Als die Sau noch Göttin war: Germanisches Weltverständnis
Germanisches Weltverständnis
Als die Sau noch Göttin war, hatten´s die Schweine besser – sie wurden nicht mit unliebsamen Menschen verglichen, sondern galten als heilig. Dass Vieh und Volk sich die Schlafräume teilten, mag pragmatische Gründe gehabt haben – es ist halt wärmer im Kabuff, wenn´s draußen schneit und frostet. Parfümfans mögen die Nase rümpfen, doch für vorchristliche Germanen hatten Tiere und Gottheiten oft denselben Stallgeruch. Man fühlte sich umgeben von einer Unzahl benamter Gestalten mit unheimlichen Kräften; mit den einen musste man sich gut stellen, damit sie einem die anderen vom Leibe hielten; der Alltag war magisch und das Spirituelle alltäglich, die ganze Welt beseelt, voller Sinn und Bedeutung. Schenken wir den literarischen Quellen Glauben, galt das Getreide auf dem Feld als das goldene Haar der Göttin Sif, der Gattin des erdverbundenen Donnergottes Thor, der die Menschheit beschützt vor den Riesen.
Schriftliche Überlieferungen über angeblich germanische Götter sind erst in christlicher Zeit entstanden und auch aus anderen Gründen nicht als Belege originär altgermanischer Spiritualität verwendbar. Auf die sich daraus ergebenden Zweifel bzw. unser faktisches Unwissen über definitive Inhalte vorchristlichen Heidentums germanischer Prägung ist an anderer Stelle eingegangen worden (siehe hierzu meinen Artikel „Der kleine Unterschied“, Anm.d.Verf.).
Ich halte mich im Folgenden dennoch weiter an die aus der „Edda“ bekannten Bilder – zum einen haben wir keine anderen, zum anderen taugen sie trotz ihrer Unbeweisbarkeit hinsichtlich altgermanischer Göttervorstellungen meines Erachtens durchaus als beispielhafte Platzhalter solcher: da sich die daraus resultierenden Welt- und Wertvorstellungen zumindest von unserer heutigen Natur- und Umweltauffassung derart tiefgreifend unterscheiden, dass wir erahnen können, wie untrennbar „spirituelle“ und „materielle“ Lebensaspekte verwoben waren für Kulturen, denen der Begriff einer definierbaren „Religion“ (in heutigem Sinne) fremd war. Die bewusste Freistellung solcher Aspekte wie „spirituell“ und „religiös“, ihre begriffliche Herauslösung aus dem „übrigen Leben“ ist für uns freilich seit vielen Generationen derart normal, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, dass altvordere Heiden diese Begriffstrennung nichtmal denken konnten.
Nebenbei sehe ich hierin einen wichtigen Grund für die rasche Verbreitung des Christentums unter germanischen Stämmen: Die historischen Heiden ahnten in gar keiner Weise, was da auf sie zukam. Warum hätten sie einen neuen Gott als störend oder unpassend empfinden sollen? Was uns heute an „Religion“ so typisch erscheint – das (jegliche Alternativen kategorisch ausschließende) Monopol auf eine Wahrheit, an die alle glauben sollen – war der gesamten heidnischen Antike unbekannt. Und gerade Germanen nahmen neue spirituelle Angebote und Vorstellungen oft besonders begeistert auf – kein Mensch germanischer Provinienz wäre damals auf die Idee gekommen, ein „Heidentum“ in Gefahr zu sehen und „es“ daher etwa gegen „das Christentum“ verteidigen zu wollen.
Was immer sich vorchristliche Germanen vorgestellt haben mögen spirituell – sie kannten kein „-tum“. Woraus wir folgern: Echte Germanen „tümeln“ nicht. (Aaachtung Germanentümelnde! Stillgestanden! Wegtreten!)
Jetzt aber weiter eingetaucht in unsere imaginierte Welt vielleicht nicht allzu echter, nichtsdestotrotz beispielhafter Ansichten und Auffassungen ganz selbstverständlicher Naturbeseeltheit:
Riesen, das waren der bösartige Gletscher weiter nördlich oder die Lawine vom vorigen Jahr, der gefürchtete Hagel vor dem Herbst oder die plötzliche Feuersbrunst – aber auch die liebreizende Gjerda, die immer im Frühling kommt, um als blühende Vegetation die Erde neu zu beleben. Man huldigte Mani, dem bleichen Nachtauge am Himmel, und wenn der nicht mehr zu sehen war, stand der Mond unter dem Einfluss von Bil, der Schwarzmondgöttin. Im tiefen Wald tanzten Elfen, in den Flüssen wohnten die Nymphen, das Haus bewachten Kobolde, denen geopfert wurde, und als Stützen des Himmelsgewölbes wusste man vier weit entfernte Zwerge mit den sinnigen Namen Austri, Sudri, Westri und Nordri. Ehrfürchtig gewahrte man den Regenbogen als Bifröst, die Brücke zu den Göttern des Bewusstseins, den Asen.
Ausgefeilte Bestattungsriten sorgten dafür, dass keine toten Menschen umgingen in den Häusern der Lebenden (obschon man an ihre baldige Reinkarnation glaubte); dem alljährlichen Wedererwachen der Erdgöttin Nerthus aber widmete man ausgelassene Umzüge mit geschmückten Wagen quer durch die Dörfer.
Ähnlichkeiten zum katholischen Fronleichnam oder Karneval u.ä. sind selbstverständlich rein zufällig, ebenso wie Weihnachten, Ostern, Lichtmess oder Allerseelen. Tatsächlich ist das einzige heidnische Fest, das (früherer oder späterer) christlicher Umdeutung entging, Beltane, besser bekannt als Walpurgisnacht. Das war kein germanisches, sondern ein keltisches Fest für den Feuergott Bel und die Fruchtbarkeit – möglicherweise tatsächlich inklusiv menschlicher Sinnenlust. Letztere wird den Germanen ja gern abgesprochen, was nicht zuletzt an Tacitus liegt, der dem Brot-und-Spiele-Zirkus seiner römischen Zeitgenossen unbedingt die moralischen Wilden entgegensetzen wollte, bei welchen eben “keine heimlichen Briefchen zwischen Unverheirateten kursieren” (wie auch: waren ja Analphabeten).
Die Skandinavier jedoch bildeten den Fruchtbarkeitsgott Freyr ab mit einem Phallus, der das wirklich „herausragende“ Merkmal der ganzen Götterfigur darstellt; und der Volksbrauch der Wölsi-Verehrung hat sich, wenn auch bereits christlich angeschmäht, bis in die Edda gerettet (ein Wölsi ist ein Gegenstand zu nicht mehr bekannten Kultzwecken. Es handelt sich dabei um das irgendwie ohne künstliche Konservierungsstoffe haltbar gemachte Geschlechtsteil eines ausgewachsenen Hengstes).
Der geheimnisvolle Kriegs- und Totengott Odin (im Süden in einfacherer und älterer Form als Sturmgott Wodan verehrt) war aufgrund seines äußerst zwiespältigen Charakters und seiner verschlungenen schamanischen Lehren wohl kaum eine Konkurrenz für das aufkommende Christentum mit seinen einfachen Heilsversprechen – von einem Kult um Freyja ist uns leider noch weniger überliefert: gar nichts. Kann also sein, dass es gar keinen solchen gegeben hat. Was aber, wenn doch? Und ganz unabhängig davon, was war oder vielleicht auch nicht: Spätestens heute sollte es einen geben: Freyja, die schillerndste weibliche Gestalt des germanischen Götterhimmels, verkörpert (doch spätestens für uns Heutige) die freie Frau in jeder möglichen Hinsicht. Freyja bedeutet einfach “Herrin”, doch Namen hatte sie viele. Moderne Forscher haben sich generationenlang die Köpfe zerbrochen über das Fehlen eines germanischen Sonnengottes. Baldur ließ sich dazu nicht machen – ein Lichtgott mochte er sein, aber sein Mythos rankt sich zu sehr um seine Ermordung, die das Götterschicksal einläutet, die Ragnarök – Analogien zur Sonne lassen sich da schwerlich (er-)finden. Man hat versucht, Freyja in ihrer Erscheinungsform als Mardøll – in einer Lesart “die Pferdefrohe”, in einer anderen “die das Meer Erleuchtende” – als eine Art nordische Meeresnixe zu deuten. Ich persönlich habe noch nie gehört oder gesehen, dass Nixen leuchten. Als Erleuchtung kam mir die Sonne.
Wer sonst “erleuchtet” das Meer? Ihre Mythen sind vielfältig. Für die einen umfährt sie das Erdenrund auf einem Wagen, der von Katzen gezogen wird; den anderen fällt ihre Geilheit auf: “…wie zwischen Böcken die Ziege rennt”, wird in der Edda Freyjas Neigung zu wechselnden Liebschaften beschrieben. Sicherlich ist ihr Charakter kätzisch: Liebe, Hexerei und Krieg sind die Hauptressorts der Vánadis, der Vanen-Dise,
der berühmtesten der Vanen – jener (zwar wiederum nur von Snorri erwähnten, s.o.) Gottheiten der Instinkte, des Intuitiven und des sinnlichen Gedeihens (in symbiotischem Kontrast zu den Bewusstseinsgöttern, den Asen. Obwohl eine genaue Grenze zwischen den beiden germanischen Göttergeschlechtern nichtmal von deren mutmaßlichem Erfinder gezogen wird. Nicht als einzige wird Freyja sogar von Snorri mal den einen, mal den anderen zusortiert).
Einer ihrer Namen leiht diesem Vortrag den Titel. Denn die Germanen riefen ihre große Herrin auch Syr, das heißt wortwörtlich Sau.
Meine Deutung von Syr, Mardøll, Vanadis oder Freyja als germanische Sonnengöttin wird unterstützt vom Mythos des Brisingamen, Freyjas magischem Halsschmuck, dessen Sinn und Zweck darin besteht, unglaublich hell und strahlend zu leuchten; außerdem wird seine Trägerin als die “tränenschöne Göttin” besungen. Nicht im Sinne von Heulsuse: Vielmehr heißt es, man könne dieser Göttin nicht ins Angesicht schauen, ohne tränende Augen zu bekommen. Nachdem das Tränengas noch nicht erfunden war, bleibt als mögliche Erklärung eigentlich nur die große Sonne übrig. (Die Sonnengöttin-Theorie wird auch von anderen vertreten, aber das sind wie ich alles keine Wissenschaftler. Es mag also wahrscheinlich sein, bleibt jedoch spekulativ. Immerhin würde es dazu passen, dass Tacitus standhaft behauptete, die Germanen hätten “Sonne und Mond” angebetet.)
Doch hinter der scheinbar primitiven Verehrung augenfälliger Naturerscheinungen verbirgt sich oft eine nicht zu unterschätzende Kosmologie – wir haben keinen Anlass anzunehmen, dass das bei germanischen Stämmen prinzipiell anders gewesen ist als überall sonst und bis heute auf unserer schönen, geplagten Planetin (wo jeweils die sogenannte „Zivilisation“ noch nicht alles plattwalzte oder wenigstens so spät kam, um noch einen Blick auf archaische Gesellschaftsformen stammesartiger Gruppierungen zuzulassen).
In der Edda rankt sich die Kosmologie um einen Weltenbaum, der auch in seriösen Quellen meist als “Weltesche” bezeichnet wird. Meiner Auffassung nach handelt es sich dabei um einen Übersetzungsfehler: Der altnordische Begriff “barraskr” bedeutet wortwörtlich “Winteresche”, womit ein Baum gemeint ist, der auch im Winter grünt. Das ist bei einer Esche (Fraxinus excelsior) aber nicht der Fall, und die immergrüne Eigenschaft des Weltenbaums wird in den alten Quellen mehrfach betont. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der mythischen Weltachse Yggdrasil (wörtlich: „Pferd des Schrecklichen“ – eine Anspielung auf Odins schamanisches Selbstopfer) um einen Baum der Sorte Taxus baccata handelt, auf deutsch: Eibe.
Von allen europäischen Baumsorten ist ihr Holz das härteste und wächst bei weitem am langsamsten. Nicht nur ihre Seltenheit machte die Eibe schon früh heilig (Buchenwälder verdrängten die Eibenwälder zu Zeiten, als die Menschen noch keine Bäume fällen konnten), sondern auch die Tatsache, dass dieser Baum in der Sommerzeit ein halluzinogenes Gas ausströmt, an welchem man sich regelrecht berauschen kann – oder unversehens berauscht wird, wenn man auf diesen Umstand nicht vorbereitet ist. Eiben lieferten das haltbarste und beste Holz für Pfeil und Bogen, und den Schnee- und Jagdgott Ullr wusste man zuhause in Ydalir, das heißt Eibental.
Im ältesten germanischen Runensystem, das mindestens von 200 bis etwa 600 n.Chr. in Gebrauch war, dem sog. Älteren Futhark (benannt nach den ersten sechs Runen Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz), hat die Eibe eine auffällige Position: Als dreizehnte Rune liegt sie nicht nur in der Mitte des 24 Runen umfassenden Systems, das aus drei Achterreihen besteht, sondern ist auch der Dreh- und Angelpunkt der mittleren Reihe, der sog. Hels Ætt oder Zauberer-Acht, deren Runenabfolge als Anleitung für einen Initiationsweg gelesen werden kann: den sog. Helsweg. Die Eibenrune Eiwaz folgt der Jera, die das Jahresrad bzw. den Zeitenzyklus symbolisiert, und bringt diese(n) erst in Bewegung. Auf Eiwaz wiederum folgt die Wiedergeburts- und Weisheitsrune Perthro.
Eiwaz
Außer der Eibe ist im Älteren Futhark nur eine einzige weitere Rune einem Baum gewidmet, und zwar die 18. Rune Berkana, die als Birke u.a. für Mütterlichkeit, Fürsorge und Nestwärme steht. Diese Sinndeutungen sind zwar nur meine eigenen, persönlichen.
Unumstritten ist jedoch die Tatsache, dass es im Älteren Futhark eine Rune für die Eibe und eine für die Birke gibt – aber keine, die „Esche“ bedeutet oder diesem Baum zugeordnet wäre.
Über solches Kniefieseln hinaus dürfen wir insgesamt davon ausgehen, dass historisches Heidentum germanischer Prägung ohne Paradiesvorstellungen und Heilsversprechen auskam. Der Mythos von Walhall, wo die gefallenen Krieger Odins bewirtet werden, scheint erst gegen Ende der Völkerwanderungszeit aufgekommen zu sein – massive Ableitung christlichen Jenseitsvorstellungsvermögens darf hierfür angenommen werden, immerhin huldigte die überwiegende Mehrzahl der germanischen Stämme längst Christus – auch wenn im damals populären Arianismu der Gottessohn selbst eher als Mensch denn als Gott gesehen wurde (was wiederum noch recht germanisch dünkt).
Den in der Edda als germanisch apostrophierten Göttern übergeordnet waren (ebenda) die Nornir oder Nornen, die das Schicksalsgefüge verkörpern. Bei näherer Betrachtung ihrer Eigenschaften lässt sich spekulieren, dass germanisches Denken keines Zukunftbegriffes bedurfte: im Sinne der uns heute so logisch und alternativlos erscheinenden linearen Zeitachse Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (die für meinen Geschmack auffällig zu linearen Schöpfungsmythen wie dem der Bibel passt. Wer mir jetzt aber die Völuspa vorhalten mag – als eine „germanische Schöpfungsgeschichte inklusiv Untergangs-Showdown“ etwa –, sei daran erinnert, dass diese Verse irgendwann in der Wikingerzeit entstanden – die überwältigende Mehrheit der germanischen Welt dachte da längst schon in christlichen Mustern). Interessanterweise (und auch ganz ohne Nornengeraune mit zu bemühen) kannte die gemeingermanische Sprache kein Futur: Noch in ihren heutigen Ablegern ist ein solches nur mittels Hilfsverben grammatikalisch korrekt konstruierbar …
Ein zyklisches Weltbild braucht weder abstrakte Zukunftsbegriffe noch Offenbarungen: sein Wesen erfüllt sich in Kreisläufen, in Wiederholungen, von denen Varianten denk- und erfahrbar sind, die sich aber selbst nicht ändern brauchen. Erst das Annehmen göttlicher „Offenbarungen“ als religiösen Kern und Impuls zwingt Spiritualität auf die lineare Zeitachse: Propheten, Prophezeihungen, Missionierung, Weltuntergangs-Szenarien für den Glaubens-Verweigerungsfall etc. pp. sind anders nicht sinnvoll sortierbar.
Erst die Abwesenheit eines zentralen Offenbarungsmythos erlaubt eine – dann fast selbstverständlich aufblühende – Vielfalt in Bräuchen, Auslegungen, Handhabungen: weshalb sich für altgermanische Kultgepflogenheiten, ohne diese selbst kennen zu können, Entsprechendes – samt mehr oder minder individueller, zumindest aber sippen- und stammesbezogener Freiheiten – annehmen lässt. Das Einhämmern religiöser Dogmen in ganze Bevölkerungen bedarf gewaltiger Anstrengungen (sowie die Errichtung möglichst dauerhafter Kontrollinstanzen, damit sich der beinharte Schmarren nicht wieder alsbalden in unzählige esoterische Beliebigkeitsvarianten verflüchtigt, sondern „auf Linie“ gehalten werden kann) – es gibt nicht nur keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass heidnische Germanen etwas Vergleichbares veranstaltet hätten, es spricht vielmehr alles dagegen.
Das Heil hing mit den Göttern zusammen, wurde von diesen jedoch nicht gespendet, sondern auf der Erde durch menschliches Geschick und Ehre erworben. „Mattr ok megin“, Macht und Vermögen – das bezog sich auf die Fähigkeit des Einzelnen, in der rauen Wirklichkeit zurechtzukommen, als deren Angelpunkt man / frau sich begriff. Kein Glaube für Esoteriker.
Lögberg im Thingvellir in Island. An dieser Stelle stand früher der Sprecher beim Althing. Foto: Londo
Edda-Poet Snorri schwadroniert außer von der Menschenwelt noch von weiteren acht. Die „neun Welten“ sind nirgendwoanders belegt als nur bei ihm – wir dürfen oder müssen daher annehmen, dass dieser christliche Skaldenlehrer sich alle Neune aus der Fantasie gesaugt hat. Auf der andern Seite darf man durchaus fragen: woher? Welche damals schon alten Mythen, wie viele unterschiedliche Erzählungen mag er gefleddert haben, um seinen Schülern das Verseschmieden beizubringen – und was hat er selbst noch mit dazugedichtet – viel oder wenig, alles oder nichts? Kurz (und dichterisch gefragt): Welche Germanen haben das Garn gesponnen, wann wurde es zu Tuch verwoben, aus welchen Stücken schrieb uns Sturluson den Stoff?
Poetisch bleibt, für alle Zeit (so hofft man ja), zumindest das Ergebnis. Alle neun Welten hängen am bereits erwähnten großen Baum, den ich mal, in meiner eigenen Ausdeutung, ganz frech „Welteibe“ nenne: in der Mitte die Welt der Menschen, Midgard genannt – die einzige Welt von allen, die, wie es so schön heißt, „der Zeit unterworfen“ ist … und außerdem so eine Art Bahnhof (oder sollte man es heute eher „Schnittstelle“ nennen, „Interface“?) zu den anderen Welten darstellt. Acht weitere Welten aus Feuer und Eis, für Riesen, Elfen und Zwerge, für Fruchtbarkeits- und für Bewusstseinsgötter, nebst einer Wiedergeburts-Wartestation male sich aus wer mag – oder lese die Edda, die ich hier nicht nacherzählen mag. Mir gefällt an diesen Mythen, dass sie – anstatt eine Aufteilung in „gute“ und „böse“ Mächte vornehmen – vielmehr ein Ausbalancieren von Spannungsverhältnissen beschreiben: ein Weltverständnis, das mir in seiner pittoresken Differenziertheit alles andere als „barbarisch“, geschweige denn als „primitiv“ erscheint.
Sehen wir uns das mal an: An der Wurzel des Großen Baumes nagt der eher unsympathische Drache Nidhöggr, auf der Krone hockt ein seltsamerweise namenloser Adler, und die beiden können sich nicht riechen. Ein unermüdlich am Weltenbaumstamm rauf- und runterrasendes Eichhörnchen namens Ratatösk ist so freundlich, den Kontrahenten die gegenseitigen Schmähworte auszurichten – vermutlich war das der erste Postbetrieb der Welt. An den Knospen des Baumes nagen vier gewaltige Hirsche … Ökokenner/innen unter uns wissen, was das heißt: Es kann nicht mehr lang dauern mit dem Baum, der auch Yggdrasill, Pferd des Schrecklichen, genannt wird, weil sich der schreckliche Odin mal zu Selbstfindungszwecken dran aufgehängt hat.
Und es dauert doch. Nichts klappt wie es soll: Odin hat nicht sich selbst, sondern die Runen gefunden, doch musste für höhere Erkenntnisse ein Auge lassen. Überhaupt ist sein Charakter eher zwie- bis vielspältig – aber was soll man schon halten von einem intellektuellen Workaholic, der gleichzeitig Gott der Dichter und der Krieger ist und obendrein schamanisch tätig sein muss, wenn er nicht gerade im Aufsichtsrat der Asen hockt … wobei er sein Gedächtnis und seine Gedanken in Form von zwei Raben auslagert, um die er regelmäßig bangt, dass sie mal nicht zurückkommen und vielleicht abstürzen wie uns heutzutage der Rechner. Kein Wunder, dass Odin niemals isst, sondern sich ausschließlich von Wein und Met ernährt. Und dafür hat er zu Tacitus‘ Zeiten den alten Himmelsgott Tyr, Teiwaz, Tiu oder Saxnot (je nach Stamm) abgelöst … Aber für einen, der als einfacher Sturmgott angefangen hat, doch keine schlechte Karriere, oder?
Und was ist aus Tyr geworden? Der Gott der Gerechtigkeit. Bevor er das wurde – und anders hätte er’s nicht werden können – büßte er erstmal seine rechte Hand ein, weil er einen Schwur einhielt, der genau genommen ein handfester Betrug war … wenn auch nur an einem Untier wie dem Wolfsmonster Fenrir. Selbst der Kraftprotz Thor ist nicht ohne Tadel: nicht nur wird er ohne seinen Hammer hilflos, dass er sich verkleiden muss, er hat auch von irgendeinem Abenteuer noch einen Splitter in der Stirn, der ihm immer wieder mal Kopfschmerzen bereitet. Wächtergott Heimdall hat von vornherein sehr seltsam angefangen: als Sohn von neun Müttern – die wiederum sind die Töchter der dunklen Meeresgöttin Ran. Auch heute kann man sie noch sehen, wie sie sich winden, heranwallen, im Wind tanzen und toben, und manchmal tragen sie weiße Krönchen auf den nassen Häuptern. Manche sind riesengroß, andere klein, zuweilen kommen sie in Scharen, dann wieder räkeln sie sich sanft entlang und lachen. Im Meer sieht man meist welche – sie bilden sozusagen dessen oberen Rand. Wir nennen sie Wellen.
Die einzige Gestalt im nordischen Mythos, die einer Idealfigur nahekommt, ist der Lichtgott Baldur. Seine Behinderung besteht darin, dass er tot ist – versehentlich erschossen von einem Gott namens Hödur, der an Blindheit leidet. Angestiftet wurde die Tat vom listigen Loki, auf den dann alle anderen Götter auch entsprechend sauer waren. Bei Loki weiß man nie, ob man ihm die Füße küssen oder ihn hochkant rausschmeißen soll – er ist nämlich für die größten Katastrophen und Ungeheuer ebenso verantwortlich wie für das Entstehen der wichtigsten Waffen und Helfer der Götter. Verlassen kann man sich bei ihm darauf, dass man sich nicht auf ihn verlassen kann. Du hast ein Problem? Ruf ihn an – er löst es dir: rasant und auf höchst originelle Weise. Und wenn er wieder geht, hast du dann ein anderes – das mit einiger Wahrscheinlichkeit größer ist als das von ihm gelöste. Ein ziemlich modern anmutender Gott, könnte man sagen – und seltsamerweise gerade unter vielen Neuheiden beliebt (seltsam finde ich das deswegen, weil Neuheiden sonst eher allem Altbekannten zugeneigt – und für Änderungen, besonders rasante, sonst nicht so schnell zu begeistern sind. Vermutlich mögen sie Loki deswegen, weil seine Beschreibung die der andern Götter an widersprüchlichen Facetten um ein Vielfaches übertrifft. Er hat einfach den schillerndsten Charakter.)
Die binär (hie schwarz, da weiß) kolorierte Totengöttin Hel ist ebenso seine Tochter wie die erdumspannende Midgardschlange Jörmungandr; Loki ist der Vater Fenrirs, aber auch die Mutter des achtbeinigen Götterrosses Sleipnir. Loki hatte sich nämlich in eine Stute verwandelt, um den Arbeitshengst eines Riesen von der Arbeit abzuhalten – auf diese Art gewannen die Asen eine ziemlich hinterlistige Wette, die ihnen die Götterburg Asgard einbrachte. Und hätte Loki als Stute nicht den Hengst gevögelt, hätten die Götter ihre geliebte Vánadis, die Vanengöttin Freyja an die ungeschlachten Riesen ausliefern müssen. Alles klar?
Loki ließ den zauberkräftigen Thorshammer Mjöllnir schmieden – stach aber dem das Werk ausführenden Zwerg Brock als Fliege so lange in die Augen, bis der sich das Blut rauswischen musste: wodurch die Arbeit unterbrochen und der Stiel des Hammers ungewöhnlich kurz wurde. (Es ist aber ein Gerücht, dass Loki auch „Windows Vista“ mitprogrammiert habe – das hat nichtmal Snorri so behauptet.) Zusammenfassend kann man sagen: Loki ist Murphy’s Gesetz auf germanisch und der Ausweg daraus in einem – unberechenbar ist nur die jeweilige Reihenfolge. Und woher kommt diese/r Loki?
Genetisch ist er „reinrassiger“ Riese – durch Blutsbrüderschaft mit Odin wird er jedoch zum vollwertigen Asen.
Dies nur als weiterer Hinweis dafür, dass germanische Lebensart vor keiner machbaren Vermischung zurückschreckt. Nicht nur die Mythen – angefangen bei der Vermischung der Asen und Vanen – auch die historische Entstehung und Entwicklung der Germanen ist eine einzige Geschichte der Völkervermischung.
Fazit: Angst vor Fremden ist dem Germanen fremd!
Der Lustgott Freyr ist nicht nur ein sinnenfroher Lover seiner leiblichen Schwester Freyja – sowie der schönen Riesin Gjerda, de er dann unter Androhung eher übler Zaubereien heiratet (er droht ihr, nicht umgekehrt) – sondern auch ein richtiger Kämpfer. Typisch germanisch, möchte man meinen. Nur: Zu Ragnarök, dem entscheidenden Schicksalskampf der Götter, ist Freyr leider waffenlos – sein magisches Schwert hat er nämlich gerade an einen Kumpel verliehen, weshalb der Kampf auch des Happy Ends entbehrt. Dafür war Freyr vorher ein ziemlicher Zampano: besaß er doch ein Hosentaschen-Faltboot, in das die ganze Götterwelt hineinpasste, oder ein Schwert, das ebenso einen Felsen zerhacken konnte wie stehend im Wasser eine herandümpelnde Flaumfeder spalten – haarscharf.
Der Traum vom perfekten Equipment war demnach auch ein germanischer. Kein Wunder – man braucht sich nur vorstellen, welche Mühe es macht, mit einem wackeligen Ochsenkarren zwischen Wald und Sumpf einherzuzuckeln, und nirgends eine Vertragswerkstatt. Ob es wenigstens Wege gab? Wie man’s nimmt! Echte Völkerwanderer finden wohl immer welche. Inzwischen hat Freyr wahrscheinlich ein rasend schnelles yGod – besser als jedes iPad – das keinen Akku braucht und nie abstürzt … außer, wenn man mal ganz schnell im World Wide Wyrd was „mimirn“ (altnordisch für googeln) muss.
Womit nur gesagt sein soll: Die Geschichten hören nicht auf. Fängt man erst einmal an, sie zu verfolgen, verästeln sie sich geradezu labyrinthisch: Hinter Gängen und Räumen warten weitere Türen; man findet auf Anhieb fast alles, nur keine Wegweiser. Annehmen darf man, dass die überbordende Vielfalt ihrer Götterwelt durchaus germanische Lebensauffassung wiederspiegelt. Die Götter entstammen den Riesen, und am Schluss unterliegen sie diesen. Das Bewusstsein (symbolisiert durch die Götter) entstammt dem Unbewussten (symbolisiert durch die Riesen) – und droht ständig wieder ins Unbewusste, Vorbewusste zurückzufallen: die Geschichte der Welt – nur eine platzende Seifenblase im All. In den dazwischen liegenden Abenteuern sind die Götter ebensowenig perfekt wie die Menschen, denen sie als Vorbilder dienen – das macht ihren praktischen Wert aus.
Nicht unerreichbare Ideale oder ewige Paradiese werden angestrebt, sondern die Fähigkeit, mit den vorhandenen eigenen Macken zurechtzukommen. Immer wieder gefeiert und besungen: die Möglichkeit, trotz eklatanter Schwächen und mancher Chancenlosigkeit durchzukommen, bisweilen zu siegen. Die Altvorderen gaben sich Mühe, diese Mythen spannend und farbig zu gestalten. Spannende Geschichten erzählen – für schriftlose Kulturen das einzige Mittel, praktisches Wissen, Lebensweisheit und (in gewissem Sinne) geschichtliche Entwicklungen und aktuelle Gegebenheiten zu vermitteln.
Sieht man sich die Kultur dieser Geschichtenerzähler an und verfolgt ihre Werdegänge in heutigem historischem Kontext, findet sich eine Erklärung für die Vielfalt: Sie ist ein Ergebnis von nicht nur äußerer, sondern auch und gerade innerer Beweglichkeit: Flexibilität. Germanische Stämme kannten kein “Volks-” oder Nationalgefühl – aber sie schotteten sich nie ab, sondern nahmen alle Einflüsse von außen auf, die ihnen buchstäblich “in den Kram passten” – unter Wahrung ihrer kulturellen Integrität. Die verloren sie erst allmählich unter dem Zeichen des Kreuzes, seines hierarchisch und zentralistisch gesteuerten Kultes und seiner fixen Feindbilder. Den schließlichen Untergang germanischen Stammestums jedoch hat das Christentum als solches viel weniger zu verantworten, als dies (zumindest in weiten Kreisen der Neuheidenszene) angenommen wird. Viele ostgermanische Stämme christianisierten sich auffallend früh und rasch, und mit dem Arianismus kamen auch spätere germanische Stämme jahrhundertelang wunderbar zurecht. Was die Stammeskulturen viel tiefgreifender und nachhaltiger umformte, bis sie schließlich Bestandteile staatsähnlicher Gebilde wurden (was man als definitives Ende historischer Germanenkultur betrachten darf), war vielmehr die Übernahme römischen Rechtssystems und der damit einhergehenden Verfassungskonsequenzen inklusiv deutlich steiler angelegter Hierarchien. Der katholischen Kirche nützte diese Regierbarkeit zunehmend zentral verwalteter definierter Territorialreiche enorm, alleinige Impulsgeberin dieser Entwicklung war sie nicht.
Apropos Hierarchien. In der Edda findet sich ein umstrittenes Gedicht – umstritten deswegen, weil die Forscher sich uneins sind über dessen Entstehungszeit (die wiederum entscheidend dafür sein könnte, ob das Stück überhaupt zum Kanon gezählt werden darf).
Vieles deutet auf „späten“ bis „spätesten“ Einschub (14. Jh.!) hin. Es heißt „Rigsthula“ und kommt scheinbar harmlos – und ohne die sonst üblichen Rätselverse – daher. Aber gerade diese Harmlosigkeit macht es in meinen (etwas misstrauischen) Augen geradezu selbstverräterisch.
Worum geht’s? Beschrieben wird, wie der Gott Heimdall über die Erde wandert und nacheinander in mehreren Menschenhäusern einkehrt und nächtigt, um den dortigen Männern die Frauen auszuspannen, und das auch noch ohne Gummi. Er schwängert sie alle absichtlich. Ich schildere das so flapsig aus moderner Sicht, um klarzumachen, wie uns Heutigen ein- und derselbe Umstand vorkäme und anmutete. Pathetische Ergriffenheit ist hier nämlich ganz und gar unangebracht: vernebelt nur die Sicht auf tatsächliche Inhalte – und deren mögliche Intentionen. Was die Rigsthula erzählen will, ist die sakrale (Be-)Gründung dreier Gesellschaftsschichten: „Heimdall“ zeugt nämlich den Stand der Knechte, den der freien Bauern und den der „Edlinge“. Was diese Geschichte so verdächtig macht, ist nicht nur der Umstand, wie sie erzählt wird, sondern dass. Wenn eine Klassengesellschaft bereits selbstverständlich war seit Generationen (im Sinne eines stammestypischen „schon immer …“-Verständnisses)– warum musste es dem Volk dann nochmal so klar und entschieden eingehämmert werden? Nirgends sonst in der Edda findet Vergleichbares statt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier versucht wurde, eine soziale Umwälzung nachträglich zu mystifizieren (und damit auch zu rechtfertigen). Stil und Duktus der Rigsthula unterscheiden sich von allen anderen Eddagedichten und -erzählungen erkennbar. Könnte es sein, dass diese gesellschaftliche Standesdünkelei dem Volk ursprünglich fremd war – dass sie ihm sozusagen erst beigebracht, in heutigen Worten: „verkauft“ werden musste?
Wie rechtfertigt man das Einrichten hierarchisch steilerer Verhältnisse – besonders jenen gegenüber, die davon eher weniger profitieren? Und was lag dann näher, als einen Gott dafür zu missbrauchen? Eine sakrale Begründung sozialer Zustände findet sich an keiner anderen Stelle der Edda. Viele der sonstigen Verse sind krude, lückenhaft und verrätselt bis zur Schwerstverständlichkeit, zuweilen verlieren sie den Faden oder sich selbst halb im Nichts – selbst bei der (relativ jungen) Völuspa noch ist zumindest die Reihenfolge der Strophen strittig. Aus all dem schimmert die Rigsthula hervor wie ein Paar Lackschuhe zwischen Bundlatschen und abgerissenen Sandalen. Sie ist viel zu rund, um wirklich dazu zu passen. Vielleicht ist sie so klar und deutlich, weil sie nicht zu „altem Überlieferungsgut“ gehörte, sondern dem nachträglich angehängt wurde. Vielleicht diente sie den sich ins Staatlichere wandelnden Verhältnissen zur Rechtfertigung: sozusagen als Propagandapoesie.
Spekulation? Vielleicht. Als erklärter Gegner jeglicher Verschwörungstheorien will ich aber hier nicht selber eine lostreten. Nur zum kritischen Nachdenken anregen: Germanische Mythen von der Entstehung dreier Stämme (z.B.) hatte ja schon weiland Tacitus aufgeschnappt und verewigt. Bloß hatten jene nix mit „Ständen“, mit Einteilungen in Gesellschaftsschichten zu tun. So halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass auf Grundlage solcher vertrauter Mythen am Ende Um- und Ausdeutungen vorgenommen wurden.
Aber wie auch immer! So oder so ging mit und bei der Herausbildung der frühmittelalterlichen europäischen Reiche die Ära der Stammesgesellschaften zu Ende.
Und trotzdem. Germanische Geschichte und Moral ist immer ein einziges, hintersinnig-trotziges “trotzdem”. Die germanischen Götter haben ihren eigenen Untergang, die Römer, die Christen, und die Nazis überlebt, und sie funktionieren noch immer – heute vielleicht besser denn je.
Schlusswort
In Zeiten des Wertewandels findet auch Werteverfall statt, und zur schon länger empfundenen Entfremdung von Instinkt und Natur gesellt sich heutzutage spirituelle Orientierungslosigkeit. Wer heute (z.B. im Internet, aber auch im richtigen Leben) auf Anhänger Wotans stößt, bekommt es sehr häufig immer noch mit (mehr oder weniger verkappten, zuweilen auch nur unbewussten) Rassisten zu tun, die ihre verzerrten Germanenbilder aus denselben Quellen beziehen wie die alten Nazis, und diese braune Soße eifrig weiterreichen. Das ist kein spezifisch deutsches Phänomen, aber in Deutschland ist es am gefährlichsten: denn die Deutschen haben (nach Hitler und wegen ihm) ihre eigene Geschichte verdrängt wie kein anderes Volk.
Wenn die alten Sagen und Mythen, die in vielfältiger Form bis in unsere Märchen hineinreichen, den neuen Nazis überlassen bleiben, ist die Gefahr eine doppelte. Zum einen verliert ein Volk, das sich den eigenen Mythen verweigert, seine Identität. Wer keine Identität spürt, vermisst eine – und lässt sich womöglich eine diktieren. Das war eine der Grundvoraussetzungen für Hitlers Popularität. Zum anderen wird den neuen Rassisten mit den alten Mythen ein Werkzeug in die Hand gegeben, das sie nicht gebrauchen können, ohne es von oben bis unten zu besudeln. Ich hoffe, dazu beitragen zu können, dass es ihnen die Finger verbrennt.
Zum Abschluss möchte ich hier die evangelische Journalistin und Politologin Antje Schrupp zitieren, die (bereits Ende des 20. Jh.) einen vorbildlichen 5-Punkte-Katalog aufstellte, anhand dessen sich sehr gut die Spreu vom Weizen trennen lässt:
Nicht alle Gruppen, die sich auf keltische oder germanische Kultur berufen, sind rechtsradikal. Wenn man hier pauschale Urteile ausspricht, befördert man letztlich den Versuch rechtsradikaler Gruppen, sich als Märtyrer zu stilisieren. Wie aber kann man feststellen, ob eine Gruppe rassistische Ideologie vertritt? Denn wichtig ist diese Beurteilung ja nicht bei denen, die offen ausländerfeindlich, auftreten, sondern gerade bei solchen, die ihren Rassismus in ein spirituelles Gewand kleiden. Dazu hier einige Kriterien:
- Vorsicht, wenn Gruppen, die man nach ihrer Verbindung zu Neonazis fragt, mit einer Kritik an Hitler und der NSDAP antworten. In einem solchen Fall nach Himmler und der SS fragen.
(Nach dem Ende des Nationalsozialismus entstand im rechtsradikalen Milieu die Auffassung, die Hitler-Göring Gruppe und insbesondere die SA sei an dieser Niederlage schuld. Bis heute wird in entsprechenden rechtsradikalen Publikationen die SS als ordensähnlich organisierte Eliteeinheit als Gegenpol zur bürokratisierten NSDAP dargestellt. Nur die NSDAP sei untergegangen, die SS aber bestehe immer noch im Geheimen weiter, etwa indem sie durch Ufos ins Weltall geflogen sei oder in geheimer Mission in die Antarktis ausgewandert, wo sie bis heute den „arischen Genpool reinhalten und pflegen“. Dies zu wissen ist wichtig, wenn sich rechtsextreme Gruppen von Hitler und von der NSDAP distanzieren – sie distanzieren sich nicht vom Nationalsozialismus, sondern beziehen Position in einer nazi-internen Auseinandersetzung.)- Vorsicht, wenn sie viel von Europa reden. Fragen, ob auch Griechenland, Sizilien und Rumänien zu ihrem Europa gehören.
- Fragen, was sie von “gemischtrassigen” Ehen halten und in welcher spirituellen Tradition Kinder aus solchen Ehen stehen. Wenn die Antwort darauf schwammig bleibt, fragen, ob euer senegalesischer Verlobter auch Mitglied in der Gruppe werden kann.
- Vorsicht, wenn die Gruppe sich zwar als nichtrassistisch verstehen will, aber immer betont, dass sie unpolitisch sei. Wirklich nichtrassistische Heiden und Heidinnen haben ihr Verhältnis zum rechtsextremen Heidentum reflektiert und verstehen sich insofern durchaus als politisch.
- Vorsicht, wenn auf geheime Traditionen Bezug genommen wird, wenn behauptet wird, die „Wahrheit“ über keltische oder germanische Religiosität zu kennen. Heiden, die wirklich an dieser Tradition interessiert sind, wissen, dass man darüber nichts weiß, und geben zu, dass sie ihre Rituale zu einem großen Teil neu erfunden haben.
(Antje Schrupp)
Dem möchte ich nur noch meine persönliche Abwandlung jenes Met-Blödelverses hinzufügen, mit dem mein Artikel begann:
Die neuen Nazis krakeelen
Diesseits und jenseits des Rheins
Sie bauen auf Trümmern
Ihr Reich aus Irrtümern
Von Odin kriegen sie keins.
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Dem ist ausser „DACAPO“ nichts hinzu zu fügen…..