Ein Buch, das eine Lücke füllt – Birgit Neger: Moderne Hexen und Wicca
Birgit Neger
Moderne Hexen und Wicca
Aufzeichnungen über eine magische Lebenswelt von heute
2009, 208 Seiten, Böhlau Verlag, Wien,
ISBN-10: 3205783506
ISBN-13: 9783205783503
Über die Autorin:
Birgit Neger wurde 1977 in Leoben/Steiermark geboren. Sie studierte Geschichte, Ur- und Frühgeschichte sowie Germanistik an der Universität Wien. Nach langjährigem Auslandsaufenthalt in Spanien lebt sie heute in Wien, wo sie als Gymnasiallehrerin arbeitet. Daneben Doktoratsstudium am Wiener Institut für Geschichte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Neuheidentums- und Esoterikforschung, Rezeption der altgermanischen Religions-, Kulturgeschichte und Runologie.
Über das Buch:
Das Bild der Hexen wird von Populärmythen geprägt. Das gilt nicht nur für die historischen „Hexen“, die in der frühen Neuzeit verfolgt wurden, sondern auch für „moderne“ Hexen. Sehr viele Artikel, Bücher, Sendungen oder Internetbeiträge über Hexen beruhen auf diesen populären Mythen, auf nicht hinterfragten Klischees und oft auf Vorurteilen. Die Populärmythen sind nicht statisch: In den letzten Jahren wandelte sich der Begriff „Hexe“ im europäischen Kontext massiv.
Das moderne Hexentum und Wicca sind zahlenmäßig relativ kleine Phänomene, vor allem im Vergleich beispielsweise zur großen Zahl buddhistisch inspirierter Esoteriker. Dennoch dringen Ideen der neuen Hexen an ein deutlich breiteres Publikum, das davon manches aufgreift, ohne sich dieser Einflüsse allzu bewusst zu sein. Wicca-Einflüsse finden sich sogar in Fernsehserien wie „Charmed“ und selbst die „Kommerz-Esoterik“ greift, in verzerrter und verflachter Form, auf Gedankengut der modernen Hexen zurück.
Birgit Neger hat sich den neuen Hexen und Wiccas, was nicht ganz dasselbe ist, Österreichs zugewandt, und ging bei ihrer Untersuchung nach der Methode der „erweiterten teilnehmenden Beobachtung“ vor. Das heißt, sie war nicht nur als Beobachterin dabei, sondern beteiligte sich aktiv an Treffen und Ritualen.
Das Buch beginnt mit den notwendigen Begriffsklärungen, u. A.: „Was ist eine neue Hexe? Was ist Wicca?“. Danach geht es auf die Frage ein, wieso die wissenschaftliche Forschung, zumindest im deutschen Sprachraum, so zurückhaltend gegenüber den „modernen Hexen“ ist, was besonders im Kontrast zur intensiven historisch orientierten Hexenforschung auffällt. In diesem Zusammenhang geht die Verfasserin auf auf die populären Opfermythen ein: Angeblich sollen neun Millionen Menschen, meist Frauen, den europäischen Hexenverfolgungen anheim gefallen sein, während die seriöse historische Hexenforschung von zwischen 30.000 und vielleicht 60.000 Hexenhinrichtungen ausgeht. Sie stellt klar, dass dieser zeitweilig unter modernen Hexen und Wiccas gern geglaubte Opfermythos nicht stimmt, und dass auch die Vorstellungen von den „jahrtausendealten ungebrochenen Hexentraditionen“ oder die Idee, während der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung seien systematisch „weise Frauen“ durch die Männer der Kirche ausgerottet worden, nicht stichhaltig sind. (Interessanterweise kommt sie zu dem Ergebnis, dass diese immer noch durch die populäre Hexenliteratur geisternden Opfermythen von heutigen Hexen und Wiccas überwiegend skeptisch gesehen und kaum noch ernst genommen werden.)
Anschließend folgt knapper Abriss über die Geschichte des „Modernen“ Hexentums und der Wicca in Mitteleuropa und Großbritannien, worin sie besonders auf Gerald Gardner, dem Gründer des „Wicca-Kultes“ eingeht.
Birgit Negers Darstellung der Kennzeichen und Vorstellungen von Wicca und „modernem“ Hexentum ist angenehm knapp und sachlich – darin unterschiedet sich ihr Buch von vielen Sachbüchern, die sich zum Beispiel lang und breit über Details des Jahreskreises, der Ritualgestaltung, der Hexenregeln oder der Göttinenvorstellung auslassen. Dennoch erfahren die Leser, dank ihres Wissens aus „erster Hand“, vieles, was selbst Hexenliteratur-Kennern neu sein dürfte. Eine ausführliche Schilderung eines Lammas-Rituals, an dem die Verfasserin teilnahm, rundet dieses Kapitel ab.
Die weitere Teile des Buches widmen sich den Hexen und Wicca Österreichs und beruhen vor allem auf der eigenen Forschungsarbeit der Verfasserin. Für manche Leser dürfte es überraschend sein, wie viele „Hexen-Aktivitäten“ es vor allem in Wien gibt, über die kleinen Coven, Stammtische und Vereine hinaus: Zum Beispiel gibt es auf dem Bürgerfernsehkanal „Okto“ das Magazin „Hagazussa“, das seit 2006 eine regelmäßige Sendung für die Hexen-Community ausrichtet und auf „Radio Orange“ die Sendung „Witches on Air“. Im Internet sind die österreichischen Hexen auch sehr aktiv, wobei es gerade hier schwierig ist, das östereichische Internet-Hexentum vom erheblich größerem deutschen „Hexen-Cyberspace“ abzugrenzen.
Folgt man den Aussagen der interviewten Hexen und Wiccas und den Beobachtungen der Verfasserin, dann ist das österreichische Hexentum pragmatisch und unfanatisch. Nicht überraschend ist, dass die Vorstellung einer beseelten Natur und die Verwendung magischer Rituale ebenso weit verbreitet ist, wie eine starke Skepsis gegenüber dem Christentum und vor allem gegenüber der katholischen Kirche. Anders als es manche Mediendarstellungen nahe legen, sind die Hexen und Wiccas Österreichs unauffällig lebende Frauen (und Männer).
Der „Anhang“ mit auf Fragebögen und Interviews beruhende Porträts österreichischer Hexen und Wiccas dürfte für viele Leser der vielleicht interessanteste Teil des Buches sein.
Das Buch beruht auf Birgit Negers Diplomarbeit „Die beiden Seiten des Zaunes. Zur Genese des Modernen Hexentums und Wicca unter besonderer Berücksichtigung Österreichs“. „Moderne Hexen und Wicca“ ist, obwohl es keine besonderen Vorkenntnisse erfordert und – was leider bei wissenschaftlichen Büchern keine Selbstverständlichkeit ist – in einen gut lesbaren Stil verfasst wurde, kein weiteres populäres „Hexenbuch“, sondern ein seriöses und durchaus anspruchsvolles Fachbuch.
Meiner Ansicht nach füllt „Moderne Hexen und Wicca“ eine breite Lücke, die zumindest im deutschen Sprachraum bei diesem Thema klafft. Während es im englischen Sprachraum zahlreiche Arbeiten über moderne Hexen und Wiccas gibt, gibt es hierzulande nur wenige Bücher zu diesem Thema, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen können.
Pionierarbeit leistete der Religionswissenschaftler Jörg Wichmann 1984 mit seinem Buch „Wicca – Die magische Kunst der Hexen – Geschichten, Mythen, Rituale“, in dem er nachwies, dass Wicca tatsächlich eine Religion ist. In neuerer Zeit machte der Ethnologe und Religionswissenschaftler Oliver Ohanecian mit seinem 2005 erschienenen Buch: „Wer Hexe ist bestimme ich – Zur Konstruktion von Wirklichkeit im Wicca-Kult “ von sich reden, einer sorgfältig recherchierten Arbeit, die auf der Philosophie des radikalen Konstruktivismus beruht. Auch aufgrund dieses Ansatzes kommt Ohanecian zu Schlüssen, die Wiccas und neue Hexen, die sein Buch lasen, vorsichtig formuliert, befremdeten – und zwar nicht nur, weil diese Schlüsse unbequem sind.
Gisela Graichens 1986 erstmals erschienenes und 1999 in einer erweiterten Neuauflage herausgebrachtes Buch „Die neuen Hexen“ ist hingegen eine eher journalistische Arbeit. Damit, dass Gisela Graichen Hexen und Neuheiden beiderlei Geschlechts in Interviews zu Wort kommen ließ, trug sie meiner Ansicht nach sehr zum Abbau von Vorurteilen bei. Ihre Pionierarbeit ist nicht hoch genug einzuschätzen. Sehr viele Bücher und Artikel über neue Hexen und neues Heidentum werden meiner bescheidenen Ansicht nach nämlich von Menschen geschrieben, die niemals einer lebendigen modernen Hexe auf „freier Wildbahn“ begegnet sind.
Das gilt leider auch für wissenschaftliche Arbeiten: sie behandeln das Thema ausschließlich aus der „Außensicht“.
Daneben gibt es Bücher von Hexen über Hexen bzw. von Wiccas über Wiccas, die aus der Binnenperspektive geschrieben sind. Sie haben in der Regel keinen wissenschaftlichen Anspruch, sind meistens selbstreferenziell, oft gnadenlos subjektiv, und nicht selten zirkelschlüssig. (Wo der Radikale Konstruktivist Ohanecian recht hat, hat er recht. Ich vermute, dass die meisten Bücher, die Hexen über Hexen schreiben, zurecht im Esoterik-Regal zwischen „Das Universum im Kaffeesatz“ und angeblich gechannelter Botschaften unsichtbarer UFO-Besatzungen stehen.)
Die Methode der „erweiterter teilnehmenden Beobachtung“, die Birgit Neger anwendete, kommt im deutschen Sprachraum noch recht selten zur Anwendung, anders als im anglo-amerikanischen Sprachraum, wo sie sich unter Sozialwissenschaftlern seit langen bewährt hat. Der Vorteil ist, dass sie so zu Einsichten kommt, die einem Außenstehenden verborgen bleiben. Allerdings bedeutet „erweiterte teilnehmende Beobachtung“ auch ein ständiges Lavieren zwischen Nähe (Teilnahme) und Distanz (Beobachtung). Da ihr,soweit ich es beurteilen kann, dieser heikle Ritt auf dem Zaun gut gelungen ist, füllt „Moderne Hexen und Wicca“ sowohl eine Lücke zwischen „Innen“ und „Aussensicht“ wie die zwischen populärer Darstellung und sozialwissenschaftlicher Facharbeit.
Martin Marheinecke
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