Hain & Trommel

Initiationsrituale

Warum im Schamanismus Initiationsrituale praktiziert werden – und wozu sie dienen.
von Venarya

Initiationsrituale wie z. B. eine Visionssuche bringen einen Menschen dazu, dass er auf sich selbst zurückgeworfen wird. Rituell „gepflanzt“ auf einen dafür vorbereiteten, einsamen Platz in freier Natur (der für die Dauer des mehrtägigen Rituals nicht mehr verlassen wird), sind die alltäglichen Ablenkungen fern: Man wird konfrontiert mit den eigenen Ängsten. Bereits die Tatsache, über Tage und Nächte völlig allein zu sein, zwingt einen dazu, diese Ängste zu durchleben – und zu überwinden.

Anstelle der sonst wie selbstverständlichen Gewohnheiten, Hilfe grundsätzlich von außen zu suchen (Tabletten, Arztbesuch o. Ä.), müssen Schmerzen und sonstige Probleme nun anders überwunden werden: Gebete, meditative Praktiken, Vertrauen in helfende spirituelle Kräfte u.Ä. ermöglichen dabei, etwas aus sich selbst heraus zu lernen und zu entwickeln.

Hat man keine solche „inneren Werkzeuge“ oder Methoden, kann die Zeit selbst zu einem großen Problem werden. Doch auch dies kann zur heilenden Erfahrung werden: Geht es doch immer darum, die eigene (zuweilen: tief in einem selbst verborgene) Kraft zu finden und zu spüren, anstatt sich auf äußere Hilfen zu verlassen (oder solche erwarten zu können). Bestimmte Methoden gibt die Visionssuche nicht vor, individuelle Praktiken legt sie nicht fest.

Ziel ist, jeden Menschen seine eigenen Techniken finden zu lassen, die ganz persönlich zu ihm passen. Immer wieder Vertrauen zu sich selbst – wie auch zu den spirituell helfenden Kräften der Natur – zu wagen, führt letztlich dazu, das eigene Leben kraftvoll meistern zu können. Man spricht auch davon, den „eigenen Auftrag“ wahrnehmen und leben zu können.

Anders als z. B. im Buddhismus, wo dem Menschen genaue Angaben gegeben werden, über meditative Praktiken und vorgegebene Gebete am Ende „Erleuchtung“ zu erlangen, lässt die Visionssuche dem Probanden zur Entwicklung und/oder Ausübung seiner persönlichen Methoden (fast) völlig freien Raum.

Herkömmliche Schulen, Ausbildungswege und andere typische „Lebensstationen“ unserer Zivilisation brachten uns vor allem bei, Wissen nach streng vorgegebenen Rezepten zu erlangen, Energie wie Heilung grundsätzlich von außen zu erwarten – und Autoritäten zu vertrauen, die uns (z.B. im Rahmen jedweder Lernerfahrung) den jeweils nächsten Schritt genau vorgeben. Das Lob des Lehrers ersetzt die eigene Erfahrung (die sich allzuoft aufs „Nachturnen“ einer Methodik und das messbare Meistern bestimmter Prüfstationen beschränkt). Die eigene Urteilskraft verkümmert. (Im Fall des überwiegenden Tadels seitens der Autorität verkümmert zudem das Selbstvertrauen überhaupt.)

Kennzeichen für die Verinnerlichung solcher Verhaltensmuster ist z.B. das mehr oder minder minutiöse Nachbeten und Nachbilden von allerlei Rezepten und Ritualen, die wir z.B. in beliebigen Büchern finden. Selbst, wenn manche dieser Rezepte fürs eine oder andere Detail taugen mögen, ersetzt ihr stumpfer Nachbau doch nie und nimmer die – zugegeben: schwierigere und langwierigere – Erfahrung, welche Methoden und Praktiken wirklich der eigenen, persönlichen Natur dienen und gemäß sind. Zudem können Bücher nur Theoretisches vermitteln: Nichts ersetzt den direkten Kontakt mit den Kräften der Natur – und nichts bringt einen der eigenen Natur näher als dieser!

Wasserfall
Foto: Karan

Das Wagnis
Initiationsrituale wie die Visionssuche werfen den Menschen „ins kalte Wasser“: um die eigenen Kräfte zu entwickeln. Dieser Weg setzt eine gewisse Bereitschaft voraus, an sich selbst zu arbeiten: negative Grundeinstellungen zu hinterfragen, „Schuld“ für erfahrenes Leid nicht mehr außen zu suchen, sondern sich selbst zu ermächtigen, das eigene Schicksal (kraft der persönlichen, im Grunde wertfreien Erfahrungen) zu gestalten: immer wieder aufs Neue. Neue Erfahrungen wagen!

Dazu kommt eine gewisse Opferbereitschaft: Man sollte bereit sein, „etwas aushalten“ zu wollen, um weiterzukommen. Der Erfolg von Visionssuchen (aber auch anderer Rituale, wie z.B. Schwitzhütten) lässt sich nicht erkaufen. Hier gilt nur die Währung der jeweiligen persönlichen Einsatzbereitschaft – und was man von sich selber gibt, gibt man den Göttern, Kräften oder dem Inneren Selbst (je nach Weltsicht); nicht dem oder der Zeremonienleiterin. (Die oder der mag einen Obolus verdienen bzw. einen Unkostenbeitrag verlangen: das ist ein völlig anderes Thema auf der materiellen bzw. der Sachebene und hängt nicht mit dem zusammen, was das Ganze einem persönlich bringen kann und soll: weit über das Ritual selbst hinaus. Sinn und Erfolg einer Visionssuche u. Ä. hängen ganz von der inneren Bereitschaft ab, sich einem solchen Prozess vertrauensvoll hinzugeben – und die dabei auftauchenden Schwierigkeiten zu durchleben, zu erfahren. Am eigenen Leib.)

Anstatt also, z.B. in einer Schwitzhütte, beim ersten „Brennen“ auf der Haut sofort die Hütte zu verlassen, gilt es vielmehr zu erkennen, dass die spontan als „zuviel“ empfundene Hitze auch nur ein Werkzeug ist, das dazu dient, die eigenen Grenzen zu erweitern – und letztlich: Heilung zu erzeugen.

Allerdings: zum „Schuss nach hinten“ kann es werden, sich selber nur als „Opfer“ wahrzunehmen, das nun willig allerlei Unbill oder Unannehmlichkeiten „halt aushalten“ oder „durchhalten“ müsse. Wer allzuleicht (z.B. aus persönlicher Erlebens-Gewohnheit) die „Opferrolle“ wählt – für den oder die kann es durchaus eine Bereicherung darstellen, die Visionssuche oder Schwitzhütte früh- oder vorzeitig zu verlassen. Nochmal: Es gilt nicht, hier vorgefertigte Wege zu durchlaufen, um Lob irgendeiner Autorität (oder einen Titel, ein Diplom oder sowas) einzuheimsen, sondern tatsächlich eigene Kraft zu erfahren und zu entwickeln. Niemand wird beurteilt außer durch sich selbst.

Initiationsrituale dienen also dazu, den eigenen Kraftquellen näher zu kommen, eine eigene Praxis zu finden und ins tägliche Leben einzubauen, Vertrauen zu finden und den eigenen Auftrag verantwortungsvoll zu leben.

Was ich noch hinzufügen möchte, ist, dass wir (als Kinder unserer Zeit), sehr geprägt sind von der „Zivilisation“ – jedoch jeder von uns in sich selbst den Wunsch entwickeln kann, an sich selbst zu arbeiten, um das oben Beschriebene zu erreichen. Wenn wir jedoch wirklich nachhaltige Veränderungen erreichen möchten, ist es notwendig, sich z. B. für freie Schulen einzusetzen, damit unsere Nachkommen es leichter haben, dem allgegenwärtigen Prinzip des Folgens etwas Kreatives gegenüberstellen zu lernen, und etwas Eigenes aus sich selbst heraus zu entwickeln.

Nachgeahmte Rituale und lebendige Traditionen
Gerade in unseren Breitengraden werden gerne Rituale (aus welchen Quellen auch immer) nachgeahmt und als wirksam empfunden. Nicht selten trifft man selbsternannte Hexen, die ein Buch neben sich liegen haben und, oft mithilfe darin aufgezählter „unverzichtbarer“ Gegenstände, kleinlaut die „Göttin der Unterwelt“ anrufen … Bei sowas denke ich mir unwillkürlich: „Eigentlich gut, dass es nicht funktioniert – denn wenn so eine Göttin tatsächlich erschiene, würde es das kleinlaute Hexchen höchstwahrscheinlich umhauen.“
Warum funktioniert das nicht? Mal abgesehen davon, dass unser „Beispielshexchen“ selten eine nennenswerte Ahnung hat von der jeweilig gerufenen Gottheit (deren kultureller Kontext ja allzuoft ignoriert bzw. überhaupt nicht als relevant wahrgenommen wird): Wo haben wir denn gelernt, eine wirkliche (eine wirk-mächtige!) Verbindung herzustellen mit den Kräften der Natur?

Wie und welche eigenen Methoden sind denn entwickelt, die Naturkräfte zu spüren, womöglich mit deren Geistern Kontakt aufzunehmen? Nicht nur, dass Initiationserfahrungen meist fehlen: Die allermeisten von uns haben doch nichtmal einen eigenen Garten, wo sie ein wenig Verantwortung und Kontakt zu Pflanzen, Mond, Wetter und Wachstum erlernen können. Wer hat sich überhaupt mal öfter alleine in die Natur begeben? Sich getraut, eigene Formen zu finden, Kontakt mit Naturgeistern herzustellen? Wer wagt wenigstens das Vertrauen, diesbezügliche eigene „Einbildungen“ als wahrhaftig anzuerkennen?
Die Rituale, die wir in Büchern finden, mögen wirksame Rituale sein: bestenfalls aber von Menschen entwickelt, denen diese Fähigkeiten (Kontakt zur Natur herstellen zu können) vertraut sind oder waren.

Lebendige Traditionen (wie z.B. die indianischen, die ich lernte), hingegen bringen Folgendes hervor:

  • Schwitzhütten, die dazu dienen, sich regelmäßig zu reinigen, für eigene Grenzerweiterung und ebenfalls zur Heilung verwendet werden.
  • Medizinzeremonien, die dem Menschen dienen, mittels bestimmter halluzinogener Pflanzen (die zudem wohldosiert verabreicht werden), Verbindung zu spirituellen Kräften herzustellen: Es kommt zu Visionen und außergewöhnliche Erfahrungen. Zudem werden die eigenen Heilungskräfte aktiviert, das eigene Herz öffnet sich, das „wahre Selbst“ kommt zum Vorschein.
  • Visionssuchen, die als Initiationsrituale den Menschen dazu zu bringen, eigene innere Kraft zu entwickeln, Vertrauen zu finden, Kontakt herzustellen zur eigenen inneren wie der großen äußeren Natur (nicht wundern, wenn die sich plötzlich verwandt oder gleich anfühlen!): Hier schlummern die Möglichkeiten, kraftvoll das Leben zu meistern, ja: den persönlichen „inneren Auftrag“ in diesem Leben zu erkennen.
  • sowie z.B. der sog. „Sonnentanz“, der dazu dient, die „Trennung von der Nabelschnur“ (stellvertretend: für tiefverwurzelte Gewohnheiten und Bindungen) selbsttätig auszuführen, dabei sehr schmerzvolle Zustände auszuhalten. Man gibt viel von sich, um sich bereit zu machen für den eigenen Weg. Das Leben ist fortan in eigener Hand – die vordem so selbstverständlich gefühlte Abhängigkeit von äußerlichen Bedingungen endet im Schmerz dieser Erfahrung. Wie kein anderes ist der Sonnentanz ein Ritual, das zur inneren Reife führt.

Alle diese Rituale lassen jedoch Platz für den eigenen individuellen Weg, die eigenen Methoden (inklusive der praktischen Gelegenheit, solche zu entwickeln). Und selbstredend erfährt man die anwesende Gemeinschaft (von Helfern und Mit-Probanden) rundherum als eine, die den eigenen, ganz persönlich erfahrenen Weg damit unterstützt!
Wichtig ist, dass alle diese Traditionen bzw. Rituale mit einer eigenen und persönlichen Absicht verbunden werden müssen: Verlauf und Ergebnis sind von dieser Vorarbeit abhängig.

Damit diese traditionellen Rituale erhalten bleiben, sind Menschen wichtig, die ich „Traditionsreiter“ nenne: Jene Kundigen, die darauf achten, dass man sich genau an die vorgegebenen Regeln hält, damit das Wissen über die einzelnen Traditionen erhalten bleibt (nicht zuletzt: damit sie überhaupt weitergegeben werden können).

Ziel ist jedoch immer ein persönlicher Weg, der über das bloße Befolgen von Regelwerken hinausreicht. Nur so führt dieser Weg hin zum eigenen Herzen – und lässt sich mit dessen ungeahnter Ur-Energie auch die der „großen Natur“ erfahren und vice versa (unabhängig davon, mit welchen Kräften, Geistern oder Gottheiten die Welt jeweils individuell gesehen, empfunden, verstanden und erlebt wird).

Doch gerade auch in derzeit gelebten Naturreligionen und ihren Traditionen gibt es keine Lehren darüber, was man in sich selbst finden wird. Wie sollen die Rituale aussehen? Es sind lediglich Werkzeuge, die einem helfen, dies alles in sich zu finden: Sie lassen den Raum offen für den persönlichen Weg, das ureigene Werden und Gestalten.
Mit dem Nachahmen vorgefertigter Ritualrezepte sind die Erfahrungs-Pfade lebendiger Traditionen nicht zu vergleichen: weder in ihrem Verlauf, noch in ihrer Wirkung.

Die Essenz
Natürlich gilt es, kulturspezifische Eigenheiten jeweils behutsam ins Erfahrbarkeits- und Möglichkeits-Feld tatsächlich und aktuell vorhandener Umgebungs-Voraussetzungen zu übersetzen oder zu übertragen: Eine in den Tropen entwickelte Tradition, für die Sonnenhitze und Wassermangel tagtägliche Selbstverständlichkeiten darstellen, bringt formell andere Ritualdetails hervor als eine, die sich über wechselnde Jahreszeiten definiert, von denen Winterkälte oder zumindest nasskaltes Übergangsgrau die längsten sind. Von den Unterschieden in Fauna und Flora (samt deren spezifischen „Spirits“) ganz zu schweigen. Im Kern aber ist Schamanismus eine uralte Praxis, ersonnen, tradiert und (immer wieder weiter-) entwickelt: von Menschen für Menschen, im Einklang mit der natürlichen Welt, in der – und aus der – sie leben. Älter als unsere sogenannte „Zivilisation“ (an deren Grenzen und Überformungen wir doch gerade so leiden – nicht nur, aber auch)!
Darum rede ich von „lebendigen Traditionen“. Vielfältige Entwicklungen in der europäischen Geschichte sorgten hierzulande für Abbrüche, Entfremdungen, Vergessenheit. Anderswo in der Welt wurden und werden noch lebendige Reste bewahrt bis heute: Die Kulturen mögen sich unterscheiden, aber die Herzen der Menschen tun es nicht. Heilung ist ein Anliegen, wir alle bedürfen ihrer.

Lasst uns aus dem überlieferten Wissen, den praktischen Erfahrungen jener schöpfen, deren Kulturen von der Industrie- und Kommerzgesellschaft überrannt wurden – oder gerade zermantscht werden. Ich lernte nicht aus der Kultur eines einzelnen Stammes – längst schlossen sich unterschiedlichste Medizinkundige letztüberlebender Tradtionsvielfalt zusammen, um in diesen schwierigen Zeiten zu bewahren – und weiterzugeben, was noch möglich ist. Um kulturelle Eigenarten geht es sowieso nicht: sondern, wie gesagt, um Heilung. Erzählt mir nicht, ausgerechnet unsere Zeit und Welt hätte die nicht nötig.
Ich habe nur ein Samenkorn mitgebracht, einen Keim, eine Ur-Methode. In unsere materiell so stein- (oder schein-) reiche, seelisch aber so hungernde Welt. Für unsere verwilderten Herzens-Äcker. Für unsere konkreten Heil-Bedürfnisse. Für uns alle, in allen globalen Hemisphären, Kulturen, Nöten. Für unser aller Leben – und Überleben. Miteinander! Für dich und mich. Für alle, die wir lieben. Ich nenne es: die Essenz.
Venayra
(verbal assistiert von Eibensang)

Venayra gibt in Deutschland regelmäßige Schwitzhüttenzeremonien und hat 2007 erstmals eine Visionssuche initiiert, die im Saarland stattfand. Ihr Anliegen dabei ist es, die indianische Essenz der Visionssuche zu adaptieren und dementsprechende Elemente und Inhalte der germanischen Kultur und heimischen Natur mit einfließen zu lassen.

Kontakt: venayra (at) gmx.de

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