„Wyrd Sisters“ – Gedanken über die Nornen
„Die Fäden der Nornen sind länger, als mancher der Heutigen glaubt“.
(Die Singvøgel, „Sonnenrad-Song“.)
In diesem Aufsatz geht es unter anderem um die Nornen, das von ihnen geknüpfte „Urgesetz“, ein gefährliches Phantom namens „heroischer Pessimismus“ und die Weird Sisters aus Shakespeares Macbeth.
Die Nornen (altnordisch nornir) sind für uns von zentraler Bedeutung. Nicht zufällig nennt sich unsere Gemeinschaft „Nornirs Ætt“.
Kurz und einfach gesagt, sind die Nornen Personifikationen des Schicksals. Schicksalsfrauen und, im Falle der drei Nornen am Urdbrunnen, Schicksalsgöttinnen.
Ja, es gibt mehr Nornen als nur die berühmten Drei, die nach der Voluspa Urðr (Urd), Verðandi (Verdani) und Skuld heißen. Was bitteschön nicht, wie es so oft geschieht, mit „Vergangenheit“, Gegenwart“ und „Zukunft“ übersetzt werden sollte.
Das unterstellt nämlich ein lineares und deterministisches Zeitmodell, in dem „alles schon feststeht“ und verführt dazu, sich die damalige Kultur als von orakelgläubigem Fatalismus bestimmt vorzustellen. Was zu einer Kultur, in der aktives Handeln und persönlicher Ehrgeiz sehr geschätzt wurden, und die sowohl die parlamentarische Demokratie wie die Wikinger hervorbrachte, nicht wirklich passt. Pragmatischer Umgang mit „schlechten Vorzeichen“ ist geradezu typisch für altnordische Sagen: Helden ziehen ihr Vorhaben trotz „bösen Omen“ irgendwie durch, manchmal mit Erfolg. Ohne diese das Schicksal in die eigenen Hände nehmende Mentalität wäre Island, das Land, in dem Gletscher und Lava fließen, schwerlich besiedelt worden, und die altisländische Literatur wäre ungeschrieben geblieben.
Urd, altnordisch urðr, Althochdeutsch wurt, angelsächsisch wyrd, liegt die germanische Form *wurðiz zu Grunde. Es gehört zur indoeuropäischen Wurzel *uert für „drehen, wenden“ und ist eine Abstraktbildung von „werden“. Urðr bedeutet sinngemäß „Schicksal“ und heißt wörtlich das „Gewordene“, also „das, was ist“.
Verðandi ist Partizip Präsens, das “Werdende”, das „im Entstehen begriffene“, und Skuld ist sprachlich mit deutsch „sollen“ und „Schuld“ und englisch “shall“ verwandt. „Skuld“ steht für ein „Optativ”, betrachtet also das, was „herauskommen soll”, also die Konsequenz auf der Grundlage einer auf einer greifbaren Basis stehenden Entscheidung dessen, was man tut – denn diese Konsequenz ist das, was man dem schuldet, was ist und daraus entsteht – und auch was man will.
Mehr dazu in Svens Aufsatz „Die Nornen, die Zeit und ein Weltbild – oder zwei, oder drei…“ und bei Duke in „No future! Warum das germanische keine Zukunft hat.“
In der eddischen Literatur (also die beiden „Edda“ genannten Textsammlungen und Texten, die diesen Texten ähnlich sind und zur selben Zeit im gleichen Kulturkreis entstanden) werden außer den drei Frauen am Urdbrunnen an der Wurzel des Weltenbaums Yggdrasil noch weitere Nornen erwähnt. Besonders wichtig sind jene, die Müttern bei der Geburt beistehen.
In Fafnismál antworte der in zum Lindwurm gewordene gestaltwandlerische Zwerg Fafnir auf die Frage Sigurds:
„Welches sind die Nornen / die notlösend heißen / und Mütter mögen entbinden?“
„Verschiedenen Geschlechts / scheinen die Nornen mir,/ Und nicht eines Ursprungs. / Einige sind Asen, andere Alfen, / Die dritten Töchter Dwalins.“
(Übersetzung nach Karl Simrock, im Versmaß, daher stilistisch etwas gewunden.)
Also können Nornen Göttinnen, Alfen (Elfen) oder Zwerginnen sein. Es gibt sogar altnordische Dichtungen, in denen sterbliche Frauen Nornen sind.
Nornen sagen dem Kind seine Lebensdauer zu und erzeugen das persönliche Geschick des einzelnen Menschen. Es gibt gute und schlechte Nornen. Wer da an die guten und bösen Feen in Volksmärchen denkt, denkt, wie schon die Gebrüder Grimm feststellten, gar nicht mal so falsch.
Im Einzelfall gibt es keine klare und eindeutige Unterscheidung zwischen Nornen, Fylgjen, Hamingjen, Walküren und Dísir / Disen. Manche Volur (Wölwen, „weise Frauen“) und Spákonur (Seherinnen) gelten auch als Nornen.
Die drei Nornen am Urdbrunnen, wie sie in der Edda-Literatur beschrieben werden, weisen deutliche Parallelen zu den Moiren bzw. Parzen der antiken Literatur auf, und es gibt tatsächlich Vermutungen, die isländischen Dichter hätten auf die antiken Überlieferung zurück gegriffen, als sie die Nornen beschrieben. Gelehrte vom Range eines Snori Sturluson oder Saxo Grammaticus hätten die dazu notwendigen Kenntnisse antiker Mythen durchaus gehabt haben können, denn die Parzen wurden in fast allen früh- und hochmittelalterlichen Mythographien erwähnt. Allerdings ist das Motiv der Schicksalsfrauen in den indoeuropäischen Kulturen so weit verbreitet, dass ein „Mythenplagiat“ unwahrscheinlich ist.
Es gibt ältere, von der eddischen Dichtung unabhängige, Hinweise auf die Nornen. Ein besonders schönes Beispiel sind die drei Frauen, die in das rechte Panel von „Franks Casket“ eingraviert sind, einer reich verzierten kleinen angelsächsischen Truhe aus dem achten Jahrhundert. Nach Alfred Beckers Deutung (die ich für die bei weitem wahrscheinlichste halte) ist das eine Darstellung von drei Nornen.
Die Verehrung von drei Schicksalsfrauen war im germanischen Kulturraum offenbar weit verbreitet, darauf deutet zum Beispiel die Matronen-Verehrung im römerzeitlichen Rheinland hin.
Ein Unterschied zu den Moiren bzw. Parzen ist, dass die Nornen in der eddischen Überlieferung nicht den Lebensfaden / Schicksalsfaden spinnen, und gerade die „Spinnerinen des Schicksals“ blieben auch nach der Christianisierung sprichwörtlich. Bei einer reinen Übernahme des antiken Mythos wäre gerade dieses Merkmal sicherlich mit übernommen worden. In der Völuspá schneiden die Nornen (Runen-)Stäbe, legen das Los fest, bestimmen das Leben der Menschen und verkünden ihr „Urgesetz“.
Ørlog – das von den Nornen geknüpfte „Urgesetz“
Auch wenn sie nicht spinnen, weben beziehungsweise knüpfen sie etwas. Etwas, das Örlog oder Ørlǫg genannt wird – von „ór-“ „außer-, über-,“ (vgl. „ur-“ wie in „uralt“, „urlange“) und „lǫg“ „Gesetz“. Man kann das wörtlich als „Übergesetz“, „Urgesetz“ (wie ich oben), „Bestimmung“, negativ „Verhängnis“ oder, reichlich wage, als „Schicksal“ übersetzen.
„Ørlǫglausa“ -„schicksalslos“ werden Ask (Esche) und Embla (Ulme), die beiden aus Treibholz geschnitzten ersten Menschen in der Voluspa genannt, bis ihren drei Götter Leben gaben – Odin den Geist, Hönir die Sinne und Lodur das Blut.
Frigg, die als „oberste Asin“ weit wichtiger ist, als es die schon christlich-hochmittelalterlich geprägte Sichtweise Snorris nahelegt, der sie fast nur als Ehefrau Odins wahrnimmt, kennt „alles Ørlǫg“. Aber, wie es im Edda-Lied Lokasenna heißt, behält sie es für sich.
Ich betrachte Ørlǫg als Ausdruck für die Strukturen hinter und über der sichtbaren Welt, für das Gewebe der Existenz. Die „Naturgesetze“ gehören hierzu, aber auch etwas Metaphysisches, das ich „höhere Ethik“ nenne. (Der Begriff des „Karma“trifft es meines Erachtens nicht ganz – und so, wie „Karma“ in Esoteriker-Kreisen meistens missverstanden wird, überhaupt nicht.) Wir verinnerlichen sie durch Erziehung, durch Erfahrung und durch das Sich-Einfügen in ‚kosmische Gesetzmäßigkeiten‘, und selbst wer sie bewusst ablehnt, bestätigt sie durch diese Ablehnung. Sie ist keine ausgleichende Instanz und erst keine Gerechtigkeits-Automatik, aber eine Art metaphysisches Naturgesetz. Ein Mensch kann noch so sehr versuchen, selbst zum Gott zu werden: Er ist nun einmal keiner. Was ich für sehr, sehr beruhigend halte.
Aus der Sicht der Nornen passiert das, was passieren muss. Nicht etwa, weil es durch einen „göttlichen Plan“ oder eine „Vorsehung“ oder so ein Ding namens „die Zukunft” festgelegt wäre, sondern weil alles aus einem Kreislauf von Tat und Konsequenz heraus geschieht, auf der Basis dessen, was ist.
Gefährliche Phantome: der „germanische Schicksalsglauben“ und der „heroische Pessimismus“.
Nun legten die Germanen, glaubt man Tacitus, sehr großen Wert auf Weissagungen und Orakelsprüche. Zusammen mit dem, was neuzeitliche Gelehrte aus der gut 1000 Jahre später aufgeschriebenen eddischen Literatur zu erkennen glaubten, führte das zu der bei Lichte besehen ziemlich abwegigen Vorstellung, die heidnischen Germanen seien orakelgläubige Fatalisten gewesen.
Weniger absurd, aber folgenschwer, sind die Hypothesen über den „germanische Schicksalsglauben“ und den „heroische Pessimismus“.
„Germanischer Schicksalsglauben“?
Im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts wurden auch unter seriösen Forschern die Frage diskutiert, ob die Germanen so an „das Schicksal“ geglaubt hatten wie an ihre Götter.
Diese Spekulationen blieben leider nicht akademischer Natur, sondern wurden Teil der völkischen Germanenideologie – und schließlich fester Bestandteil der Weltanschauung der Nazis.
Völlig ideologisch waren solche Spekulationen allerdings nicht von Anfang an. Aus der Völuspá geht hervor, dass auch die Götter ein Schicksal haben, das sie nicht abwenden können und gegen das sie wie die Menschen machtlos sind. Der Begriff „Ragnarök“ – „Götterschicksal“ – für das „letzte Gefecht“ zwischen den Mächten der Ordnung (angeführt von Odin) und den Mächten des Chaos (angeführt von Odins Blutsbrüder Loki) – zeigt das deutlich.
Daraus folgerten einige Gelehrte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Umkehrschluss, dass es in der nordischen Mythologie eine personale Macht gäbe,die über den Göttern stünde. Was, nebenbei angemerkt, auch mit der damals weit verbreiteten Hypothese eines „Urmonotheismus“ zusammenhing.
Wer könnte aber dieser „Chef aller Götter“ sein? Da sich die Religionswissenschaftler damals auch an der (viele Christen und Sittenchristen irritierenden) „großen Muttergöttin“ abarbeiteten, lag es für manche Forscher nahe, dass es auch eine „Chefin“ sein könnte. Klare Favoritin war die „Mächtigste“ und älteste der drei Nornen, Urd.
Sie wussten: Urd bzw. Wyrd konnte sowohl als Abstrakta für „Schicksal“ als auch personifiziert für eine weibliche Schicksalsmacht, eben besagte Norne stehen. Daher vermuteten sie, dass Urd auf eine „Schicksalsgöttin“ aus „urgermanischer Zeit“ zurückginge, an eine „Große Göttin“, an die die Germanen auch religiös geglaubt hätten.
Ich halte diesen Schluss für absurd. An dieser Stelle erlaube ich mir etwas metaphysische Spekulation, allerdings auf solider Grundlage:
Bekanntermaßen kennt Odin das Schicksal der Götter und der Welt, und weiß, dass der Endkampf im Ragnarök mit der gegenseitigen Vernichtung der Kontrahenten endet, wobei ganz nebenbei auch noch die Erde entvölkert und weitgehend vernichtet wird. Trotzdem bereiten sich Odin und die Einherier in Walhall unverdrossen auf dieses letzte Gefecht vor, von dem alle wissen, dass es nicht zu gewinnen ist.
Nun folgt allerdings auf den Untergang ein Neuanfang, und zwar eine diesseitige erneuerte Erde mit einer neuen Menschheit und einer neuen Generation Götter, und nicht etwa, wie in der biblischen Apokalypse des Johannis, ein transzendentes „Reich Gottes“. Dass sich „Ordnung“ und „Chaos“ (nicht etwa „Gut“ und „Böse“!) gegenseitig neutralisieren, ermöglicht erst diesen Neuanfang.
Das germanische Denken kennt keine „Zukunft“, keinen linearen Zeitverlauf, kein in Stein gemeißeltes, unabänderliches, Schicksal. Verhindern lässt sich das letzte Gefecht zwar nicht, aber es lässt sich, ganz pragmatisch, noch etwas daran drehen: Die Startbedingungen für den Neuanfang sind einfach besser, wenn in der großen Schlacht nicht alles kaputt geht. Es geht darum, zu retten, was zu retten ist. Auch ganz irdisch-logisch gedacht ist das ein lohnendes Ziel.
„Heroischer Pessimismus“?
Übersieht man den Neuanfang nach dem „letzten Gefecht“, dann erscheint Odins Verhalten als völlig irrationale Verbindung aus Fatalismus und Aktionismus. Und viele der damaligen Forscher übersah genau diesen Neuanfang.
Vergisst man den Neuanfang, dann muss man ein anderes, irrationales, Motiv hinter dem vergeblichen Kampf der Götter gegen ihren Untergang sehen. Gern genommen wird als Motiv „die Ehre“, weil die tatsächlich (wie in Stammeskulturen üblich) bei den germanischen Völkern einen hohen Stellenwert hatte.
Scheinbar deuten Schilderungen aus den Heldenepen – das bekannteste Beispiel ist der Untergang der Nibelungen – und den isländischen Sagas in die selbe Richtung: in den germanischen Kulturen gäben Krieger in einer aussichtslosen Situation nicht etwa auf, sondern kämpften „der Ehre halber“ weiter bis kein Mann mehr stand.
Daraus leitete Hans Naumann als „typische germanische“ Grundhaltung den „heroischen Pessimismus“ ab. Nach seiner Ansicht ergibt sich der Germane nicht tatenlos seinem unabwendbaren Schicksal, sondern stemmt sich mit aller Macht dagegen und geht letztlich erfolglos, aber heldenhaft in den ihm vorbestimmten (nach irdischen Maßstäben sinnlosen) Tod.
Für die Nazis (Naumann war einer) waren sowohl die Idee eines „germanischen religiösen Schicksalsglaubens“ wie die daran anschließende eines „heroischen Pessimismus“ sehr attraktiv: sie ermöglichten es, zentrale Bestandteile ihrer Weltanschauung auf die „alten Germanen“ zu projizieren, etwa die ständig von Hitler beschworene „Vorrrsäähung“.
Die Idee des „heroischen Pessismus“ wurde, als es im Krieg nicht mehr so gut lief, für die Nazi-Propaganda sehr wertvoll. Sinnloses selbstmörderisches „Heldentum“ konnte, mit Hinweis auf die Ahnen, als „einzig ehrenhaft“ dargestellt werden.
Hermann Göring verglich zum Beispiel den Untergang der Burgunden im Nibelungenlied mit dem Untergang der 6. deutschen Armee in der Schlacht von Stalingrad, von dem man noch in 1000 Jahren „mit heiligem Schauer sprechen“ werde.
Wobei Reichsmarschall Göring allerdings entweder selbst nicht wusste oder darauf vertraute, dass es seine Hörer nicht wüssten, worum es bei der „Nibelungentreue“ wirklich ging.
In der Sage versprechen die Hunnen den (unterlegenen) Burgundern freien Abzug unter der Bedingung, ihren König und seine Brüder auszuliefern. Die Burgunder weigern sich, weil der Verlust der Heilsträger den Stamm die Identität gekostet und die Überlebenden zu heillosen, unglücksverfolgten Niemanden gemacht hätte. Sie zogen es vor, im Besitz des Heils zu sterben, anstatt ihre Heilsrepräsentanten zu verraten.
Nun glaubten Hitler, Himmler und andere Nazigrößen (Göring eher nicht wirklich) zwar daran, „Heilsträger“ zu sein, sie waren es aber nicht: denn die Burgunderkönige hatten sich tatsächlich dem Heil des Stammes als förderlich erwiesen. Was man von den ehrlosen Braunhemden mit ihren von vornherein asozialen und gemeinschaftsfeindlichen Umtrieben nicht behaupten kann. (Man kann Tyrannen, vor allem solche faschistischer Bauart, durchaus „Unheilsträger“ nennen.)
Hätte der „dicke Hermann“ tatsächlich so gedacht wie die „alten Germanen“, wäre er (spätestens) nach „Stalingrad“ von allen Ämtern zurückgetreten und hätte sich – ganz wörtlich zu nehmen – geopfert, und er hätte Hitler dringend empfohlen, das Selbe zu tun: Sie hatten offensichtlich das „Kriegsheil“ verloren.
Der sagenhafte dänische König Hadding z. B. weihe sich Odin und erhängte sich selbst, als er „heillos“ geworden war.
(Zum Begriff des „Heils“ im germanischen Sinne: „Heil“ und „Als die Sau noch Göttin war“, beides von Duke.)
Erst lange nach dem verdienten Untergang Nazideutschlands stellte es sich, bei eingehender Untersuchung der Quellen, heraus, dass es eine „urgermanische Schicksalsgöttin“ Urd / Wyrd nicht gegeben hatte. Folgt man Gerd Wolfgang Weber, dann war Wyrd sogar eine christliche Schöpfung, die wiederum vom christliche Verständnis der antiken Fortuna bestimmt war.
Im Angelsächsischen bezeichnete man in heidnischer Zeit mit wyrd die unbestimmte Erfahrung eines folgenschweren Geschehens, das man selbst nicht bewirkt hatte. Also ziemlich genau das, was wir im heutigem Sprachgebrauch „Schicksal“ nennen.
In christlicher Zeit stand wyrd dann überwiegend für ein Geschehen als Ausdruck des ununterbrochenen Wandlungsprozesses der Schöpfung nach dem göttlichen Heilsplan – einen Heilsplan, den es in germanischer Vorstellung schlicht nicht gab, und wohl auch gar nicht geben konnte.
Erst ab dem Hochmittelalter wurde Wyrd auch als Personifikation des Schicksals verwendet, wahrscheinlich als Allegorie, ganz analog zu Fortuna.
Selbst wenn es eine germanische „Glücksgöttin“ im Sinne der römischen Fortuna oder der altgriechischen Tyche gegeben hätte: Fortuna ist nach antiker Vorstellung eben keine über allen Göttern stehende Schicksalsmacht, sie ist auch ausdrücklich keine Moira oder Parze.
Wie steht es um die Norne Urd, die ja in der Prosa-Edda, die zwar erst im Hochmittelalter aufgeschrieben wurde, aber auf ältere Vorstellungen verweist, tatsächlich eine Personifikation des „Schicksals“ ist?
In der nordischen Literatur taucht ihr Name meist im Zusammenhang mit der Quelle Urðrbrunnr auf. Das wird oft als „Urdbrunnen“ oder „Quelle der Urd“ übersetzt.
Da aber die Quelle wesentlich häufiger als die Norne erwähnt wird, wird Urðrbrunnr wahrscheinlich „Quelle des Schicksals“ bedeuten. Die Norne und der Brunnen sind beide nach dem „Schicksal“ benannt, nicht der Brunnen nach der Norne.
Wie auch immer: es ist nichts mit der „Übergöttin“ Urd / Wyrd!
Noch etwas zu den „Wyrd Sisters“. Das ist nämlich kein Wortspiel!
Die „Weird Sisters“ sind die „drei Hexen“ in Shakespeares Drama „Macbeth“.
Die moderne englische Schreibweise weird kam erst zu Shakespeares Zeit auf. In dieser Zeit, um 1600, erhielt außerdem das Wort weird, das sich vom angelsächischen und altenglischen wyrd ableitet, die heutige Bedeutung. Wahrscheinlich lag es an den „Weird Sisters“ in Macbeth, dass weird im heutigen Englisch fast ausschließlich „unheimlich“ oder „seltsam“ bedeutet.
Shakespeares Hauptquelle für die „drei Hexen“ war der Abschnitt über „King Duncan“ in Raphael Holinsheds „History of Britain, The Chronicles of England, Scotland, and Ireland“ (1587).
Bei Holinshed treffen der künftige König Macbeth von Schottland und sein Begleiter Banquo
three women in strange and wild apparell, resembling creatures of elder world
die den Männer furchtbare Prophezeiungen zuriefen und anschließend nicht mehr zu sehen waren.
Holinshed schriebt:
(…) the common opinion was that these women were either the Weird Sisters, that is (…) the goddesses of destiny, or else some nymphs or fairies endued with knowledge of prophecy by their necromantical science(…)
„(…) die übliche Ansicht war, dass diese Frauen entweder die Weird Sisters waren, also (…) die Göttinnen des Schicksals, oder auch irgendwelche Nymphen oder Feen, die durch ihre nekromantische Wissenschaft über prophetische Kenntnisse verfügten, (…)“
Shakespeares „Weird Sisters“ sind Nornen!
Martin Marheinecke, 2012
Pingback: Gedanken zum 8. Mai - Asatru zum selber Denken - die Nornirs Ætt