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5.Gibt es in Europa „echten“ Schamanismus?

Der kulturelle Hauptstrom Europas ist also nicht schamanistisch. Dennoch gibt es auch in Europa Kulturen, in der sich bis in die Neuzeit hinein Schamanismus, sogar solcher im „engeren Sinn“, hielt.
Die bekannteste dieser Kulturen ist die der Sami, auch als „Lappen“ bekannt.

Sami Schamane
Schamane der Sami mit seine großen „Zaubertrommel“ (meavrresgárri). Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert

Die Sami sprechen eine Sprache, die zur finno-ugrischen Sprachfamilie gehört. Ihr Schamanismus gilt als „Vorzeigebeleg“ für die diffusionistische Theorie der schamanische Kulturen. Die in Westsibiren lebenden „Urfinnen“ – Vorfahren sowohl der Sami, wie der Finnen und auch der Esten – hätten dem schamanischen Komplex demnach von den weiter östlich lebenden Jakuten übernommen. Danach konnte das spirituelle System sich über die Sprach-, Kultur- und „Rassen“-Grenzen hinweg verbreiten.
Es gibt aber auch die ältere Hypothese, dass der Schamanismus der Sami ein „Überbleibsel“ des in vor der Jungsteinzeit auch im übrigen europäischen Raum praktizierten Schamanismus sei. Weil die Sami auf der Kulturstufe des Hirtennomaden „stehenblieben“ wären, die „neolitische Revolution“ bei ihnen also nicht stattgefunden hätte, hätten sie auch die vor-ackerbaulichen Traditionen behalten. Ungeachtet dessen, dass diese Hypothese nicht frei von kultureller Arroganz ist, spricht wegen der Schamanismusspuren im „indoeuropäischen Teil“ Europas doch Einiges für sie. Die beiden Hypothesen schließen sich, näher betrachtet, keineswegs aus: Einerseits sind schamanische Kulturen im engeren Sinne durchweg Stammesgesellschaften, die auf das Wohlverhalten der Tiere angewiesen sind, und die in einer „gefährlichen Natur“ leben. Anderseits kann man die Sami mit Fug und Recht die westlichsten eurasischen Tundrabewohner nennen – oder überspitzt: die westlichsten Sibiriaken. Die ohnehin konstruierte Grenze zwischen „Europa“ und „Asien“ ist nirgendwo so willkürlich wie in Tundra und Taiga. Das Uralgebirge hat größtenteils Mittelgebirgscharakter und ist für Hirtennomaden kein Hindernis. Nur das Denken in „rassischen“ Kategorien – die Finno-Ugrier sind „weiß“, die Völker Ostsibiriens „mongolisch“ – verschleiert den offensichtlichen Zusammenhang.

Die sibirischen Finno-Ugrier, wie zum Beispiel die Komi, praktizieren bis in die Gegenwart hinein einen Schamanismus, der, wie ihre übrige Kultur, im Großen und Ganzen dem „ostsibirischen“ Muster entspricht.
Es gibt aber auch ein nicht-hirtennomadisches, nicht im „rauen Norden“ lebendes, eine finno-ugrische Sprache sprechendes Volk, in dem sich schamanisches Denken und heidnische Spiritualität bis in die Gegenwart sogar besser als bei der Sami gehalten haben: die „Wolgafinnisch“ sprechenden Mari, deren autonome Republik im Südosten des europäischen Teils Russlands liegt. Unter den Mari dürften die letzten „ursprünglichen Heiden“ Europas zu finden sein. Während andere von den Russen unterworfene Völker vergleichsweise schnell missioniert wurden, haben sich die Mari bis ins 19. Jahrhundert der Christianisierung widersetzt. Einige Angehörige der Mari, insbesondere viele Ost-Mari (Tschi-Mari, „Reine Mari“), pflegen bis heute eine traditionelle heidnische, naturbezogene Religion, die Mehrheit ist inzwischen allerdings russisch-orthodox, lutheranisch oder atheistisch.
Bei anderen finno-ugrischen Völkern Ost- und Mitteleuropas gibt es zwar Brauchtum mit schamanischen Elemente und zahlreiche Mythen und Märchen mit schamanischen Motiven, aber zumindest in historischer Zeit, ist kein Schamanismus nachweisbar. In Falle der Ungarn ließe sich auch nicht sagen, welche Traditionen „finno-ugrisch“ wären, und welche auf Turkvölker wie die Hunnen oder vielleicht auf Roma-Einflüsse zurückzuführen sind.

Es fällt auf, dass „europäische Völker“ mit in historischer Zeit nachweisbarem Schamanismus im engeren und weiteren Sinne fast durchweg nicht-indoeuropäische Sprachen sprechen. Neben den Finno-Ugriern finden sich schmanische Tradtionen vor allem bei Turkvölkern. Schamanische Elemente im weiteren Sinne findet man, wie erwähnt, auch bei den Roma.

Nach diesem kleinen Exkurs zurück zum Norden Europas. Der heutige Lebensraum der Sami ist, so ausgedehnt er gemessen an mitteleuropäischen Verhältnissen auch erscheint, nur ein Rest des einstigen Siedlungsgebietes. Bis weit ins Hochmittelalter lebten selbst in Mittelschweden noch Sami, bis unmittelbar nördlich von Dalarna, auch das Landesinnere Norwegens war Sami-Gebiet. Später wurden die Sami von den germanischen Skandinaviern vermutlich eher assimiliert als verdrängt – dass die „Lappen“ eine „eigene Rasse“ seien, im Klischee eher klein, schwarzhaarig und kummbeinig, war eine fixe Idee einiger Rassefanatiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Übrigens waren niemals alle Sami die „typischen“ Rentierhirten, schon da die meisten Sami in historischer Zeit „Waldlappen“ waren.

Der erste Bericht über die religiösen oder spirituellen Praktiken der Sami stammen aus einer norwegischen Chronik um 1100, in der schamanische Trommeln und Trance beschrieben sind. Allerdings dürften einige noch ältere Sagatexte über „finnische“ Zauberer auf samischen Schamanen zurückgehen, denn zwischen Sami und Finnen wurde in ihnen nicht unterschieden.
Ausführliche Berichte stammen von Missionaren der frühen Neuzeit, die die schamanischen Praktiken buchstäblich verteufelten.
Während in vorreformatorischer Zeit die „Lappenmision“ eher in einer pro-forma Christianisierung bestand, wurde sie ab dem17. Jahrhundert deutlich energischer betrieben. Das wird oft dem Glaubenseifer der schwedischen Lutheraner zugesprochen, aber auch die orthodoxe Kirche in Ostfinnland zog zu dieser Zeit bei ihrer „Lappenmission“ die Zügel an. Der Hauptgrund dürfte in der Machtpolitik zu suchen sein; beim sich durch das ganze 17. Jahrhundert ziehenden Konflikt zwischen Russland und Schweden, unter anderem um die Herrschaft über Finnland, wurde auch das bisher „vergessene Hinterland“ im Norden wichtiger.
Die teilweise brutale Missionierung hielt bis weit ins 18. Jahrhundert an. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich zumindest in Schweden ein aufgeklärterer Missionsstil durch. Zum Beispiel versuchte der Erweckungsprediger Lars Levi Laestadius um 1840, die ekstatische Tradition der Schamanen in seinen ohnehin charismatischen Gottesdienst zu integrieren. Damit machte er das Christentum für die Sami akzeptabler. Die kulturelle Überfremdung und Bevormundung hielt aber bis weit ins 20. Jahrhundert an.
Der Schamane oder Noaidi hatte bei den Sami dieselben Aufgaben wie sein sibirischer oder nordamerikanischer Berufskollege und reiste wie sie in Trance in andere Welten. Noaiden waren männlich, Frauen nach den Wechseljahren konnten aber ebenfalls schamanisch arbeiten.
Wie in Sibirien gibt es in der samischen Mythologie ein Drei-Ebenen-Weltbild, drei durch eine Weltensäule verbundene Welten, wobei die mittlere Ebene von den lebenden Menschen bewohnt wird. Zumindest von der Unterwelt ist bekannt, dass sie wiederum in drei Bereiche getrennt ist, von der eines, Jabaimo, von den verstorbenen Menschen bewohnt wird.
Wichtige samische Götter sind Tiermes, ein Donnergott, von den Missionaren als Sohn des Teufels dargestellt, Jabmaekka, die Herrscherin der Unterwelt, und der Fruchtbarkeitsgott Vearalden Olmai.
Wie in schamanischen Kulturen üblich hat ein Mensch drei Seelen oder Geistkörper: Eine geistige Seele, eine „Körperseele“ und die Namenseele bzw. Ahnenseele, die das Kind mit der Namensgebung erhält. Das Kind erhält einen Namen eines Ahnen, der seine Fähigkeiten aus der Unterwelt auf das Kind übertragen soll. Auch die Tiere haben mehrere Seelen.
Typisch für die samische Kultur ist der Joik, ein oft lautmalerischer Gesang, der auch magische Funktionen hat – die Magie der Sami ist, wie auch in anderen schamanischen Kulturen sehr stark musikalisch geprägt. Manche der Joiks erzählen von Personen, andere von von Tieren, vor allem Rentiere und Wölfe. Auch heilige Plätze in der Natur, Gefühle und Hoffnungen sind bekannte Themen des Joiks.
Heute ist die schamanische Tradition der Sami so gut wie ausgestorben.

Die südöstlichen Nachbarn der Sami sind die Finnen. Trotz kultureller und sprachlicher Verwandtschaft war das Verhältnis zwischen diesen Völkern nicht immer ungetrübt. In finnischen Sagen sind die im Norden lebenden Sami, die Bewohner der Nordlandes (Pohjola) oft unheimlich und gefährlich.
Vor der Christianisierung ab dem 12. Jahrhundert war auch die finnische Kultur schamanisch geprägt, die ältesten überlieferten finnischen Dichtungen sind Beschwörungen. Wie bei ihren nördlichen Nachbarn gibt es Gesänge mit magischer Funktion, wie überhaupt das mythologische Weltbild der heidnischen Finnen stark dem der Sami ähnelt. Es gibt, wie üblich, Oberwelt, Mittelwelt und Menschenwelt, verbunden durch eine Säule.
Typisch ist die große Bedeutung, die die Vögel in der finnischen Mythologie haben: Sie bringen dem Menschen bei seiner Geburt seine Seele und tragen sie beim Tod wieder weg. Um seine Seele im Schlaf zu schützen, musste man eine hölzerne Vogelfigur in seiner Nähe haben. Dieser Seelenvogel, Sielulintu genannt, verhindert, dass die Seele in den Träumen verloren geht. Die Seele ist also „mobil“, eine Voraussetzung für schamanische Reisen.
Der wichtigste Protagonist der dichterisch von Elias Lönnrot in der Kalevala zusammengefassten Sagen und Mythen ist der alte und weise Sänger Väinämöinen, der deutlich die Züge eines Schamanen hat.
Bekannte und wichtige finnische Götter sind: Ilmatar (auch Luonnotar) die Göttin der Lüfte, Erschafferin der Welt und Mutter von Väinämöinen. Der Himmelsgott ist Jumala (der Christengott wurde später ebenfalls so genannt), wobei es auch einen älteren Himmelsgott namens Kave gibt und auch Ukko, der Donnergott, oft als Hochgott und Himmelgott gilt. Kalma ist die Göttin des Todes, Lemminkäinen (auch Kauko) ist ein göttlicher Magier. Vellamo ist eine Meeres- und Sturmgöttin, Vedenemo die Göttin des Wassers. Wie bei den Sami sind die finnischen Götter ausgesprochene Naturgottheiten; einen „Götteradel“ wie etwa die olympischen Götter, gibt es allenfalls in Ansätzen.

Vor allem in der samischen, aber auch in anderen finno-ugrischen Kulturen, gab in historischer Zeit, vereinzelt sogar bis in die Gegenwart, echten Schamanismus. Da die Finno-Ugrier nach üblicher Einschätzung zum europäischen Kulturkreis gehören, kann die Frage, ob es „europäischen Schamanismus“ gibt, mit „ja“ beantwortet werden. Da „europäisch“ oft jedoch mit „indo-europäisch“ bzw. „indo-germanisch“ gleichgesetzt wird, und es, wie weiter oben geschildert, umstritten ist, ob es in diesen Kulturen überhaupt schamanische Elemente gibt, haben auch jene nicht völlig unrecht, die verneinen, dass es einen „Euroschamanismus“ gäbe.

6. Germanische Schamanen?

2 Gedanken zu „5.Gibt es in Europa „echten“ Schamanismus?

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