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6. Germanische Schamanen?

Es gibt Historiker und Religionswissenschaftler – und zwar nicht die schlechtesten – die unumwunden die Vorstellung, es gäbe einen „germanischen Schamanismus“ als „Gewäsch“ bezeichnen. Was nicht nur eine Reaktion angesichts der wild wuchernden Behauptungen der „Germanen-Esoterik“, vor allem ariosophischer Spielart, ist, denn es gibt tatsächlich keine Beweise dafür, dass es Schamanismus im engeren Sinne bei germanischen Völkern gegeben hätte.

Innerhalb der indoeuropäischen bzw. indogermanischen Sprach- und Völkerfamilie nehmen die germanischen Völker eine Sonderrolle ein. Die germanischen Sprachen haben den höchsten Anteil nicht-indogermanischer Wörter in dieser Sprachfamilie. (Damit sind die Germanen, im Sprachgebrauch des 19. Jahrhundert, die am wenigsten „arischen“ Indogermanen. Wobei auch der Ausdruck „indogermanisch“ statt des außerhalb des deutschen Sprachraum üblichen „indoeuropäisch“ dem „Germanenkomplex“ geschuldet sein mag: eine „verspätete Nation“ sehnt sich nach den ganz alten, ganz großen, ganz edlen und ganz reinen Urahnen.)

Eine ähnliche Besonderheit wie in der Sprache gibt es in der Religion und Mythologie der Germanen: Wie in den Mythen anderen indoeuropäischen Völkern gibt es ein sozusagen „adliges“, patriarchalisches Göttergeschlecht, die Asen (altnordisch Æsir „die Pfähle“, urgerm. *ansuz) und ein eher „bodenständiges“ Göttergeschlecht, die Wanen (altnordisch: Vanir), die anfangs verfeindet waren. Während aber in z. B. im Pantheon der Griechen das ältere Göttergeschlecht, die Titanen, von ihren Nachkommen und Nachfolgern, den Olympiern, besiegt wurden, endete der Götterkrieg zwischen den Asen und den „älteren“ Wanen mit einem Friedensschluss und dem Austausch von Geiseln. Wanen und Asen werden gleichermaßen verehrt, einige Götter gelten, wie die Göttin Freyja und ihr Gattenbruder Freyr, zugleich als Asen und Wanen. Als drittes Göttergeschlecht kann man die Riesen, die Thursen, sehen, die in der germanischen Mythologie übrigens nicht zwangsläufig groß sein müssen – sie gelten, unter anderem, als die Verkörperung der Naturkräfte. Einige Thursen sind Feinde der Götter, andere ihnen wohlgesonnen. Es gibt Ehen und Blutsbrüderschaften zwischen Göttern und Riesen.
Dass sich in der Mythologie die Vermischung indoeuropäischer Einwanderer mit der alteingessenen Bevölkerung widerspiegelt, ist plausibel, aber nicht nachgewiesen. Es gibt jedenfalls nicht nur Parallelen zwischen germanischen und anderen indoeuropäischen Göttern, z. B. denen der Griechen, sondern auch solche zwischen germanischen und finnischen bzw. samischen Göttern: Hora-galles bzw. Tiermes und der finnische Donnergott Ukko entsprichen dem nordgermanischen Thor, Väralde-olmai Frey, Biegga-galles als Windgott, Njörd. Schon das Beispiel Thor zeigt, dass man sich vor der Vorstellung, alle Asen seien „Indogermanen“, während die Wanen „Einheimische“ gewesen sein, hüten sollte. Unklar ist auch, wer von wem welche Götter „übernommen“ hat – wenn überhaupt.

Im Süden des germanischen Sprachraums ist wegen der relativ frühen und drastischen Christianisierung die Quellenlage extrem dürftig. Skandinavien und vor allem Island ist mit schriftlichen Quellen reicher gesegnet. Dennoch kann von einer guten Quellenlage keine Rede sein – die isländischen Sagas sind beispielsweise eher romanhaft nacherzählte Überlieferungen als Chroniken. Hinzu kommt, dass die Lieder-Edda, die Prosa-Edda, aber auch andere Skalden- und Prosatexte erst nach der Christianisierung aufgeschrieben wurden. Die Berichte von Missionaren und Gelehrten des Mittelalters über Mythen, Sagen und spirituelle Praktiken der „heidnischen Nordländer“ sind durchweg sehr stark durch die „christliche Brille“ gesehen. Heute ist es nicht mehr möglich, eine „rein heidnische“ Mythologie aus der kulturellen Melange zu destillieren.
Unterweltreisen, wie sie z. B. aus der griechischen Mythologie bekannt sind, und Anderswelt-Erlebnisse, wie bei den Kelten, finden sich in der germanischen Mythologie, wobei selbstverständlich davon auszugehen ist, dass es neben dem nachgewiesenen kulturellen auch einen mythologischen Austausch gab. Mit aller Vorsicht lässt sich dennoch sagen, dass der Kosmologie der Germanen ein schamanisches Weltbild zugrunde liegt, das sich so bei ihren westlichen und südlichen Nachbarn nicht finden lässt. Typisch schamanisch ist beispielsweise der Weltenbaum Yggdrasil, eine Esche oder Eibe, die neun Welten miteinander verbindet.
Yggdrasill
Der Weltenbaum Yggdrasil. Aus einer isländischen Handschrift des 17. Jahrhunderts

Der Gott Odin hat unübersehbar Züge, die schamanisch anmuten. Er hängte sich selbst am Weltenbaum Yggdrasil auf, um die Kenntnis der Runen zu erlangen, was stark an eine Schamaneninitiation erinnert. Ein Hinweis auf die schamanische Natur Odins könnte sein achtbeiniger Hengst Sleipnir sein. Achtbeinige Pferde findet man auch in Sibirien und bei den in Zentralindien lebenden Muria, und zwar immer in Beziehung zum ekstatischen Erleben, was Mircea Eliade dazu brachte, das achtbeinige Pferd für das Schamanenpferd par excellence zu halten. Dass Odin auf Sleipnir durch alle Welten reiten kann, spricht für diese Annahme. Wie ein Schamane hat Odin auch seine Helfertiere, die beiden Raben Hugin und Munin, und die beiden Wölfe Geri und Freki. Nicht zuletzt beherrscht Odin Seiðr – was man mit „Hexerei“, „Magie“ oder schlicht „Zauberei“ übersetzen kann.
Ein recht seltsamer Gott – jedenfalls für ein indoeuropäisches Pantheon – ist Loki (oder Loptr). Als Blutsbruder Odins hat er einiges mit diesem Gemeinsam, z. B. die Fähigkeit zum Gestaltwandel und zur Zauberei, und trägt, zufällig oder nicht, eine germanische Form des Namens des keltischen Gottes Lugus (Lug, Lugh), der in mancher Hinsicht Odin sehr ähnlich ist. Anderseits ist Loki ein Trickster-Gott, wie es ihn in dieser Form vor allem bei schamanischen Kulturen gibt: Loki ist ambivalent, er kann Schlechtes wie auch Gutes bewirken, letzteres manchmal gegen seine ursprüngliche Absicht. Diese Ambivalenz ist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass die Loki-Erzählungen in der eddischen Dichtung tatsächlich heidnischen Ursprungs sind – in den ansonsten ähnlichen Teufelssagen ist der Teufel eindeutig böse und immer glaubensstarken Christen, die seine Schwächen kennen, unterlegen. Vermutlich wurden die negativen Züge Lokis nach der Christianisierung betont, so dass der in den Edden eher sinistere Loki ursprünglich weder „gut“ noch „böse“ ist. Loki wird wegen seiner List und seines Einfallsreichtums von anderen Göttern herangezogen, um aussichtslose Probleme zu bewältigen, aber nicht selten ist er das Problem. Er kann sich in alle erdenklichen Lebensformen verwandeln. Da er ausgesprochen lüstern ist, und auch sein Geschlecht umwandeln kann, ist ihm (ihr) keine sexuelle Erfahrung fremd. Außerdem ist der erfinderische Loki in gewisser Hinsicht Kulturheros. Damit erinnert Loki nicht nur sehr an Trickster-Götter wie Kojote (amerikanischer Nordwesten), Rabe (in Ostsibirien, Alaska, Nord-Kanada, Grönland), Itomi bei den Lakota oder Kokopele bei den Hopi, sondern zeigt auch viele typisch schamanische Züge.

Seiðr (auch Seidh genannt) ist in mancher Hinsicht der heikelste Teil der ohnehin heiklen Frage nach dem germanischen Schamanismus.
Vor allen in Ásatrú-Kreisen, aber auch unter Neoschamanen, hat sich die aus den Quellen heraus nicht haltbare Annahme festgesetzt, Seiðr bzw. Seidh sei eine spezielle „weibliche“ Form der Zauberei, die stark schamanische Züge hätte, und die eng mit der Praxis der Seherinnen (Völvas) zusammenhänge. Seidh wird von den „männlichen“ Formen der Zauberei abgegrenzt, etwa dem Runenzauber oder dem Galdr (Zaubergesang).
Diese weit verbreitet Ansicht ist falsch! Seiðr ist im Altnordischen der Oberbegriff für jede Form der Magie bzw. der Zauberei, also einschließlich auch des Runenzaubers.

Schamanismus wäre sehr wohl eine Form von Seiðr, aber Seiðr ist auf keinen Fall gleichbedeutend mit schamanischen Praktiken.
Wie sich, entgegen des altnordischen Sprachgebrauchs, dieses Missverständnis einschleichen könnte, legt Kurt Oertel in seinem Aufsatz „Seidhr und Völventum“ dar. Oertel zufolge beruht es auf der von Snorri überlieferten Fassung der Ynglinga-Saga. In ihr wird erwähnt, dass Freyja Seiðr zu den Asen brachte, und dass Odin durch diese Zauberkunst in die Zukunft schauen könne.
Das Missverständnis, Seiðr sei eine spezielle „weibliche“ und deshalb unter Männer verpönte Form der Zauberei gewesen, und diese hinge mit der Wahrsagegabe der Völvas zusammen, beruht auf einer nicht gerade zwingenden Interpretation folgenden Absatzes aus dem siebten Kapitel der Yngelinga-Saga (zitiert nach Kurt Oertel):

„Odin praktizierte und beherrschte die Kunst, die am mächtigsten ist, und Magie („seiðr“) genannt wird, und dadurch kannte er das Schicksal der Menschen und die Gefahren der Zukunft und ebenso, wie man einem Menschen den Tod oder Unglück oder eine Krankheit bringt und wie man die Menschen um Kraft und Verstand bringt und sie jemand anderem gibt. Aber mit dieser Weisheit war so große Schande verbunden, dass die Männer meinten, sie könnten sie nicht ohne Schande ausüben und darum brachte man diese Kunst den Priesterinnen bei.“

Dieses Zitat ist laut Oertel der einzige(!) Beleg dafür, dass Seiðr mit Wahrsagekunst verbunden ist und von „Priesterinnen“ ausgeübt würde. Hingegen werden in Rudolf Simeks an sich zuverlässigen „Lexikon der germanischen Mythologie“ die Praktiken der Seherinnen als Seiðr bezeichnet, der sich nur unwesentlich vom andernorts erwähnten Schadenzauber unterscheide. (Ich teile Kurt Oertels Misstrauen hinsichtlich der Zuverlässigkeit Snorris, dessen Ansichten über Magie Simek direkt übernimmt.)
Damit sind auch alle zum Teil wild wuchernden Spekulationen hinfällig, die Seiðr etwa mit Homosexualität und Geschlechterwechsel, und dies wiederum mit entsprechenden Praktiken einiger schamanischer Kulturen in Zusammenhang bringen. „Seiðmaðr“ (Zauberer) kommt in den Texten jedenfalls so oft vor wie „seiðkona“ (Zauberin).

Wenn auch Seiðr nicht gleichbedeutend mit „weiblicher Magie“ ist, und es unklar ist ob dazu auch schamanische Praktiken gehörten, lässt sich mit gutem Grund vermuten, dass „germanische Zauberei“ eher den entsprechenden Praktiken heutiger schamanischer Stammesgesellschaften entsprach, als etwas denen der „hermetischen Magie“. Hermetische Magie entstand in der Spätantike und entwickelte sich in der Renaissancezeit zu dem, was man sich in unserer Kultur gemeinhin unter „Magie“ vorstellt: Komplizierte, genau einzuhaltende Rituale, die Geister, Engel, Dämonen oder sonstigen übernatürliche Wesenheiten beschwören und dem Willen des Magiers unterwerfen sollen.
In den beiden Merseburger Zaubersprüchen werden die Götter zwar um Beistand gebeten, aber der eigentliche Kern des Zaubers besteht daran, eindringlich zu beschreiben, was geschehen soll. Man könnte sagen: sie helfen, die Vorstellungskraft des Zaubernden zu fokussieren, zu visualisieren. Wahrscheinlich bestand Zauberei bei den Germanen aus quasi handwerklichen, pragmatisch-ergebnisorientierten Praktiken.
Ein (konstruiertes) Beispiel: ein hermetischer Ritualmagier würde, um einen Schutzkreis zu ziehen, z. B. die Wächter der vier Elemente genau in den den korrespondierenden Himmelrichtungen anrufen und den Kreis mittels komplizierten und genau beachteter geometrischer Verfahren konstruieren, während ein „Naturzauberer“ oder ein Schamane sich einfach den schützenden Kreis intensiv vorstellt, während er ihn abschreitet. Eventuelles Brimborium ist Beiwerk fürs Publikum, denn jemandem beim Visualisieren zuzusehen ist eher langweilig.

In den klassischen schamanischen Gesellschaften hat der Schamane oder die Schamanin eine geachtete, manchmal auch gefürchtete, aber immer respektierte Stellung inne. Damit lässt sich immerhin sagen, dass die altisländische Gesellschaft in der Übergangszeit zum Christentum keine schamanische Gesellschaft gewesen sein kann: Wer Seiðr praktizierte, war zumindest in den (allerdings erst nach der Christianisierung aufgeschriebenen) Sagas, regelmäßig ein des Schadenzaubers verdächtigter Außenseiter. Die Angst vor den Zauberkräften der schamanischen „Finnen“ (meist wohl Sami) deutet nicht darauf hin, dass die Skalden des Mittelalters schamanischen Praktiken als etwas normales ansahen, was bei einer lebendigen nordischen Schamanentradion der Fall gewesen sein müsste. Ob das allein auf christliche Einflüsse zurückging oder schon lange vorher so war, ist mangels Quellen offen.
Die Völva (wörtlich: Stabträgerin) oder spákona (Seherin, wörtlich: Spähfrau), die normalerweise wohl keine Zauberin war, wurde hingegen hoch geachtet. Und zwar schon, gemäß römischen Quellen, bei den rechtsrheinischen Germanen ihrer Zeit genau so wie weitaus später und weiter nördlich in der Wikingerzeit. Wie sah es bei diesen Frauen mit den schamanischen Praktiken aus?
Über die Praktiken einer Völva gibt es nur sehr wenige Quellen. Die aufschlussreichste und ob ihres nüchternen, detailreichen Stils glaubwürdigste Schilderung stammt aus der in Grönland handelnden Saga von Erich dem Roten (Eiríks saga rauða). Eine Völva namens Thorbjörg wird während einer Hungersnot um Rat gebeten. Thorbjörg trägt einen reich verzierte, bodenlangen blauen Mantel und eine mit weißem Katzenfell gefütterte schwarze Lammfellmütze. Außerdem hält sie einen bronzebeschlagenen Stab, wie er auch in Gräbern gefunden wurde, und trägt einen ebenfalls archäologisch belegbaren Gürtel mit Zunderbüchse und einem Lederbeutel mit „Zaubermitteln“. Archäologisch belegt sind Lederbeutel, deren Inhalt durchaus dem der bekannten „Medizinbeuteln“ einiger indianischer Kulturen entspricht: Federn, Steine, Lederstücke, Knochen, Muscheln usw. .
Als Vorbereitung auf ihre Aufgabe isst sie mit ihrem Messinglöffel und ihrem Messer ohne Spitze die Herzen aller (Opfer-)Tiere, die vorhanden waren. Tags darauf lässt sie Frauen suchen, die ein Zauberlied mit Namen Vardiokur singen können – ein möglicher Hinweis darauf, dass die Völva nicht zugleich die Rolle einer Zauberin übernehmen konnte. Doch es wird nur eine Frau gefunden die das Lied kennt, die es von Ihrer Pflegemutter auf Island lernte. Da die Frau aber Christin ist, will sie zunächst das Lied nicht singen, kann aber vom Bauer überredet werden. Frauen bilden nun einen Kreis um die Völva, die auf dem Hochsitz, der normalerweise dem Hausherren vorbehalten ist, sitzt, und die Christin singt das Lied. Die Völva lobt den Gesang und sagt, die Geister hätten großen Gefallen an dem Lied gefunden. Sie sagt das Ende der Hungerzeit im kommenden Frühling voraus, und das die Christin Stammmutter eines angesehenen Geschlechts werden wird. Auch andere Fragen beantwortet sie – und alles trifft ein wie vorhergesagt.

Parallelen zu schamanischen Praktiken sind zwar vorhanden, aber ein entscheidendes Element des Schamanismus, nämlich die geistige Reise, fehlt in der Beschreibung. Ob die Völvas Trommel einsetzten, wie Schamanen der Sami, ist möglich, aber nicht bewiesen. In einigen Gräbern, in denen den Grabbeigaben nach zu urteilen Seherinnen bestattet waren, fand man Überreste von halluzinogenen Pflanzen, wie bittersüßer Nachtschatten oder Bilsenkraut.

Aus all dem ergibt sich das Fazit, dass es einzelnen schamanische Praktiken bei heidnischen Germanen gab, und ein Weltbild, das zumindest teilweise mit dem schamanischen Weltbild, wie es etwa aus Sibirien bekannt ist. übereinstimmte. Hingegen gab es unter den Germanen mit einiger Sicherheit keine schamanischen Kulturen im engeren Sinne.

Martin Marheinecke, August 2009

7. Literatur und Weblinks

3 Gedanken zu „6. Germanische Schamanen?

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