Humangenetik könnte Lücken der Geschichtsschreibung schließen
Ein altes Problem der Geschichtswissenschaft sind Lücken in der Geschichtsschreibung. Da die Geschichte ist schon immer die Geschichte der Sieger gewesen ist, sind zuverlässige Kenntnisse über einen verleumdeten oder verleugneten Unterlegenen besonders rar. Hier kann unter Umständen die Humangenetik Lücken der Geschichtsschreibung füllen.
Das einst mächtige, uralte Handelsimperium der Phönizier wurde gerade zum Musterbeispiel einer nach ihrem Untergang verleumdeten Zivilisation. Es gibt keine schriftlichen Quellen, die ihre Geschichte aus eigener Sicht erzählen könnten. Griechische und israelitische Quellen sind spärlich und unzuverlässig, und die Angaben der siegreichen Römer über die mächtigsten Stadtgründung der Phönizier, Karthago, sind gnadenlos parteiisch.
Wegen der kläglichen Quellenlage streiten sich die Forscher über das wirkliche Ausmaß und den Charakter der ehemaligen phönizischen Expansion: Hatte das Händlervolk vielleicht nur ein paar verstreute Außenposten als Anlaufstellen errichtet, von denen nur wenige schließlich groß geworden waren, ohne dass eine Besiedlungsstrategie dahintergesteckt hatte? Oder gründete die Phönikier Siedlungskolonien?
Dieser Frage ging Chris Tayler-Smith vom US-amerikanischen Wellcome Trust Sanger Institute in Cambridge (Mass.) und zahlreiche forschende Mitstreiter nach. Sie glauben sie mit den neuen Mitteln der Genanalyse beantworten zu können. Die Forscher untersuchten zu diesem Zweck das Erbgut von heute im Mittelmeerraum lebenden Männern nach Spuren etwaiger phönizischer Vorväter – und mussten daher erst einmal die knifflige Frage beantworten, wie alte phönizische Genspuren eigentlich aussehen.
Tatsächlich trägt die heutige männliche Bevölkerung speziell in alten Phöniziersiedlungsgebieten häufiger als anderswo typische Gensignaturvarianten der Haplogruppe J2. Ganz offenbar brachten die Phönizier also einst nicht nur Handelswaren mit in neu besiedelte Gebiete.
Ohne zumindest einige belegte historische Anhaltspunkte zu haben, bleiben aber die zur Kompensation der fehlenden historischen Quellen gedachten Genanalysen ohne Beweiskraft. Dennoch könnte die Genanalyse mehr Licht in die Folgen militärischer Expansionen wie des Asienzugs von Alexander dem Großen, des Mongolensturms oder der Wikingerzüge bringen.
Vollständiger Artikel auf „Wissenschaft-online“: Das Erbe der Verdrängten