Gjallarhorn Weblog

„Zeit-online“-Artikel über Wicca: Nur schlecht recherchiert?

Es ist leider keine Seltenheit, dass bei Artikel der Online-Ausgaben renommierter Zeitungen das Beste die Kommentare sind. Jedenfalls für routinierte Online-Leser, die imstande sind, Trollkommentare geistig auszublenden und nur substanzielle Kommentare zu lesen.

So ein Artikel erschien am 26. 6. 2011 in der „Zeit online“:
Die Hexe von East Village. (Übrigens ein Artikel, der zuvor in der gedruckten „Zeit“ erschienen war – also keine „typische Online-Schlamperei“.)

Auf den ersten Blick ist es ein typischer Artikel über den Alltag nicht-alltäglicher Menschen, eine „Human Interest“-Story: Eva Schweitzer schreibt über die Hexe – genauer gesagt: Wicca-Priesterin – Starr in New York City und erzählt den deutschen Lesern nebenbei etwas über „neuheidnische Kulte“ in den USA.
Genau das, was sie über die „neuheidnischen Kulte“ berichtet, ist für Heiden ein echtes Ärgernis.
Das heftigste Ärgernis ist das, was Frau Schweitzer über Ásatrú zu berichten weiß:

Ásatrús glauben, dass die weiße Rasse die »Schlammrassen« niederhalten müsse.

Der Kommentar Duke Meyers (unter anderem ein Gode der Nornirs Ætt) zu diesem Unsinn:

Hanebüchen!

Zu behaupten, Rassismus sei Inhalt von Ásatrú, ist ähnlich gedankenlos, wie z.B. Pädophilie für einen Bestandteil der Kirchenlehre zu halten – oder von einer einzigen Zeit-Redakteurin, der offenbar schon ein Blick in Wikipedia zu anstrengend war, darauf zu schließen, dass Recherche in der gesamten Zeit-Redaktion zu den verpönten Praktiken gehöre.

Vielleicht war die Verfasserin aber auch nur erschrocken darüber, dass Gleichstellung für alle gilt? Anders lässt sich der Tenor des Artikels, Minderheiten grundsätzlich in die Nähe von Rassisten und Spinnern zu rücken, um ihnen die Gleichstellung zu verwehren, nicht erklären.

Für diese erfolgreiche Torpedierung jahrelangen Engagements heidnischer Strömungen gegen die Unterwanderung und Vereinnahmung durch Rassisten und Neonazis dürfte Ihnen der Dank Letzterer sicher sein.

Es ist tatsächlich so, dass ausschließlich „Nazitrus“ wie die Rassisten der „Artgemeinschaft“ sich in dem Satz „Ásatrús glauben, dass die weiße Rasse die »Schlammrassen« niederhalten müsse“ wiedererkennen können. Und selbst diese selbsternannten Hüter der germanischen Art wären über die Bezeichnung „Schlammrassen“ wahrscheinlich befremdet. Es mag ein Zufall sein, dass das an den aus Harry Potter stammenden Begriff Schlammblüter erinnert, ein sehr beleidigender und herabwürdigender Ausdruck für magische Menschen, deren Eltern Muggel sind.
Dazu passt, dass Schweitzer von Gerald Gardner, dem Begründer der modernen Wicca-Religion, behauptet:

Seine Bücher lesen sich denn auch wie ein Amalgam aus Tolkien und Harry Potter.

Da ich sowohl Gardners „Witchcraft Today“ wie etliche Romane J. R. R. Tolkiens und Joanne K. Rowlings gelesen habe, kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass das nicht stimmt.

Da Frau Schweitzer sich immerhin die Mühe gemacht hat, Starr in ihrer Wohnung (bzw. ihrem Laden) zu besuchen und zu interviewen, ist nicht anzunehmen, dass sie keine Zeit gefunden oder die Mühe gescheut hätte, sich einmal kurz in der Wikipedia über Neopaganismus, Wicca und auch Ásatrú schlau zu machen. Ich vermute, dass die anscheinend ungenügende Recherche nicht das eigentliche Problem bei „Die Hexe von East Village“ ist.

Schon im ersten Absatz fällt auf, dass Frau Schweitzer Wicca offensichtlich für etwas Exotisches hält:

Sie lebt, für eine Hexe vielleicht etwas ungewöhnlich, im East Village in New York.

Nun, ich wüsste nicht, was daran ungewöhnlich sein sollte. Es gibt schließlich auch moderne Hexen in Hamburg-Altona, Berlin-Neukölln oder Wien-Leopoldstadt. Fast kommt es mir so vor, als würde die Journalistin davon ausgehen, dass Hexen normalerweise tief im Wald wohnen würden.

Im vierten Absatz steht sozusagen der Schlüsselsatz des Artikels:

In den USA sind auch Religionen anerkannt, die hierzulande mit großem Argwohn betrachtet werden – und so ist Starr eine staatlich anerkannte Wicca-Priesterin.

Da stellt sich die Frage: Wer betrachtet hierzulande diese Religionen mit Argwohn? Offensichtlich ist nur, dass Frau Schweitzer zu den Argwöhnischen gehört.
Außerdem erwähnt sie in ihrem Artikel nicht, was eine „staatliche Anerkennung“ einer Kirche in den USA bedeutet: sie erfolgt durch die Steuerbehörden und bedeutet im Grunde weniger als die Anerkennung eines gemeinnützigen Vereins. Davon unabhängig ist der während Bill Clintons Präsidentschaft erlassene „Religious Land Use and Institutionalized Persons Act“. Wie Starr vorher im Artikel sagt, muss man, um als „Institutionalized Person“ anerkannt zu werden, nur eine Gemeinde nachweisen, für die man seelsorgerisch tätig ist.

Zu diesem „Religious Land Use and Institutionalized Persons Act“ heißt es im Artikel:

Gedacht war Clintons Gesetz eigentlich für die Wahrung der Rechte von Juden, Muslimen, Hindus oder Sikhs, aber bald beriefen sich auch Paganisten darauf.

Diese Formulierung legt nahe, dass die Paganisten „Trittbrettfahrer“ wären. Vielleicht schwingt da die bei uns weit verbreitete Vorstellung mit, dass es ein paar renommierte „richtige“ Religionen und viele „Sekten“ gäbe. Tatsächlich ist das Gesetz für alle Bekenntnisse gedacht, wichtig ist allein, dass es eine Gemeinde und Seelsorger gibt.

2005 verklagten fünf Gefängnisinsassen den Staat Ohio: ein Wicca, ein Satanist, zwei Anhänger eines Odinkultes und ein Ásatrú – Ásatrús glauben, dass die weiße Rasse die »Schlammrassen« niederhalten müsse. Die fünf wollten ihre Rituale im Gefängnis praktizieren und bekamen recht.

Da hat Frau Schweitzer zwar recherchiert, aber offensichtlich etwas falsch verstanden oder sich falsch erinnert. Im Wikipedia-Artikel zu diesem Prozess Cutter v. Wilkinson steht nämlich:

The case was brought by five residents of an Ohio prison, which included two adherents of Asatru, a minister of the white supremacist Church of Jesus Christ Christian, a Wiccan and a Satanist.[2]

Also zwei Ásatrú-Anhänger („Anhänger eines Odinkultes“), ein Pfarrer einer rassistischen christlichen Kirche, ein Wicca und ein Satanist!

Auch innerhalb der Kulte bestehen Differenzen: So gibt es einerseits germanische, andererseits skandinavische Ásatrú, und die meisten Hexen grenzen sich vom weißen Herrenrassenwahn ab.

Dass es Differenzen zwischen kontinentalgermanisch (da heißt der Alte „Wodan“ und der Donnerer „Donar“) und skandinavisch (sprich nordgermanisch – da heißt der Alte „Odin“ und der Donnerer „Thor“) orientierten Ásatrú gäbe, wäre mir neu. Wichtiger sind die Differenzen zwischen „ethnischen“ bzw. „völkischen“ Ásatrú (nur für Menschen nordeuropäischer Abstammung) und solchen, die spirituelle Rassentrennung entschieden ablehnen. Nicht nur die meisten Hexen, sondern auch die meisten Ásatrúar grenzen sich vom „weißen Rassenwahn“ ab!

Warum schließt sich eine schwarze Kanadierin einer Religion an, die auf irische Kelten zurückgeht?

Würde Frau Schweitzer auch fragen: „Warum schließt sich eine schwarze Kanadierin einer Religion an, die auf levantinische Semiten zurückgeht?“, wenn Starr zum Judentum konvertiert wäre? Oder sinngemäß auf „Araber“, hätte sich sich für den Islam, „Inder“ hätte sie sich für den Buddhismus entschieden?

Das Problem ist, dass Frau Schweitzer offensichtlich voreingenommen an die Recherche heranging. Ich will nicht so weit gehen, zu behaupten, sie würde zu jenen Gesinnungsjournalisten gehören, die schon vor einer Recherche genau wissen, was sie hinterher schreiben werden, aber der Tenor des Artikels, Heiden die Nähe von Rassisten und Spinnern zu rücken, ist tatsächlich nicht zu übersehen!

5 Gedanken zu „„Zeit-online“-Artikel über Wicca: Nur schlecht recherchiert?

  • Danke Duke, für diesen Artikel. Ich kann deine Ansichten nur bestätigen.

  • Danke Aettlinge, für die sachliche und präzise Aufklärung. Vielleicht sollte man in den Kommentaren gleich mal auf den Artikel verlinken… frei nach dem Motto, je mehr Leute auf den Mist aufmerksam machen, umso größer wird die Chance dass die begreifen, was sie da gemacht haben.

    Grüße von der H.i.k.F.-Kampagne
    Lysanca

  • Danke Duke, für diesen Text.

  • Bodvos, von Duke ist der zitierte Kommentar „Hanebüchen! …“. Der Artikel ist von mir.
    MartinM

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