Odins Auge Artikel

Die Erfindung einer „Tradition“

Ursprünglich war der „Julleuchter“ wahrscheinlich nur ein frühneuzeitlicher Kerzenleuchter aus dem ländlichen Schweden.
Siehe: Der Julleuchter – eine erfundene Tradition
Unter normalen Umständen würden ihn heute nur eine handvoll Volkskundler und Fachhistoriker kennen. Vielleicht hätte aber im kerzenfreudigen Schweden irgend ein Designer die Form aufgegriffen, und vielleicht gäbe es sogar heute bei IKEA eine Billig-Ausführung des Turmleuchters.
Es kam leider anders, und der harmlose Turmleuchter wurde zum Kultgegenstand der SS.

Phase 1: „Da sind doch Runen drauf!“

Der originale Turmleuchter – vorerst noch kein „Julleuchter“ – wurde im Dorf Veddinge, Kreis Viske (Halland) in Schweden gefunden – wahrscheinlich nicht bei einer archäologischen Grabung, sondern zufällig. Seit 1882 steht er im Nordischen Museum in Stockholm (Inventar-Nr.: 32.477). Nach Angaben der zuständigen Kuratorin des Nordiska Museet wurde er auf das 18. Jahrhundert datiert, andere Quellen schätzen ihn auf das 16. Jahrhundert. Fest steht jedenfalls: der Leuchter kann nicht aus dem Mittelalter stammen – denn Kerzen waren damals in Skandinavien praktisch nicht gebräuchlich – und wurde auch nicht nach einen mittelalterlichen Muster gefertigt.
1888 wurde ein Foto und eine Beschreibung in einer schwedischen Fachzeitschrift für Runenforschung, „Runa“, veröffentlicht. Wahrscheinlich hatten die einen Stern oder ein Speichenrad darstellende unteren Fenster im als geschlossenem Leuchter ausgebildetem Sockel wegen ihrer Ähnlichkeit mit der Rune „Hagal“ bzw. „Hagalaz“ (in der Form des jüngeren Furthark) das Interesse der Runenforscher geweckt. Völlig abwegig wäre diese Vermutung nicht, schließlich hatten sich in einigen Teilen Schwedens Runen bis in die Frühe Neuzeit neben der lateinischen Schrift gehalten. Anderseits litten viele schwedische Volkskundler des 19. und frühen 20. Jahrhundert, wie sehr viele ihrer deutschen Kollegen, am „Germanensyndrom“ bzw. „Germanenkomplex“, d. h. so ziemlich alles, was irgendwie alt und historisch schwer einzuordnen war, war für sie automatisch „germanisch“ oder „in alter germanischer Tradition stehend“.

Phase 2: Ein „völkischer“ Esoteriker spinnt sich etwas zurecht.

Wahrscheinlich wäre der Turmleuchter trotzdem nie nennenswert bekannt geworden, wäre nicht der niederländische Philologe, völkische Esoteriker und, ab 1934, SS-Mann Herman Wirth auf die bewusste Ausgabe der „Runa“ gestoßen. 1933 stelle er den Leuchter in Text und Bild in seinem Buch „Die Ura-Linda-Chronik“ vor. Die Ura-Linda-Chronik ist eine 1872 veröffentlichte, in altfriesischer Sprache verfasste, gefälschte Chronik über ein in den nacheiszeitlichen Fluten untergegangenes matriarchalisches Paradies namens „Altland“. Wirth hielt diese „Chronik“, entgegen der Lehrmeinung, für echt, und, entgegen jeder historischen Plausibilität, für inhaltlich wahr. Sein Bild der europäischen Vor- und Frühgeschichte stützt sich ganz wesentlich auf die Ura-Linda-Chronik. Wirth deutete Funde aus den unterschiedlichsten Kulturepoche im Sinne seiner „Theorie“. Eine besondere Rolle nimmt bei ihm das 6-speichige Rad ein, ein Symbol, das laut Wirth der Runenschrift zu Grunde liegt. Er war überzeugt, dass das sechsspeichige Rad „Jul“ genannt worden wäre, ein Symbol Gottes („das Gott“ bei Wirth), das in der Ura-Linda-Chronik „Wralda“ genannt wird.

Und allein (schon) diese Tatsache, daß die Ura-Linda-Handschrift den Namen Wralda uns als den Gottesnamen überliefert und als sein ältestes Sinnbild das 6-speichige Rad, das Welten- und Jahresbild, aus dem die Schrift mit der Sonne herum entstanden ist, – diese Tatsache allein genügt, um die Quellenechtheit der Ura-Linda-Handschrift zu beweisen.

Da das 6-speichige Rad, „Jul“, auf dem Leuchter zusammen mit Ur-Sinnbild der „Allmutter“, dem „Herzhaupt“ auftritt, passte er hervorragend in Wirths Weltbild. Erst bei Wirth wird aus dem Turmleuchter ein „Jul-Leuchter“. Wirth schloss messerscharf, dass der frühneuzeitliche Kerzenleuchter in Wirklichkeit ein Kultgerät für das bis in die Steinzeit zurückgehende Jul-Fest sein müsse, das irgendwie im schwedischen Bauernvolk überlebt hätte.

Phase 3: Der „Julleuchter“ wird zum Kultgegenstand der SS

Herman Wirths historischen und ethnographischen Spekulationen wurden (und werden) von der wissenschaftlichen Fachwelt einhellig abgelehnt und waren sogar unter überzeugten Nazis sehr umstritten. Allerdings kam ihm zugute, dass der „Reichsführer SS“, Heinrich Himmler, als überzeugter völkischer Esoteriker einige Jahre lang begeistert von den völkisch-esoterischen Lehren Wirths war. 1935 war er Mitbegründer der von Heinrich Himmler und Richard Walther Darré protegierten Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V..
Ab 1935 wurden Julleuchter nach dem Vorbild des schwedischen Fundes von Heinrich Himmler zunächst an SS-Führer, später auch an „verdiente“ einfache SS-Männer und an die Witwen im Krieg gefallener SS-Männer verschenkt. Ein urkundenartiges Beiblatt erläuterte, ganz im Sinne der Deutung Wirths:

Ich schenke Ihnen diesen Julleuchter. (…) Das kleine Licht, das unter dem Leuchter sitzt, brenne als Sinnbild des zu Ende gehenden Jahres in seiner letzten Stunde. Das große Licht flamme auf im ersten Augenblick, da das neue Jahr seinen Gang anhebt. Es steckt eine tiefe Weisheit in dem alten Brauch. Möge jeder SS-Mann das Flämmchen des alten Jahres reinen, sauberen Herzens verlöschen sehen und erhobenen Willens das Licht des neuen Jahres entzünden können. Das wünsche ich Ihnen und Ihrer Sippe heute und in alle Zukunft.

Das Beiblatt trug die faksimilierte Unterschrift Himmlers.

Am 16.01.1936 wurde der SS-Julleuchter beim Reichspatentamt in Berlin als Gebrauchsmuster geschützt. Dabei wurden vor allem die beiden Symbole, nämlich das „Jahresrad“, das „heilige Jul“, und das Herz, das Sinnbild „germanischer Gottinnigkeit“ erwähnt.
Die Leuchter wurden in der SS-eigenen Porzellan- und Keramik-Manufaktur Allach (München), ab 1941 dann in den Werkstätten des KZ Dachau und des KZ Neuengamme (Hamburg) gefertigt.
Insgesamt wurden weit über 300000 Julleuchter hergestellt, jeder ein echtes Stück Sklavenarbeit.

Phase 4: Julleuchter und Wirths Julritual werden (oberflächlich) „entnazifiziert“.

Als echter Massenartikel war und ist der Jul-Leuchter in vielen Familien normaler Bestandteil der „Weihnachtssachen“, z. B. zusammen mit den ererbten Christbaumkugeln oder der Krippe, die schon bei Ur-Opa unterm Tannenbaum stand. Das trug sicher dazu bei, dass der Nazi-Hintergrund des Keramikleuchters in Vergessenheit geriet und der Julleuchter vielfach als Bestandteil einer „alten Tradition“ wahrgenommen wird.
In manchen Familien wurde sogar das dazugehörige „Jul-Ritual“ als „Familientradition“ weitergegeben, nach zwei oder drei Generationen manchmal ohne Kenntnis dessen „brauner Ursprünge“.
Aber auch die völkischen Esoteriker, allen voran Wirth selbst, versuchten, die Wirthsche Vorgeschichtsdeutung aus dem nun unangenehm gewordenen NS-Bezug zu lösen.
Wirth und seinen Apologeten kam zu Gute, dass im Laufe der Jahre immer mehr ideologischer Differenzen mit Himmler, der Wirths Matriarchatsvorstellungen nicht teilte, auftraten. Außerdem schlüpften viele opportunistische, aber fachlich seriöse Altertumsforscher beim gut dotierten und kräftig protegierten „Ahnenerbe“ unter, die mit einem „Spinner“ wie Wirth nicht zusammenarbeiten konnten oder wollten. So verlor er schließlich seinen Vorsitz im „Anhenerbe“ und wurde 1938 aus der „Forschungsgemeinschaft“ verdrängt. Er erhielt aber bis 1944/45 Forschungsbeihilfen.
Nach dem Ende Nazideutschlands gab Wirth diese Differenzen als Opposition und seine Kaltstellung als Verfolgung aus.

Eine bizarre Entwicklung führte dazu, dass Wirth und Teile seiner „Lehre“ schließlich sogar unter nicht-völkischen Esoterikern und in der Alternativszene der 1970er Jahre anerkannt wurden – und das, obwohl er Nazideutschland und die NS-Ideologie verharmloste und verteidigte, und nicht von seinem völkischen, rassistischen, antisemitischen und sozialdarwinistischen Weltbild abrückte.
Das lag unter anderem daran, dass seine Vorstellungen, in der Jungsteinzeit hätten die „germanischen Völker“ im Zustand des Matriarchats im Einklang mit der Natur gelebt, bei einigen Feministinnen sehr gut ankamen und manchmal noch ankommen. Außerdem fanden Wirths Lehren über „Urkulturen“ ein breites Echo unter Alternativen und „Ökos“, interessanterweise (obwohl Wirth nach wie vor Rassist war) auch in Unterstützergruppen für die nordamerikanischen Ureinwohner. Auf Vermittlung des Wirth-Schülers und SPD-Mitgliedes Roland Häke besuchte der SPD-Vorsitzende Willy Brandt 1979 Wirth in Marburg. Die Rheinland-pfälzische Landesregierung unterstützte zeitweise ein Projekt, in der Zehntscheune der Burg Lichtenberg ein Museum mit der ethnographischen Sammlung Wirths einzurichten.
1981 starb Wirth. Nach seinem Tode wurde es etwas stiller um seine Lehre.
Unter ökospirituell gesonnenen wie unter völkischen Esoterikern ist Wirth aber nach wie vor recht beliebt – bei den Ökospirituellen trotz, bei den Völkischen wegen seines rechtsextremen Weltbildes.

Der Julleuchter wird heute, manchmal in abgewandelter Form, von verschiedenen Manufakturen hergestellt.
Als simpler Kerzenleuchter nach dem Vorbild eines schwedischen frühneuzeitlichen Turmleuchters ist er harmlos. Jedenfalls, wenn man durch seinen Kauf nicht einen rechtsextremen Händler oder Hersteller unterstützt.
Als Julleuchter, nach „echten“ Ritual benutzt und womöglich noch mit Nazi-Ideologie verknüpft, jedoch nicht.

4 Gedanken zu „Die Erfindung einer „Tradition“

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  • Kai Sturmauge

    Vielen Dank, Martin, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, Ursprünge und Hintergründe zu recherchieren und näher auszuleuchten !

  • Posipal

    Also, so ganz ist das nicht in Ordnung meiner Meinung nach!
    Entweder macht du deinen Julleuchter dir selber oder kaufst ihn sehr teuer bei Möchtegern Ökos oder irgendwelchen selbsternannten Künstlern…sogenannte Nazishops heben sich mittlerweile so sehr davon ab so genannt zu werden das deren Artikel mit der NS Zeit nicht im geringsten damit zu haben…Ich habe einen Nazi (wohlgemerkt gibt es keine Nazis mehr, höchstens Neonazis) noch nie mit Räucherwerkzeug oder oder Tunika hantieren sehen. Das sind die Artikel die die Shops anbieten. Und wenn es denn ein Sonnenrad (oder Schwarze Sonne in euren Augen genannt) gibt dann symbolisiert dieses das Sonnenrad oder besser die Swastika – ein Symbol das über 6000 Jahre alt ist und vom ollen Adolf zu seinen Zwecken missbraucht wurde. Fakt ist aber ein für alle mal – Man muss nicht immer gleich sagen „Das ist von Nazis gemacht“ Finger von denen, auf jeden Fall bieten viele Shops genau die Artikel günstig an während andere ein Vermögen haben wollen, aus Profitgier. Und wenn ich mir einen Julleuchter beim Asgard Shop oder Viking Blood kaufe, dann steht da keine SS Rune auf der Unterseite – das ist alles eine Kopfsache – und genau da sind Eure Probleme – Ihr macht euch zu viele Gedanken über Leute die Euch etwas nehmen oder sogar geben – ich war in zwei heidnischen Vereinen drinne . es wird im Hintergrund agiert und gefeiert – man versteckt sich aus Angst vor der öffentlichen Meinung und sich rechtfertigen zu müssen! Und wenn ich zur Julzeit meinen Leuchter raushole, feiere ich das Julfest nach alter germanischer Sitte – und nicht nach NS Sitte – allein der Gedanke daran findet bei mir garnicht statt…Ihr Heiden die ihr gerne sein wollt stellt eigene Regeln auf um eure Mitglieder schön unten zu halten, nicht besser als die Kirche – Schon In Extremo sang „Frei zu sein“ Ja – Vogelfrey, das ist wahres Heidentum!

  • Danke für die deutliche Meinung, Posipal!
    Ich kenne zwar keinen Nazishop, der sich selbst so nennt, aber es gibt sowohl als Internetshops wie als materielle Läden unangenehm viele Händler, die Nazi- und Neonazi-Devotionalien nebst rechtsextremem Schriften anbieten – immer gerade so an der Strafbarkeit vorbei, aber unverkennbar.
    Ja, es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen alten Nazis und Neonazis: das Geburtsdatum. Selbstverständlich gibt es auch Rechtsextremisten, die keine Nazis sind, und es gibt „völkische Esoteriker“, „völkische Hexen“ und „völkische Heiden“, die sehr wohl mit Räucherwerk hantieren oder Ritual-Gewandungen tragen.
    Wir wissen selbstverständlich, dass das Sonnenrad – die Swastika – über 6000 Jahre alt ist, und wir wissen auch, wie es kam, dass es zum Logo zuerst der Ariosophen, dann der „Thule-Gesellschaft“ und schließlich der NSDAP wurde. Wir verwenden dieses Symbol nicht, weil seine öffentliche Verwendung in Deutschland – aus mehr oder weniger gutem Grund – verboten ist.
    Wir haben keine Probleme damit, z. B. Runen zu verwenden, auch wenn sie von Nazis verwendet wurden. Übrigens: Sowilo sieht nur so aus wie die „Siegrune“, so wie das Sonnenrad so aussieht wie das Hakenkreuz. Aber das wird jetzt zu kompliziert.
    Gegen Kerzenständer nach frühneuzeitlichem schwedischem Vorbild, die so aussehen wie SS-Julleuchter haben wir auch nichts – solange sie nicht im Sinne des SS-Julleuchters verwendet werden, nach einem von Nazis erdachten Ritual, und solange sie nicht von weltanschaulich rechtsdrehenden Herstellern oder Händlern stammen.
    Mit der „alten germanische Sitte“ ist das auch so eine Sache. Ob Tieropfer – und eventuell auch Menschenopfer – wirklich zeitgemäß sind, wage ich doch zu bezweifeln. Sie sind aber überliefert und archäologisch bestätigt, also „authentisch heidnisch-germanisch“, während es für den Julleuchter aus dem einfachen Grunde kein uraltes heidnisch-germanisches Ritual geben kann, weil es bei den „ollen Germanen“ diese Kerzenleuchter schlicht und einfach noch nicht gab. Nichts gegen neu erdachte Rituale – aber man sollte schon wissen, wer sie warum erdacht hat! Oder, wenn Du so willst: welche Mächte man mit einem Ritual stärkt.
    Ob Du es glaubt oder nicht: da unsere Regeln alle konsensdemokratisch beschlossen wurden – nicht im Mehrheitsbeschluss, sondern grundsätzlich immer einstimmig, und wenn sie dafür noch so lange durchdiskutiert werden müssen – wüsste ich auch nicht, wer bei uns durch diese Regeln „unten“ gehalten werden sollte. Ein Verein sind wir übrigens auch nicht, und dass wir uns aus Angst vor der öffentlichen Meinung verstecken würden, kann man nun wirklich nicht behaupten.
    God Jul!
    Martin

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