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„Die Vernichtung der Weisen Frauen“

Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Heinsohn durch das von ihm gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Otto Steiger 1985 veröffentlichte Buch „Die Vernichtung der Weisen Frauen“.
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Ein Bestseller und Longseller

Gunnar Heinsohns und Otto Steigers zentrale These ist, dass der „Holocaust an den Hexen“ nicht nur ein Produkt geisteskranker Hysterie einzelner Staats- und Kirchenmänner sei, sondern von Klerus und Adel aus exaktem politischem Kalkül entwickelt worden wäre: um das alte Volkswissen über Geburtenkontrolle auszurotten, das von den vorrangig als Hexen verdächtigten Hebammen gehütet und weitergegeben wäre. Durch die gewaltsame Tilgung des Verhütungswissens sollten die Frauen dazu gebracht werden, mehr Kinder zu empfangen und aufzuziehen, als für die ökonomische Reproduktion ihrer Familien notwendig gewesen wäre.

Das Buch wurde ausführlich in der Presse besprochen und überwiegend zustimmend diskutiert. Nicht zuletzt beruhte der Erfolg des Buches auf einem Vorabbericht im „Spiegel“, in dem die Thesen Heinsohns und Steigers wohlwollend vorgestellt wurden:
Femina = die weniger Glauben hat (Der Spiegel 43/1984)

Die These von der Verschwörung zur Vernichtung der „weisen Frauen“ traf seinerzeit vor allem in feministischen Kreisen und unter kirchenkritischen Menschen auf Beifall – und selbstverständlich unter den neuen Hexen:

Die lila Hexen der Neuzeit waren hinter dem Buch her wie der Teufel hinter der armen Seele.

Der schrille Schrei einer Hexe (jW).

Obwohl das Buch schon etwas älter ist, und seine zentrale These von der historischen Hexenforschung gründlich demontiert wurde, hat es es für die „Neuen Hexen“ im deutschen Sprachraum eine nach wie nicht zu unterschätzende Bedeutung. International gesehen ist „Witches, Midwive, Nurses“ von Barbara Ehrenreich und Deidre English sowohl für den Feminismus wie für die modernen Hexen und Wicca sicher wichtiger. Heinsohn und Steiger zeigen jedoch keine Nähe oder auch nur besondere Sympathie für Neuheidentum und Ökofeminismus. Da Heinsohn bis heute den Ruf eines führenden Experten für Demographie und für Völkermorde hat, ist „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ als Buch „anerkannter neutraler Experten“ eine besonders glaubwürdige „Argumentationshilfe“.

Verschwörung zur Menschenproduktion?

Der Mythos von der „Ausrottung der Weisen“ und der Hexe als „Ärztin des Volkes“ ging schon auf das 19. Jahrhundert, vor allem auf Jules Michelet, zurück. Die Theorie wurde von Margeret Murrey aufgegriffen, indem sie den Hexenkult als einen von der Kirche verfolgten Fruchtbarkeitskult auslegte. Die Rolle der Kirche als systematische Vernichterin der großen germanischen Priesterinnen wird im Nationalsozialismus, der die „deutschen Ahninnen“ im völkischen Feminismus weiter hochstillisiert, noch stärker ausgebaut.

Heinsohn und Steiger gingen über diesen mittlerweile schon traditionellen Mythos hinaus, und unterstellen eine bewusste Planung, die ab Ende des 15. Jahrhunderts über die Konfessionsgrenzen hinweg eine gut 200 Jahre lange blutige Verfolgung des „Malificium“ und der Trägerinnen dieses bösen Wissens zur Folge hatte – die wiederum die beispiellose Bevölkerungsexplosion im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts zur Folge gehabt hätte. Das ursprüngliche Ziel sei es gewesen, die enormen Bevölkerungsverluste durch die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters auszugleichen.

Einige aufschlussreiche Arbeiten, wie z. B. die Aufsätze der Historiker Walter Rummel oder David Harley konnten aufzeige, dass es ein derartiges „Ausrottungsprogramm“ nicht gab.

Das bevölkerungstheoretische Konzept der These von der ‚Vernichtung der weisen Frauen‘ und die durch die Quellen zugängliche Wirklichkeit stehen durchweg im blanken Widerspruch

, wirft Rummel zurecht ein.
(Walter Rummel: Weise‘ Frauen und ‚weise‘ Männer im Kampf gegen Hexerei).
Einer großen, zentral gesteuerte Verschwörung zwischen den Kirchen und den frühabsolutistischen Herrschern widersprechen die regional völlig verschiedenen Verfolgungen. In manchen Regionen wurden nur Frauen, in anderen Frauen und Männer gleichermaßen verfolgt, meistens ging die Initiative zur Verfolgung von dem Volk aus, manchmal von der weltlichen Obrigkeit, eher selten von der Inquisition. Prozeßfreie oder prozeßarme Zonen wechseln mit verfolgungsintensiven Regionen ab – je nach Obrigkeit und Rechtssystem, wobei es sich immer wieder herausstellt, dass ein defektes Rechtssystem zur stärkerer Verfolgung führte – also genau umgekehrt, wie es bei einer zentral gesteuerten Verfolgung gewesen wäre. Es gab längere Zeiträume ohne größere Verfolgungen, die sich mit kurzen Zeiten von hoher Prozesskonzentration abwechselten. Von einheitlicher Durchführung kann also keine Rede sein. Das bevölkerungspolitische Kalkül greift nicht für die Zeit unmittelbar nach den pestbedingter Bevölkerungsverlusten im späten Mittelalter, da es vor 1500 noch keine Massenverfolgungen gab. Hingegen gab es am Ende des 16. Jahrhunderts Massenverfolgungen, aber von Unterbevölkerung konnte keine Rede sein – die Ernten dieser klimatisch ungünstigen Jahre reichten nicht aus, um die Bevölkerung zu ernähren, praktisch gesehen herrschte also Überbevölkerung.

Der überschätzte „Hexenhammer“

Heinsohn und Steiger erkannten richtig, dass die traditionelle Schadenzauberei und das erst im 15. Jahrhundert Bedeutung erlangende Hexereidelikt zwei unterschiedliche Tatbestände waren, obwohl sie sich in der Verfolgungspraxis überschnitten. Dennoch reduzieren sie den komplexen Hexereibegriff weitgehend auf das Element der „Hexenhebamme“. Für die Bevölkerung war gerade der traditionelle Schadenzauber gegen Mensch, Tier und Ernten durch Hexen vorrangig, wozu auch die magisch verursachte Impotenz gehörte. Das relativ neue „Hexereidelikt“ mit Teufelspakt, Hexensekten und Verschwörungen satanistischer Ketzer entsprach hingegen eher den Ängsten der Obrigkeit – auch der weltlichen. Es war quasi ein Angebot an die Bevölkerung, vermeintliche Schadenzauberer und sonstige unbeliebte Zeitgenossen als Hexen zu denunzieren. In den erhaltenen Prozessakten finden sich praktisch keine Hinweise auf Empfängnisverhütung, die, wäre die These richtig, von zentraler Bedeutung sein müsste.

Das zentrale Dokument der Hexenverfolgung ist laut „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ der zurecht berüchtigte „Hexenhammer“ Malleus Maleficarum des Dominkanerpaters und Inquistors Heinrich Kramer (lat. Henricus Institoris). Kramer war geradezu besessen von Sexualängsten und selbst gemessen an den Verhältnissen seiner Zeit und seiner Kirche zum Erbrechen frauenfeindlich. Nicht zufällig dominieren im zweiten Teil des Werkes die magischen Praktiken, die sich auf den Geschlechtsverkehr und die männliche Impotenz und Kastrationsängste (Hexen können laut Kramer den Penis wegzaubern!) beziehen. Kramer beschreibt im zweiten Teil auch, wie man sich vor Schadenszauber (maleficium) schützen und diesen aufheben könne. Aus dieser Sexualangst heraus konzentriert er sich auf die „Hexenhebammen“. Heinsohn und Steiger leiten daraus ab, dass das maleficium weitgehend gleichbedeutend mit dem Einsatz empfängnisverhütender und abtreibender Mittel gewesen wäre. Dabei erinnern sie auch an die traditionelle Ablehnung von Verhütungsmitteln und Abtreibung der römisch-katholischen Kirche.
Der „Hexenhammer“ war ein Bestseller seiner Zeit und erlebte 29 Auflagen. Kramer lieferte zwar einen „Leitfaden“ für Hexenjäger und legitimierte die Hexenverfolgungen, sein Werk fand jedoch offiziell weder kirchliche noch weltliche Anerkennung. Die päpstliche Bulle Summis desiderantes affectibus von 1484, die kirchenoffizielle Ermächtigung zur allgemeinen Hexenverfolgung, stellte Kramer völlig unberechtigt seinem Buch voran. Außerdem nannte er den renommierten Theologen und Inquisitor Jakob Sprenger fälschlicherweise als Coautor. Kramer war also Hochstapler.
Die Verfolgungen verbreiteten sich offensichtlich weitgehend unabhängig von diesem Werk, denn auch nach der Reformation dauerte die Verfolgung in den nun protestantischen Gebieten an. Kramer interpretiert den Canon episcopi, der den Glauben an Hexenflüge in Gefolgschaft heidnischer Göttinnen als Einbildung teuflischen Ursprungs und Häresie verurteilte, so um, dass jeder, der nicht an Hexen glaubte, zum Häretiker wurde. Allerdings schlug Kramer eine Brücke zwischen Antijudaismus / Antisemitismus und Hexenverfolgung, indem er den Begriff des Hexensabbats prägte.

Die Bedeutung der „weisen Frauen“

Es stimmt auch nicht, dass das Wissen um Verhütung nur den „weisen Frauen“ vorbehalten gewesen wäre. Rummel weißt darauf hin, dass die alten Verhütungspraktiken den mittelalterlichen Gelehrten vertraut waren, auf deren Schriften sich Heinsohn und Steiger auch vorzugsweise beziehen. Abtreibungsmittel wiederum waren, zumindest zum Zweck der Austreibung einer toten Leibesfrucht, so konventionell, dass sie in populären medizinischen Handbüchern der Frühen Neuzeit nachgelesen werden konnten. Volksmagie und Volksmedizin wurden von Wendern, Heilern, Barbieren, Wahrsagern, Hellsehern usw. weitergetragen, die parallel zu den als Hexen verfolgten Menschen relativ unbehelligt blieben.
Die Hexenverfolgungen haben daher weder die volkstümliche Magie noch das ländliche Hebammenwesen ausgelöscht. Wenn das Wissen um Verhütungsmittel tatsächlich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit geriet, wofür einiges spricht, dann wird das andere Ursachen gehabt haben.
Obwohl Hebammen und Heilerinnen, wie übrigens auch Köchinnen, berufsbedingt besonders leicht in den Verdacht des Schadenzaubers und der Giftmischerei geraten konnten, stellen sie in den Prozessakten keine besonders herausragende Verfolgtengruppe dar. Folgt man Rummel, dann wurden in der Regel nicht die ,weisen‘ Frauen als Hexen verfolgt, sondern diese wie auch ihre männlichen Kollegen standen durchweg auf Seiten der Hexereigeschädigten, indem sie ihnen neben Rezepten zur Heilung von Hexereischäden auch probate Hinweise zur Entdeckung derer lieferten, die als vermeintliche Verursacher der angerichteten Hexereien in Frage kamen.

Die mutmaßliche Bedeutung des Buches für Heinsohns Karriere

Heinsohn war nach „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ das Enfant terrible der Hexenforschung. (Später avancierte er unter Fachhistorikern zur Persona non grata. Den letzten Schritt so vieler „Crackpots“ und „wissenschaftlicher Außenseiter“, den zur Lachnummer, konnte er bislang vermeiden.)

Das Buch „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ weist, obwohl am Teil A auch Steiger als Coautor mitwirkte, einige typische Merkmale auf, die sich auch in seinen mir bekannten späteren Büchern und Aufsätzen wiederfinden.

  • anachronistisches bzw. gegenwartszentriertes Denken: dem frühneuzeitlichen Staat standen zum Beispiel gar nicht die Machtmittel zur Verfügung, um eine Verfolgung ohne ständige Mithilfe der Bevölkerung durchzusetzen. Es gab z. B. noch keine Polizei im modernen Sinne. Ob die heute so wichtige Anti-Verhütungshaltung der katholischen Kirche schon in der frühen Neuzeit von nennenswerter Bedeutung war, ist zweifelhaft; als Impuls zur Hexenverfolgung spielte das heute umstrittene Thema Verhütungsverbot wahrscheinlich keine Rolle.
  • Ökonomismus: Heinsohn geht offensichtlich davon aus, dass sowohl politische wie
    persönliche Entscheidungen stets nach wirtschaftlichem Kalkül getroffen würden: Frauen bekämen nur dann freiwillig Kinder, wenn es für sie materiell auszahlt.
  • Damit verbunden: die demographische Sichtweise – das politische Handeln, die Gesetzgebung und die religiösen Normen würden ganz wesentlich von bevölkerungspolitischen Erwägungen bestimmt.
  • Selektiver Umgang mit Quellen: Das fällt besonders beim Rückgriff auf Prozessaufzeichnung auf: was nicht zur Theorie passt, fällt unter den Tisch.
  • Aggressivität und Polemik. Heinsohn ist, für einen Autor von Sachbüchern mit wissenschaftlichem Anspruch, ungewöhnlich angriffslustig.
  • Anknüpfen an populäre Klischees. Z. B.: Selbst die unzutreffende Vorstellung, dass hundertausende, wenn nicht Millionen Frauen als Hexen verbrannt worden wären, finden sich in der Erstauflage des Buches. (Später ruderten die Verfasser zurück.) Auch die Rolle der Inquisition bei der Hexenverfolgung wird überschätzt.

Aber auch:

  • Mut zu unkonventionellen Ideen: „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ stellt die weit verbreitete Vorstellung einer extrem hohen Geburtenrate und einer horrenden Kindersterblichkeit im Mittelalter infrage. (Wahrscheinlich zurecht.) Ein anderes Gebiet, auf dem Heinsohn zumindest wichtige Fragen stellt, ist das Quasi-Verbot der Genusssexualität etwa ab der Reformationszeit.

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Zwölf Jahre nach „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ erschien ein weiteres Buch, dieses Mal von Heinsohn allein verfasst, das für heidnisch und hexisch orientierte Menschen sehr relevant ist – allerdings in diesen Kreisen wenig und vor allem wenig positive Resonanz fand.

-> Weiter: Bronzezeit und Katastrophenzeit:
„Die Erschaffung der Götter: das Opfer als Ursprung der Religion“

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