schon vorher hoch war). In diese Zeit fällt allerdings der Aufstieg des Perserreiches, also die Bildung einer sehr großen und komplexen Gesellschaft.
Für sehr problematisch halte ich im Zusammenhang mit der Moral den Begriff „Religion“. Im „alten Griechenland“ änderte sich nicht die Religion, sondern es entstand eine zunehmend nach Moral fragende Philosophie, wobei sich das philosophische Denken zuerst entwickelte: Die Vorsokratiker kümmerten sich noch recht wenig über solche Fragen, erst mit Sokrates und Plato rückten sie in den Mittelpunkt – aber nicht in den Mittelpunkt der Religion. Auch Konfuzianismus und Taoismus sind in erster Linie Lebensphilosophien, was, trozt einiger religiösen Züge, auch auf den Buddhismus zutrifft. In Indien war es die Kritik am brahmanischen Opferwesen, die zu asketischen Reformbewegungen führten, die auch zunächst eher lebensphilosophisch als religiös waren – der Buddhismus ging aus einer dieser Reformbewegungen hervor.
Selbst für das Judentum gilt die Faustregel: „Erst änderten sich die Moralvorstellungen, dann erst die Religion.“
Ja, warum soll ich an meine Freude ein Preisschild hängen? Warum „verdienen“ und mich „verdingen“?
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