Heil (2)
Das Boot (Silouhette im Abenddämmer, außen)
Ich wählte den Vergleich mit einem Boot, weil ein solches klare Grenzen hat. Je klarer der eigene Heilsbereich definiert ist, desto klarer lässt sich dessen Geschick lenken.
Was aber ist Heil? Glück, Erfolg, Gedeihen? Das kommt schon hin. Aber es ist niemals nur das eigene, individuelle. Heil betrifft vielmehr unsere Beziehungen: alle (nicht nur die sog. Liebes-…)! Mein Heil erwächst daraus, was ich mit anderen zu tun habe, wie ich mit denen umgehe, und die mit mir.
Nach meiner Erfahrung wie auch Beobachtung bildet sich in jeder Gruppe von Menschen (egal, ob es eine zielorientierte Projektgruppe, eine Lebensgemeinschaft oder nur eine sonstwie interagierender Interessensverband ist) nach einer Weile – je nachdem, wie viel und wie häufig die Beteiligten miteinander zu tun haben, in welchem begrenzten Bereich auch immer – eine Art Gruppengeist heraus, den ich gern „Gruppenseele“ nenne. In der Nornirs Ætt nennen wir eine solche Gruppenseele „Hamingja“, empfinden und behandeln zumindest die unsere als ein Wesen, eine Art unsichtbare (aber deutlich fühlbare Geist-) Person. Aber man braucht gar nicht diese bewusst intensive (germanische) Spielart bemühen: Jedes Team, jede Familie, jede Clique, jedes Ensemble kontinuierlich interagierender Personen hat seine eigene, mehr oder weniger spürbare Atmosphäre, deren Eigenschaften sich in solch einem Geist verdichten. Ob man das nun weiß, an sowas glaubt, oder sowas gar ignoriert. In den Fällen, wo man die Gruppenseele wirklich wahrzunehmen – und ernstzunehmen – bereit ist, wird es natürlich einfacher, damit umzugehen: darauf aufzupassen und zu achten. Das Heil der Nornirs-Ætt-Hamingja kommt nicht von ungefähr – die Personifizierung unserer Gruppenseele erlaubt uns einen konkreteren Umgang mit dem Gruppenheil, als das der Fall wäre bei lediglicher Wahrnehmung einer ungefähren „Atmosphäre“ oder „Stimmung“.
Glück, Erfolg, Gedeihen. Die Gesellschaft, in der wir alle leben (und die wir dadurch darstellen: wir sind sie), definiert diese Begriffe – und damit das Heil – als ausschließliche Einzelleistung von Individuen: Jeder sei „seines Glückes Schmied“. Unwidersprochen, erstmal – aber das Bild reicht nicht aus. In seiner Unvollständigkeit ignoriert es all unsere Verhältnisse und Beziehungen: es ignoriert den Menschen als Gemeinschaftswesen. Dementsprechendes Unglück, Unheil kommt raus.
Kürzlich las ich einen bitterbösen Spruch: „Ich war für die Selbstverwirklichung – bis ich Leute traf, die sich selbst verwirklicht hatten.“ Unsere Gesellschaft propagiert Freiheit wie keine andere. Aber Freiheit ohne Verbindlichkeiten anderen gegenüber läuft auf Einsamkeit hinaus: wofür die allermeisten Menschen nicht geschaffen sind. Aufgeklärte spüren die Zwickmühle: Freiheit oder Bindung? So schwarzweiß, derart digital („null“ oder „eins“ – der eine Wert schließt immer den anderen aus) lässt sich das unmöglich entscheiden: zumindest nicht, wenn Heil daraus entstehen soll. Wir alle brauchen Freiheit(en) und Bindung(en) gleichermaßen.
Nein, ich vermag auch nicht von der „guten alten“ Großfamilie zu träumen, wo einer den andern deckelt, wo womöglich die schlimmste Hackordnung herrschte: Was nützt mir der Halt der konkreten Bezüge, wenn ich überhaupt nix darf inmitten all der rigiden Sozialkontrolle? Selbst einer typischen neurotischen Kleinfamilie entstammend, probte ich, derlei fliehend, jahrzehntelang in hohem Maße das Gegenteil: suchte die persönliche Freiheit, die größtmögliche Unverbindlichkeit, fand das alles, und legte mir dabei auch eine Menge (sozial nicht immer kompatibler) Marotten zu – die heute z.T. sogar meinen Charakter prägen. Die Sehnsucht nach der „Gruppe“ aber, einer Gemeinschaft: wurde umso bohrender, je weniger ich (auch über schlechte Erfahrungen, die ich vielfältig machte) an das Gelingen mehrköpfigen Miteinanders zu glauben – und darin zu investieren – vermochte. Doch diese jahrelangen Zeiten, die ich als harte erlebte, erwiesen sich später als gute Lehre!
Irgendwann beginnt man Werte zu entwickeln (umso freier, wie man all die unbeabsichtigt verinnerlichten zu reflektieren vermag: ein selbstkritischer Willensakt). Jener Mitbewohner, der mir einst die gemeinsame Wohnung verschaffte, mich aber kurz darauf um tausend Mark betrog (kaltgrinsend: obwohl ich ihm goldene Brücken baute, da ohne Gesichtsverlust herauszukommen in gemeinsamer Einigung – die er aber ablehnte): den erklärte ich irgendwann für mich als „schädlich für mein Heil“, und schob ihn aus meinem frischempfundenen „Heilsbereich“. Damals (neun Jahre isses her) brauchte ich dazu noch ein bissi albernen Hokuspokus: Hexerei mit Tierfell, Kerze und Kristall… Tinnef, aber er wirkte (natürlich). Heute genügte mir die Entscheidung, das Bewusstsein, der Entschluss. Konkrete Magie wirkt immer – unabhängig von Requisiten oder „Hokuspokus“.
Als ich mich vor sechs Jahren jäh konfrontiert fand mit einem halbkriminellen Wohnungsspekulanten, der sich (als mein plötzlich neuer Vermieter) notlos anschickte, mir in meiner damaligen Wohnung das Bleiben zur Hölle zu machen, erkannte ich: Diesen unappetitlichen Idioten (der sich z.B. erdreistet hatte, mir das Wasser abzusperren, als ich beim Scheißen auf dem Klo war – bloß, um mich rauszuekeln) hatten mir die Götter nur als vorübergehende Aufgabe geschickt – als Trainingsobjekt sozusagen. Diesen Arsch, der da geifernd vor meiner Tür stand und mir drohte – den würde ich nur kurze Zeit in meinem Leben kennen. Ich zog aus der Bude aus, aber gewann den Rechtsstreit mit einigen guten Kröten plus (die erstrittene Abfindung wärmte meine Tasche auf heimeligste) – obwohl mein Anwalt nicht grad der beste gewesen war. Zornmotivierte Gründe hatte ich dennoch gehabt, die schimmelige Bruchbude bei meinem Auszug rituell zu verfluchen – kurz darauf hörte ich, dass der Spekulant „pleite gegangen“ war, und obendrein drei Finger verloren bei irgendeiner „Motorsäge-Aktion“… Zufall? Jou, warum nicht. Allein mein Mitleid hielt sich in Grenzen (ich bin, insbesondere wenn man mir grob unfair kommt, ein nachtragender Mensch).
Das Boot nimmt Fahrt auf
Von den Mitgliedern meiner Gruppe erkrankte einer an Krebs, einer an einer lebensgefährlich-chronischen Autoimmunkrankheit, ein anderer bekam jäh einen (knapp überlebten) Herzinfarkt, einer kam für Jahre weder beruflich noch privat auf einen grünen Zweig, einer wurde die Ehe zum Gefängnis, einer anderen die Beziehung zu eng (ohne Aussicht auf Änderung). Des einen Familie ging auseinander, der andern ließ die ihre keinen Atem mehr, ein weiterer verlor die seine, einige finden erst gar keine Lebens- oder Liebespartner, die andern immer die falschen, ich selber wähne meine Liebste gegangen immer wieder, obwohl ich ihr die neue Liebe gönne wie sie meine Affären zu verdauen sucht – im Stress sind wir alle, und die mit „gesicherter Existenz“ sind in schwindender Minderheit… Doch wir alle halten zusammen, haben und pflegen allesamt (zunehmende) Verbindlichkeiten. Wir stritten, wir kämpften, wir lachten und weinten, arbeiteten und ächzten, tranken, tanzten und liebten – und tun das alles nach wie vor. Wir verloren einen Rabenclan, an dem wir zehn Jahre lang selbstverständlich mitgearbeitet und Teil gehabt hatten, etliche der unsrigen verloren Lieben und (schlimmer vielleicht noch) jahrelange Freunde… Was hatten wir nicht alles – trotzdem oder deswegen – vorgehabt, doch unterm Strich nichts geerntet als…
Heil. Sein Himmel ist Verbundenheitsgefühl, seine Erde Vertrauen.
Gemeinschaftlich entwickelte, jahrelang erprobte (und veränderlichen Erfordernissen dynamisch angepasste) Regeln des Miteinander schufen die Voraussetzungen für das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Nornirs Ætt – aber die ist nur eine kleine Gruppe, und die Heilsbereiche der Einzelnen gehen natürlich darüber hinaus (in Form von Familien, Freundeskreisen usw.).
Und natürlich geht jeder mit seinem persönlichen Heilsbereich ein bisschen anders um, gemäß dessen, dass man ja auch individuell unterschiedliche Vorstellungen darüber, Erwartungen und Ansprüche daran hat. Keiner aus der Ætt kann oder wird mir daher vorschreiben, wie ich meinen persönlichen Heilsbereich zu definieren habe oder wen ich da in welcher Form hineinlasse, dran teilhaben lasse oder sonst wie dazuzähle – solange es nicht wiederum das Gruppenheil tangiert, was ich so treibe. Schließlich stärkt es das Gruppenheil, je besser es ihren Mitgliedern geht: das Heil potenziert sich. Insofern lässt es die andern auch nicht kalt, wenn es Einzelnen schlecht geht: es betrifft alle – und da unterscheidet sich unser Modell ganz konkret von den Sitten der größeren Gesellschaft: die mangels Heilsverständnis für so ein gegenseitiges Auffangen dann entweder Familienbande (im Sinne leiblicher Verwandtschaft) braucht – oder das Hilfsbedürfnis halt aufs mehr oder minder äußerlich-oberflächliche „Funktionieren“ von Personen beschränkt. (Den Rest regelt dann der Psychiater, auf Gedeih und Verderb. Gewagtes Kunststück allerdings: Leuten gegenüber, die sich – unabhängig von ihren jeweiligen Problemen – gesellschaftlich eh schon auf ihre Funktion reduziert fühlen müssen: weil sie es sind.)
Was unser Gruppenheil wiederum von dem einer reinen Freundschaftsbindung (denn auch Freunde helfen ja einander…) unterscheidet, ist die klardefinierte, bewusst angewandte Systematik: also deutlich mehr als ein Schulterkloppen, und einem lauen Spruch a la „…und jetzt fang dich aber mal wieder“. Das Bewusstsein fürs gemeinschaftliche Heil ist stark – und ggf. nicht abhängig von privater Sympathie (obwohl solche natürlich aus den Ergebnissen erwächst, oder sich verstärkt).
Wie weit weg die andern auch immer grad sein mögen, und egal wo es mich gerade herumwürfelt: ganz allein bin ich nie. Bin immer Teil eines konkreten größeren Ganzen.
Die Regeln unserer Gruppe gelten freilich nur für diese, und innerhalb dieser. Nach Regeln lebt aber jeder Mensch – wie (und woher) bewusst oder unbewusst verinnerlicht, und in welchem widersprüchlichen Ausdrucks- und Wirkungskonglomerat auch immer.
Und wo immer eine (wie auch immer geartete) Gemeinschaft sich nicht eigene Regeln schafft, folgt sie bereits vorhandenen: meist eine zufällige Mischung dessen, was die jeweiligen Beteiligten so mitbringen… und je weniger oder unklarer das untereinander kommuniziert wird, desto mehr Zusammenstöße gibt´s: allzu oft als persönliche Animositäten missverstanden – die´s zwar immer auch gibt. Aber auf dieser Ebene lässt sich das Problem nicht lösen!
Ob ein Boot fahrtüchtig ist, misst sich nämlich nicht daran, ob oder inwieweit die Insassen sich gerade leiden können (wiewohl das zwar eine Rolle spielt, wie z.B. auch der Fahrtwind oder der Seegang…). Bei Segelriss, Mast- oder Ruderbruch ist es aber wenig hilfreich, private Sympathiefragen zu diskutieren. Da muss man schon erkennen, wo´s strukturell hapert, und auf die Sachebene gehen, um Probleme zu beheben. Was ist bei deiner Gruppe / Familie / sonstigen Gemeinschaft der Mast, das Segel, das Ruder? Welche Bedeutung haben diese „Teile“, und wie ist ihre funktionale Beziehung zueinander? Das ist „Struktur“: die von Gruppierungen zu erkennen, Voraussetzung, daran zu arbeiten. Wohlgemerkt: Die Frage lautet, was ist der Mast und das Ruder – nicht etwa: wer bedient es! (Das spielt zwar ggf. auch ein Röllchen, ist aber eine kategorisch andere Frage!) Inwieweit sind sich die „Insassen“ dieses oder jenes Haufens überhaupt einig, in was für einer Art Boot sie hocken? Auch wohin das ggf. fahren soll, lässt sich erst danach klären.
Zu fernen Gestaden… (ein offener Plot)/
Was packen wir hinein in unser Boot? Geht es ums Vorwärtskommen (gemeinschaftlich wie persönlich), oder auf Räubereifahrt? In germanischem Verständnis hängt auch Gruppenheil ab von individueller Ehre – die ich, um Assoziationen zu pathetischem Hohlgebläse zu vermeiden, hier mal lieber als Ehrbarkeit (der Einzelnen) bezeichne. Und die wiederum hängt ab von Wertinhalten. Hier scheiden sich die Geister – und das ist auch nötig. Ich kann kein Heil mit jemandem haben, der z.B. Menschen in „Rassen“ einteilt (was Abwertungen immer nach sich zieht: und sei es „nur“ in der Praxis via biologistisch beliebig begründbarer Ausschlüsse) und / oder Inhalte und Formen seiner persönlichen Religion (und damit auch die anderer) für genetisch oder sonst wie biologisch bedingt hält. Und wenn so jemand zehnmal die gleichen Götternamen verwendet wie ich (alles schon mal vorgekommen…). Da beschwören wir dennoch vollkommen unterschiedliche Kräfte herauf: die sich im Fall dieses Werte-Beispiels diametral und unvereinbar gegenüberstehen. Rassismus ist keine politische Meinung, sondern ein Verbrechen. Ja: Mein germanischer Ehrbegriff ist mit den Menschenrechten verheiratet – deren historische Jugendlichkeit ihrer Attraktivität keinerlei Abbruch tut (zumal sie weit ältere Ideen und Werte aufgreifen: allein ihre umfassende Bündelung ist jung – ihr Universalitätsanspruch aber lediglich konsequent)… Außerdem war es eine Liebesheirat. Ein Bund fürs Leben, und darüber hinaus. Diese Braut wird also verteidigt: bei der Ehr´! Jenseits von ihr gibt´s kein Heil – auch wenn das meine noch etwas weiter greift. Aber ohne sie geht halt gar nix. Von Menschen für Menschen erschaffen, steht sie im Einklang mit der Musik und dem Atem der Götter, insbesondere Mutter Nerthus, die lieber Regen als Blut trinkt.
Die Fahrt unseres Bootes aber hat erst begonnen. Hier nur als kleines Beispiel für Gedanken und Bemühungen ums große Thema. Fragen des menschlichen Miteinanders, insbesondere das von Gruppierungen aller Art, nehmen unserer Tage an Wichtigkeit zu: gerade angesichts realer wie auch empfundener Weltlage. Dem Unheil der Zeit etwas Heiles entgegenhalten – das freilich immer wieder neu geschaffen werden muss, umsichtig und sorgsam. Es ist nicht unbedingt einfach. Wer nicht hinabgezogen werden will in den Mahlstrom erodierender Werte zweifelhaften Wertes, braucht haltbare Bindungen: deren Überleben aber wird abhängen von der Souveränität und Praktikabilität ihrer Wertinhalte – und die hängen ab von der Integrität derjenigen Menschen, die sie vertreten. Frei und gleichberechtigt Organisierte haben den längeren Atem. Die höhere Ehre sowieso.
Abspann
Nach dem – und beim (denn die Geschichte geht ja weiter: ist ja gar kein Film, den wir hier drehen…!) – vorsichtigen Wiederauffüllen des Begriffs „Heil“ mit ehrbaren Inhalten bleibt mir ein Anliegen – verbunden mit entsprechender Empfehlung, die ich mir hiermit erlaube – dieses alte, von allzu unheilem Gebrüll noch arg wundgeriebene Wort lieber zu flüstern. Noch besser, es zu leben. Beides aber, damit es heilen kann. Dort findet es nämlich heim. Es? Wir. Alle.
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