Denkfalle Religionsbegriff
Heute (Sonntag, 26. April 2009) ist sie endlich vorbei, die ideologiegeladene Schlammschlacht über eine – rational gesehen – schulpolitische Marginalie in Berlin: Der „Volksentscheid über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion“.
Tatsächlich geht es bei der Schlammschlacht gar nicht um ein Schulfach, denn sonst wäre die Sache medial so verpufft, wie z. B. die skandalösen Einschränkungen des naturwissenschaftlichen Unterrichts in vielen Bundesländern oder die Einführung des Zeitraffer-Abiturs. Es geht „Pro Reli“ um nichts weniger als den (gefühlten) Untergang des christliche Abendlandes, die (gefühlte) Kapitulation vor den (gefühlten) Atheisten von „Pro Ethik“.
Dem Medienecho zum Trotz war das Interesse der Berliner mau – 29,2 Prozent Beteiligung. 48,5 Prozent der Teilnehmer sind für „Pro Reli“ und 51,3 Prozent für „Pro Ethik“. Von dem Quorum von 611.000 Stimmen wurden nur 57 Prozent erreicht.
Ein Kommentar auf dem jüdischen Portal Hagalil umreisst das grundsätzliche Problem hinter dem „schmutzigen Wahlkampf“ von „Pro Reli“: Zum bevorstehenden Volksentscheid “Ethik/Religion”
Dass der Volksentscheid endlich gelaufen ist, macht den Artikel meiner Ansicht sogar noch lesenswerter, denn der Volksentscheid ist nur der Aufhänger für grundsätzliche Überlegungen:
Ein Grunddilemma zieht sich bis heute durch die gesamte Auseinandersetzung, weil sie auf der Annahme beruht, das Fach Ethik sei vorrangig atheistisch, das Fach Religion hingegen am religiösen Glaubensbekenntnis orientiert. Dieses Dilemma gründet in den Tiefen der europäischen Geistesgeschichte, die nicht erst seit der philosophischen Aufklärung das ständige Ringen um Vorherrschaft zwischen den Akteuren weltlicher und religiöser Macht kennt. Es betrifft die Spaltung des eigenen Denkens in Glauben und Vernunft. Beide Elemente menschlicher Existenz haben sich jedoch über Jahrhunderte als anthropologische Konstanten bewährt. Sobald das eine das andere zu sehr bekämpfte, gerieten erst die Menschen und dann die Gesellschaften, in denen sie lebten, ins Taumeln.
Die Denkfalle liege in einer Engführung von „Religion““ auf „Glauben“, die nur im säkularisierten und christlich geprägten Europa in dieser Form erfolgt sei. Der „europäische“ Religionsbegriff beschriebe nicht einmal die Phänomene Islam und Judentum völlig richtig: Judentum und Islam als religiöse Zivilisationen zu erfassen, zu denen ein gleichermaßen das Leben der Gemeinschaft und der Einzelperson regelndes traditionelles Gesetzeswerk gehöre, wäre weitaus zutreffender.
Der Religionsbegriff lasse z.B. die rituelle Praxis als wichtiges Kriterium für eine islamische oder jüdische Lebensgestaltung im Alltag eher unberücksichtigt. Für die asiatischen spirituellen Weltanschuungen, die keinen Glauben an einen Gott oder den Glauben an mehrere Götter kennen, tauge der (christlich geprägte) Religionsbegriff nicht.
Kennern der „Nornirs Ætt“ (oder wenigstens ihrer Website) dürfte diese Einschätzung des Religionsbregriffes vertraut vorkommen: Die „alten Germanen“ hatten keine Religion, Müssen wir dran glauben?.
Diejenigen, die es theoretisch am meisten betrifft, die Schüler, zucken meistens bei diesem Religions-/Ethik-Streit uninteressiert die Achseln. Denn die „Probleme“ der „etablierten Kreise“ in Politik, Medien und Kirchen sind offensichtlich keine Probleme von heute.
Die Berliner Schlammschlacht ist nur ein winziger Teil eines Kampfes um die Deutungshoheit, die sowohl den etablierten Parteien wie den etablierten Kirchen wegen der „Abstimmung mit den Füßen“ zunehmend abhanden kommt.
Die Vorstellung, nur Kirchen (und gnädigerweise auch andere Religionsgruppen, wenn sie sich gefälligst am christlichen Religionsverständnis und dem Modell der christlichen Kirchen ausrichten), stünde es zu, Werte zu vermitteln, entspricht ganz offensichtlich nicht der gesellschaftlichen Realität im 21. Jahrhundert – und kollidiert nebenbei auch noch mit den Grundaussagen der Verfassung.
Was wir erleben ist das Entstehen einer gesellschaftlichen Strömung, deren einigende Idee die Ablehnung des 21. Jahrhunderts ist.
Und dabei ist ihnen die gesellschaftliche Realität eben so schnuppe wie das Grundgesetz. Es wäre illusorisch, anzunehmen, dass diese Strömung, deren Vertreter glauben, das 21. Jahrhundert würde schon weggehen, wenn man nur genügend Gesetze dagegen erlässt, sich auf den religiösen Bereich beschränken würde: Der Kampf der Kulturen (Dabei geht es um Internetzensur – die Denkstrukturen sind die selben.)