Fremde alte Welten – Teil 2: Nordeuropa, wikingerzeitlich

18. Mai 2012 | Von | Kategorie: Kultur & Weltbild

(Teil 1: Griechenland, antik)

Ein Gespräch im Bürgerhaus Eidelstedt

Auf einen anderen Aspekt des Phänomens historischer Kulturen, die „exotischer“ sind, als ihre fiktiven Gegenstücke, stieß ich in einer anderen trauten Runde von Science-Fiction-Fans und -Schaffenden. Es war wieder am Abend nach einem Science Fiction-Con, in diesem Falle dem „4. Hamburger Zellaktivator-Con“. Wir saßen bei Rotwein an der ansonsten schon verwaisten Bar des Eidelstedter Bürgerhauses. Zu unserer Runde gehörte Uwe Anton, SF-Autor (unter anderem bei Perry Rhodan) und Übersetzer. Da mit Heiko Langhans ein weiterer Übersetzer anwesend war, drehte sich das Gespräch zeitweilig um, na klar, Übersetzungen. Uwe Anton hatte unter anderem die Romantrilogie „The Last Viking“ von Poul und Karen Anderson übersetzt (deutscher Titel – man ahnt es schon – „Der letzte Wikinger“). Ich kannte die Trilogie und fragte Uwe, wieso die Romane vom Ullstein-Verlag als „Fantasy“ vermarktet würden, denn die Andersons hielten sich genau an die Lebensgeschichte des Warägers und späteren Königs von Norwegen, Harald Hardrade. Sie hielten sich genauer an die bekannten historischen Tatsachen als die meisten historischen Romane, die ich kannte.
Uwe antwortete (darin unterstützt von Heiko), dass „The Last Viking“ von magischem Denken geprägt sei, bzw. dass die Protagonisten Magie praktizieren würden. Das sei ein Merkmal von Fantasy.
Allerdings entspricht die Schilderung der magischen Praktiken dem (mutmaßlichen) tatsächlichen Weltbild der damaligen Zeit. Im Umkehrschluss heiße das: Um frei von Fantasy-Elementen zu sein, dürfte ein historischer Roman um König Harald die Welt nicht so schildern, wie er selbst sie gesehen hätte!

Das frühe Mittelalter der Gegenwart

Obwohl sie uns zeitlich näher steht als die Welt der alten Griechen, ist die Welt der Nordeuropäer des frühen Mittelalters für uns nicht weniger fremdartig.
Es ist nichts Neues, dass die meisten historischen Romane die zur Zeit ihrer Entstehung moderne Vorstellungen in vergangenen Zeiten projizieren. Nach der begründeten Annahme, dass der Grad an Fremdartigkeit, den ein durchschnittlicher Leser bei einem Unterhaltungsstoff akzeptiert, eher gering ist, müsste ein sehr genau recherchierter und auch die sozialen und religiösen Verhältnisse seiner Handlungszeit wiedergebender Roman weniger erfolgreich sein, als ein Roman, in dem salopp gesprochen, kostümierte Menschen der unserer Gegenwart auftreten.
Tatsächlich gibt es einen Roman, der wie „Der letzte Wikinger“ in der ersten Hälfte des 11.Jahrhunderts handelt, ein Bestseller, der geradezu das Musterbeispiel eines auf das heutige Denken abgestimmten (pseudo-)historischen Romans ist: „Der Medicus“ von Noah Gordon.
Gordon lässt einen europäischen Heiler in Isfahan in der Schule des berühmten persisches Arztes Abu ʾAli Sina (Avicenna) studieren, um das vor-aufgeklärte christliche Europa mit der hochzivilisierten islamischen Welt des Mittelalters zu konfrontieren. Allerdings handelt der Roman in einer „mittelalterlichen“ Fantasiewelt, die mit dem realhistorischen 11. Jahrhundert nicht viel gemein hat. Der Roman enthält viele Anachronismen, z. B. gab es im damaligen England keine Hexenverfolgungen, es werden Länder bereist, die es erst viel später gab, wie Bulgarien oder die Türkei, und auch Gordons Beschreibung Isfahans ist anachronistisch. Außerdem bagatellisiert er die großen kulturellen Unterschiede zwischen Persern und Arabern. „Der Medicus“ bedient äußerst wirksam landläufige moderne Klischees, was neben der vermeintlich „anti-eurozentrischen“ Aussage (die ironischerweise selbst eurozentrisch ist) und der pseudo-dokumentatorischen Detailfülle entscheidend zum Erfolg des Romans beitrug.

Zurück zum „Letzten Wikinger“. Wobei „Wikinger“ ja einen „Beruf“ und nicht etwa eine Volkszugehörigkeit beschreibt: „die Wiking“ war eine „lange Seereise“. Auf „die Wiking gehen“ hieß so viel wie sich auf Handelsreise / Raubzug / Kriegsfahrt / Forschungsexpedition begeben – die Übergänge waren fließend. Ein „Wikinger“ war gewissermaßen (um es mit „Hägar dem Schrecklichen“ zu sagen) ein „Geschäftsreisender“. Nur aus sprachlicher Bequemlichkeit behalten wir diesen Begriff für die nordgermanische Gesamtbevölkerung des Frühmittelalters bei. Auch Begriffe wie „Normannen“ oder „Waräger“ sind nur bedingt brauchbar.

Darüber, was in den Köpfen der „Wikinger“ ablief, kann sehr viel weniger gesichert gesagt werden, als z. B. von den Griechen der klassischen Zeit. Das liegt daran, dass die schriftlichen Quellen spärlich und, wie die in Klöstern entstandene Chroniken, oft hochgradig tendenziös sind. Diese Ungewissheit führt zu allen möglichen Projektionen. Das eine Extrem sind die kulturfernen, brutalen, zivilisationsunfähigen, streitsüchtigen und rücksichtslosen Barbaren, das andere die opferbereiten, bis in den Tod loyalen, von der dekadenten städtischen Zivilisation unberührten, keinem mannhaften Kampf aus dem Wege gehenden nordischen Recken.
Wobei das negative Bild von den saufenden und raufenden barbarischen Plünderern und das positiv gemeinte von den urwüchsigen harten, aber gradlinigen nordischen „edlen Wilden“ im Grunde auf denselben Klischees beruht. So schief das Bild von „kulturzerstörenden Wikinger“ auch ist, es ist auch hoffnungslos übertrieben, die „Wikinger“ zu „Kulturbringern“ zu stilisieren, wie das z. B. schwedische Nationalromantiker und deutsche völkische Rassisten gerne taten und tun. Die ebenfalls etwas verkürzte, aber historisch berechtigte, Feststellung, dass die parlamentarische Demokratie eine Errungenschaft der „Wikinger“ ist, und das straffe Hierarchien zur Wikingerzeit schwerlich funktioniert hätten, erfreut sich (zumindest in Deutschland) keiner großen Anhängerschaft.
Eine wichtige Frage, nämlich die nach der Religion der germanischen Völker vor der Christianisierung, kann ich nur mit „die alten Germanen hatten keine Religion“ beantworten. Jedenfalls waren ihre spirituellen Vorstellungen und ihre Metaphysik weit von dem entfernt, was wir heute, nach dem Modell der christlichen Kirchen, gemeinhin „Religion“ nennen. So viel in Kürze: es gab keine heiligen Bücher, keine göttlichen Offenbarungen, die nur auserwählten Propheten (und sonst niemandem) zuteilwerden, keine „unfehlbaren“ Religionsführer, keinen Priesterstand (die Goden waren keine Priester im antiken, geschweige denn im christlichem Sinne), keine verbindliche Glaubensvorschriften. Was auch der Grund war, weshalb Jesus relativ mühelos in die Götterwelt vieler wikingerzeitlicher Nordeuropäer integriert werden konnte – ohne das die „Christusverehrer“ damit auch schon Christen geworden wären: Auf einen Gott mehr oder weniger kam es ihnen nicht an.

Odin auf Sleipnir - Nach einer Felszeichnung

Die Grenze zwischen „Heidentum“ und „Christentum“ war offensichtlich recht fließend. Noch im 11. Jahrhundert gab es Gussformen, mit denen je nach Bedarf christliche Kreuze oder Thorshämmer gegossen werden konnten. Bezeichnend ist die Annahme des Christentums durch den Isländischen Althing im Jahre 1000 – übrigens, was gern verschwiegen wird, auf Druck des norwegischen Königs Ólaf Tryggvason, der sich selbst für einen Christen hielt. Nach dem Althingbeschluss durften heidnische Götter zunächst weiter verehrt werden.

Die Missionierung folgte oft politischen Zwecken; das Volk wurde von der Kirchorganisation erfasst, die wiederum eine Machtbasis des sich zentralisierenden Königtums war. Als sich monarchistisch verfasste Staaten in Nordeuropa durchgesetzt hatten, endete die Wikingerzeit. Aber auch nachdem sich Königtum und Adel herausgebildet hatten, wurde der „Staat“ in Nordeuropa nicht etwa über ein räumliches Territorium definiert (etwa „Dänemark“), sondern über ein personales Verhältnis der Menschen zum Herrscher (in modernen Begriffen: „König der Dänen“ statt „König von Dänemark“). Deshalb zog der Tod eines „starken Königs“ nicht selten den Zerfall seines Reiches nach sich – Norwegen wurde z. B. mehrmals „geeint“ und zerfiel ebenso oft wieder in Kleinkönigtümer.
Der immer wieder aufscheinende, vermutlich durch die harten Lebensbedingungen verstärkte, Pragmatismus der „Wikinger“ erstreckte sich auch auf das spirituelle Leben. So heißt es in einem Sagatext, ein Vater hätte sich enttäuscht von Odin abgewandt, nachdem zwei seiner Söhne im Kampf gefallen waren (Odin ist unter vielem Anderen ein Schlachtengott) – er würde nun lieber Thor verehren. Die Anekdote vom Nordmann, der sich über die schlechte Qualität seines Taufhemdes beklagte, denn bei all seinen über 20 vorherigen Taufen hätte er bessere Hemden bekommen, mag von einem christlichen Chronisten, der die „Verstocktheit“ und „Doppelzüngigkeit“ der Nordmänner beklagte, erfunden worden sein, aber ohne einen tatsächlich ausgeprägten Pragmatismus, gepaart mit Individualismus und Habgier, ergibt die Anekdote keinen Sinn.

Die Kultur der „Wikinger“

Apropos „Individualismus“ – der spielt, siehe Teil 1, ja schon bei Odysseus eine wichtige Rolle. Es wäre aber sowohl bei den antiken Griechen wie bei den frühmittelalterlichen Skandinaviern, falsch, diesen Individualismus mit dem modernen „Einzelkämpfertum“, der Ich-Bezogenheit einer auf permanenten Wettbewerb ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft gleichzusetzen.
Der einzelne Nordgermane war seiner Familie und seiner Sippe verpflichtet, und sie wiederum dem Einzelnen. Der „wikingerzeitliche Individualismus“ ist als das Streben zu umschreiben, seine Lebensverhältnisse in die eigenen Hände zu nehmen, sein „Glück zu machen“. Das ist etwas anderes als das „moderne“ Lob des Individualismus: „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“. Es verspricht den Menschen, sie könnten „es“ – ihr materiell verstandenes Glück – alleine schaffen, wobei sie im Falle des Scheiterns eben „selbst schuld“ an ihrem Unglück seien.
Wichtig für das germanische Denken ist, dass das Streben nach Glück dem Heil keinen Schaden zufügt. „Heil“ ist kein Zustand, den einer für sich allein haben kann. Heil ist verbindlich. Seine Annahme hat immer Konsequenzen. Seine Errichtung bedeutet Arbeit, und ihr Lohn ist nicht immer gewiss. Bei den Wikinger so wie heute.

Zur Wikingerzeit waren die Familien der Nordgermanen patriarchalisch organisiert. Das heißt, so patriarchalisch waren die Verhältnisse auch wieder nicht, die Stellung der Frauen war gemessen an der Verhältnissen im christlichen Europa stark – Frauen konnten Erben, für ihre minderjährigen Söhne herrschen und hatte in Haus und Hof die „Schlüsselgewalt“. In Island gab es sogar die einseitige Ehescheidung durch die Frau.
Es gab drei soziale Klassen, „Edle“, Freie und Unfreie, wobei das allerdings keine starren und abgeschotteten „Stände“ im Sinne einer Feudalordnung waren, denn es gab noch eine gewisse soziale Mobilität. Alle Versuche, Konstrukte wie „Lehrstand“ oder „Nährstand“ auf die Wikingerzeit zu projizieren, sind unhistorischer Blödsinn.
Zu bestimmten Zeitpunkten fanden die Versammlungen der freien Männer (Thing) statt, bei denen wichtige Entscheidungen besprochen und getroffen wurden, so z. B. die Wahl des Jarls oder des Königs. Das klingt beinahe demokratisch – aber nur auf Island und in geringerem Maße in anderen atlantischen Siedlungsgebieten entstand daraus eine „echte“ Demokratie, und zwar eine parlamentarische Demokratie, die praktikabler und stabiler war, als z. B. das athenische Modell der direkten Demokratie. Übrigens war die Macht der Herrscher noch in der frühen Wikingerzeit eingeschränkt – es gab (gewählte) Herzöge bzw. im Norden eher Heerkönige, die den militärischen Oberbefehl innehatten, und wenig mehr. Fast kann man die Geschichte der Wikingerzeit als die Geschichte eine jahrhundertelang andauernden Putsches ansehen, in dem die Könige Nordeuropas von beschränkten Herrschern von Volkes Gnaden zu unanfechtbaren Monarchen von „Gottes Gnaden“ aufstiegen.
Die „Wikinger“ galten als mutig – aber selbstmörderisches Heldentum war ihnen fremd. Sie galten als unerbittlich – aber Gastfreundschaft war Ehrensache. Sie waren Räuber – aber mehr noch gewiefte Händler. Sie besaßen eine Schrift, aber ihre Kultur beruhte auf mündlicher Tradition.
Sie waren höchst widersprüchlich. Was sie eigentlich für ideologischen Missbrauch völlig unbrauchbar machen müsste. Eigentlich.

Fremde Moral

Bezeichnenderweise warnte Poul Anderson im Vorwort seines Romans „Hrolf Krakis Saga“, einer Sagen-Nacherzählung:

„Ein größeres Risiko liegt in Geist und Sinn der Saga. Sie ist nicht, wie Der Herr der Ringe, das Werk eines zivilisierten, christlichen Autors – obwohl sie wahrscheinlich eine von Tolkiens vielen Quellen war. Hrolf Kraki lebte zur Mitternacht des Dunklen Zeitalters. Totschlag, Sklaverei, Raub, Vergewaltigung, Folter, blutige oder obszöne heidnische Riten waren Bestandteile des täglichen Lebens.“

Nun sind Totschlag, Sklaverei, Raub, Vergewaltigung, Folter leider auch heute noch Bestandteile des täglichen Lebens, jedenfalls für allzu viele Zeitgenossen, ein Blick in die Nachrichten reicht für diese Feststellung aus. Wovor Anderson warnte, das sind nicht die Grausamkeiten an sich. Es ist die uns unverständliche erscheinende Haltung gegenüber solchen Ärgernissen, die in der Saga-Nacherzählung, wenn auch gegenüber den Originaltexten abgemildert, deutlich wird, die den an eine „moderne“ Moral gewöhnten Leser schockieren könnte.

Was für die immerhin zum europäischen Kulturkreis gehörenden Kulturen des „alten Griechenlands“ und des „alten Nordens“ gilt, nämlich, dass sie viel „fremdartiger“ sind, als es sich der gewöhnliche Leser historischer Romane auch nur träumen lässt, das gilt erst recht für nicht-europäische Kulturen. Sie zu verstehen und zu akzeptieren ist anstrengend und kostet Selbstüberwindung.
Wenn also die „außerirdischen“ Kulturen nicht nur in Perry Rhodan mehr oder weniger dem neuzeitlichen, „abendländischen“ Muster folgen, dann hat das einen ähnlichen pragmatischen Grund wie der, dass z. B. in Star Trek die meisten „Außerirdischen“ auch äußerlich menschenähnlich sind. Es ist nun einmal einfacher, einen Menschen zu „Außerirdischen“ zu schminken, als ein völlig fremdartiges Wesen darzustellen (oder war es, bevor die CGI-Technik so weit perfektioniert war wie heute). Genauso ist es einfacher, sich mit einer „fremden“ Zivilisation zu identifizieren, deren Angehörige in uns vertrauten Bahnen denken. Es gibt allerdings in für den Massenmarkt geschriebener Science Fiction und Fantasy durchaus völlig fremdartige Zivilisationen. Allerdings werden sie fast immer so geschildert, dass das „Seelenleben“ der „Aliens“ keine Rolle spielt, bzw. dass ihre Kultur als „den menschlichen Denkprozessen unverständlich“ charakterisiert wird. Die sind eben so, die verstehen wir nie – und fertig!

Klaus N. Frick hat völlig recht: die „wahren Aliens“, das sind unsere Mitmenschen außerhalb des Dunstkreises unserer Kultur!

Martin Marheinecke, Mai 2012

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