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Wandel

Wir leben in einer Zeit des schnellen Wandels.
Das ist nichts Neues, denn Zeiten des schnellen Wandels gab es in der Menschheitsgeschichte schon einige Male. Im Nachhinein wurden sie „Wendezeiten“, „Zeitalter der Revolutionen“, „Umsturzzeiten“ oder auch „Epochen des Chaos“ genannt. Als Beispiel nenne ich die Zeit von der Amerikanischer Revolution (Unabhängigkeitskrieg der USA) seit 1774 bis zum Wiener Kongress und dem endgültigen Sturz Napoleons 1815. In diese rund 40 Jahre dauernde Epoche fällt nicht nur die Französische Revolution, sondern auch die erste Phase der Industriellen Revolution. Es veränderte sich im Leben auch der „einfachen Menschen“ so viel, dass die angeblich so turbulente zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dagegen ruhig und berechenbar verlief. Übrigens war auch die Zeit der „Völkerwanderung“ die eines beschleunigten Wandels, jedenfalls für weite Teile Europas – einem Wandel, dessen Profiteure ganz klar zu benennen sind: Es waren Germanen.
Nicht „die Germanen“, denn die hat es nie gegeben, als „Rasse“, Einheit oder Staat. Sondern höchst unterschiedliche Stämme und Völkerschaften, die einige kulturelle Merkmale gemeinsam hatten. Unter denen ihre Wandlungsfähigkeit besonders hervorzuheben ist.
Ihr Erfolgsrezept war Anpassungsfähigkeit. Das Wenigste von dem, was die Goten, Burgunder, Vandalen, Langobarden, Alemannen und wie sie alle genannt wurden, taten, ist aus heutiger Sicht nachahmenswert. Ihre Beireitschaft, dazu zu lernen, fremde Ideen und fremde Menschen zu integrieren, ihre Kultur anzupassen, ohne sie aufzugeben, sind es schon.
Wenn wir, als germanische Heiden, uns auf die Germanen berufen, dann auf diese wertvolle Eigenschaft, die es auch bei anderen Kulturen gab, zu anderen Epochen waren es Kelten, zu wieder anderen Slawen, zu anderen Turkvölker usw. die diese kulturelle Lern- und Wandelbereitschaft hatten.
Sowohl nationalromantische Germanentümler wie ihre Gegner vergessen regelmäßig, dass es bei „den Germanen“ weder „Rassen“-Denken noch unbedingtes Führerprinzip gab. Auch die Idee einer Bindung an „Blut und Boden“ war den historischen Germanen fremd, wie die Ereignisse der Völkerwanderungszeit deutlich belegen. Die Völkermischungen von Germanen und Kelten, die die Ausgrabungen beispielsweise im Rheinland zeigen, oder auch die Integration des asiatischen Reitervolkes der Alanen durch die Vandalen sprechen eine deutliche Sprache.
Auch die Römer „erfanden“ sich einige Male in ihrer Geschichte „neu“. Die Römer verehrten sogar eine Göttin des Wandels und des Wachstums, die Dea Dia. Mit „Wachstum“ meinten die alten Römer allerdings nicht das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes oder der Konsumgüterproduktion oder dergleichen, und übrigens auch nicht die Expansion ihres Weltreiches, sondern das Wachsen der Vegetation, den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten und der Lebensalter, der Entwicklung jedes Lebens. Wandel ist Leben.

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DEA DIA
Foto: Sven Scholz.
Eine Göttin, die die aus drei „Ættlingen“ bestehende Band „Singvøgel“ in ein eindrucksvolles Stück Musik umgesetzt hat. Dea Dia.

Wurzel allen Willens!
Wille allen Wandels!
Wachstum aller Welten!
Wachstum aller Weisheit!

Was bei allen Epochen des schnellen Wandels auffällt, ist, dass Beharren auf dem Althergebrachten in Zeiten wie diesen ein sicheres Rezept fürs Scheitern ist. Das Römische Reich zerbrach nicht zuletzt an seiner Erstarrung, fälschlicherweise für „Stabilität“ gehalten. Die Dea Dia, die Göttin des Wandels, war sowohl in wörtlicher wie in übertragener Bedeutung in Vergessenheit geraten.
Das Oströmische bzw. Byzantinische Reich überlebte diese Zeit um einige Jahrhunderte, indem es sich anpasste. Irgendwann aber erstarrte auch es im sprichwörtlichen Byzantinismus und verlor mehr und mehr an Bedeutung.

Übrigens ist es auch in der Biologie so. Evolution bedeutet Artenwandel, also die Veränderung der Arten. Wer besser an eine sich wandelnde Umwelt angepasst ist als andere, überlebt – das ist es, was mit „Survival of the fittest“ gemeint ist, und nicht etwa „das Recht des Stärkeren“. Der Erfolg des Wandels beruht oft auf Phänomenen wie der Mimikry: Nachahmung bzw. Täuschung. Organismen, die im Laufe der Evolution ihr Äußeres so angepasst haben, dass sie von ihren „Fressfeinden“ mit anderen, ungenießbaren, giftigen oder gefährlichen Arten verwechselt werden, überleben mit größerer Wahrscheinlichkeit und können so ihre Gene erfolgreich an die nächste Generation weitergeben. Ohne jetzt einem „naturalistischen Fehlschluss“ zu erliegen, ist die Mimikry das Phänomen in der biologischen Evolution, dass der Überlebensstrategie z. B. der Goten in kulturellen Evolution am Nächsten kommt.
Wenn jetzt Schlaumeier sagen: „Wo sind die Goten, Vandalen, Langobarden usw. denn geblieben?“ dann könnte ich antworten: „Ohne sie würde es das Abendland nicht geben.“

Es ist meines Erachtens übrigens kein Zufall, dass Menschen, die von der ewigen und einzigen Wahrheit und Unabänderlichkeit ihrer religiösen Offenbarung felsenfest überzeugt sind, auch in aller Regel mit der biologischen Evolution nichts anfangen können.

Es gibt, vereinfacht gesagt, zwei Arten Menschen, die mit Wandel unterschiedlich umgehen. Die Neophilen und die Neophoben. Das ist jetzt ganz grob und als Koordinatensystem zur Orientierung zu verstehen, nicht als „Schublade“.
„Neophil“ bedeutet: das „Neue liebend“. Das heißt nicht, das Menschen mit neophilen Neigungen immer allem hinterherlaufen, was gerade „neu“, „in“ oder nur „modisch“ sind. Man kann Neophile auch nicht einfach als „fortschrittsgläubig“ bezeichnen, und auch „progressiv“ trifft es nicht ganz.
Nein, Neophile mögen den Wandel. Sie sind experimentierfreudig, begrüßen im Großen und Ganzen technischen und sozialen Fortschritt – wenn es in ihren Augen wirklich Fortschritt ist. Und sie schwärmen meistens für moderne Technik. Neophile sind neugierig. Tatsächlich ist Neugier das typische Merkmal der Neophilen.
Natürlich sehen auch die mögliche Gefahren, auch solche, die mit moderner Technik verbunden sind, aber sie sehen sie eher in einem Missbrauch technischer oder organisatorischer Möglichkeiten, als in der Technik selbst.
Es kann aber sein, dass extreme Neophilie in Unrast, und in Lust auf Veränderung der Veränderung willen umkippt. Die Dosis macht das Gift!

„Neophob“ bedeutet: das „Neue fürchtend“. Das ist nicht unbedingt das selbe wie konservativ. Um den Unterschied zu verdeutlichen: Konservativ wäre eine Aussage wie:

„Die Familie hat sich als Institution und Keimzelle der Gesellschaft bewährt, deshalb wäre es falsch, sie infrage zu stellen, und deshalb sollten Familien unterstützt werden“.

Neophob wäre die Aussage:

„Es gibt keine brauchbare Alternative zur Familie, wie sie nun einmal ist. Alle Versuche, die hergebrachte Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kindern durch andere Modelle, von der Patchwork-Familie über die Homo-Ehe mit Adaptionsrecht bis zu ‚Kommunen‘ zu ersetzen, sind gefährlich und daher entschieden abzulehnen. „

Neophobie kann anderseits eine Überlebenstaktik sein – es gibt Situationen, in denen Neugier tödlich sein kann und Angst vor Veränderung Schutz. Auch hier gilt: es ist eine Frage der Dosis.

Obwohl wir in Zeiten des beschleunigten Wandels leben – neue Medien und Techniken, Wirtschaftskrise, neue Demokratieformen, neue Wirtschafts- und Militärmächte, Klimawandel usw. – sind die „Eliten“, die „Entscheider“ in Wirtschaft, Politik und Medien und ihre Berater, jedenfalls in den „alten westlichen Industrienationen“ und vor allem in Deutschland unübersehbar neophob. Da Neophobie es schwer macht, mit Wandel umzugehen, dürfte diese Haltung fatale Folgen haben.
Warum ist das so? Nahezu eine Binsenwahrheit ist es, dass es „unseren“ „Eliten“, der Minderheit in unserer Gesellschaft, denen es besser denn je geht, fürchten, dass jede Veränderung des Status Quo für sie nachteilig sein wird.
Eine – aus ihrer Sicht – berechtigte Angst.
Warum sind aber auch viele „Verlierer“ in Deutschland neophob? (Und neben angemerkt, auch in Österreich – die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich sind in solchen Fragen vernachlässigbar klein.)
Auch da spielt die Angst eine wichtige Rolle. Eine in der Regel unberechtigte, aber allgemeine Angst. Berechtigte Angst vor Veränderungen kann Schutz sein. Unberechtigte Ängste verhindern dagegen notwendigen Wandel.

Angst spielt im heutigen Bewusstsein eine zentrale Rolle. Nicht nur in Deutschland – die „German Angst“ ist in den USA geradezu sprichwörtlich – werden unterschiedlichste Themen durch die „Angst-Brille“ gesehen.
Angst und Angstabwehr spielten schon im frühen 20. Jahrhundert eine problematische Rolle im politischen Handeln, man denke an die Ursachen des 1. Weltkrieges oder an den Aufstieg der Nazis in Deutschland; und die Jahre des „Kalten Krieges“ kann man ohne weiteres als Zeitalter der Angst charakterisieren. Aber erst in den letzten Jahrzehnten, in denen eine große Anzahl konkreter und eine noch größere Zahl abstrakter Ängste kultiviert worden sind, durchdringt die „Kultur der Angst“ fast alle Lebensbereiche.

Ob das Ausmaß der Angst tatsächlich zugenommen hat, kann ich nicht sagen. Ich nehme an, dass es sich selbst mit Methoden der Demoskopie nicht erfassen ließe, von einem historischen Vergleich etwa mit der Situation des Jahres 1953 oder 1913 gar nicht zu reden. Schon Begriffe „Angst“, „Furcht“ oder „Gefahr“ unterliegen einem Bedeutungswandel, der historische Vergleiche erschwert. „Furcht“ bedeutete z. B. ursprünglich „Respekt“, was in Begriffen wie „Ehrfurcht“ oder „Gottesfurcht“ anklingt. Ein Begriff, der sich in der Umgangssprache in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat, ist das „Risiko“ – Begriffe wie „lohnenswertes Risiko“ tauchen heute so gut wie nicht mehr auf. „Risiko“ wird zunehmend als Synonym für „Gefahr“ oder „Bedrohung“ gebraucht.
Man kann aber indirekt, aus dem Verhalten der Menschen, schließen, wovor und wie stark sie Angst empfinden. Wenn man sich vor Augen hält, wie stark etwa die Nachfrage nach Alarmanlagen oder komplizierter Schließsysteme, oder die Überwachung des öffentlichen Raums in den letzten 20 Jahren zugenommen hat, dann lässt das darauf schließen, dass offensichtlich auch die Angst vor Kriminalität zugenommen hat (bei real stagnierender oder sogar sinkender Kriminalitätsrate). Hingegen bleibt offen, ob etwa die Kriegsangst heute größer oder geringer als 1993, 1973 oder 1953 ist.

Neben den „großen“, medial aufbereiteten Katastrophenängsten (Terrorismus, Klimawandel, Energieverknappung, Kollaps der Wirtschaft, Zusammenbruch des Sozialstaates usw.) äußert sich die Angstkultur auch in Form zahlreicher „kleiner“ Alltagsängsten.
Es gibt begründete Alltagsängste, wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit, Ängste mit einem realen Grund, der aber weit überschätzt wird, wie die schon erwähnte Angst vor der (angeblich) zunehmenden Kriminalität, und völlig irrationale Ängste, wie die Angst vor dem „Anderen“, dem „Fremden“, dem „Ungewohnten“.
Die Angst vor dem „Fremden“ äußert sich nicht nur in Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Sexismus oder Anti-Islamismus, sondern auch in der Angst vor unverstandener, und deshalb „unheimlicher“ Technik. Ein Musterbeispiel ist „das Internet“ – je weniger Ahnung jemand davon hat, desto größer sind in der Regel die Ängste, die sich mit diesem Medium und dem durch es verbreiteten Inhalte verbinden. Die größte Quelle der Angst ist dabei, dass das Internet kein „top down“ kontrolliertes Medium ist – jeder kann „ungefragt seine Meinung im Internet absondern“. Wie überhaupt Angst vor Kontrollverlust die politisch bedeutsamste Form von Angst sein dürfte.

Ich warne dabei vor einem weit verbreiteten Missverständnis: wer z. B. über die Funktionsweise eines Kernreaktors und die Problematik nuklearer Abfälle Bescheid weiß, der hat zwar in der Regel auch weniger Angst vor der „Atomkraft“, was aber nicht heißen muss, dass derjenige damit automatisch zum Kernenergie-Befürworter werden würde – tatsächlich ist eher das Gegenteil der Fall. Wer sich auskennt, ist meistens auch skeptisch.
Risikobewusstsein, und damit einhergehend das Bewusstsein für Gefahren, und Angst sind nicht dasselbe. Ein guter Autofahrer ist sich der Gefahren des Straßenverkehrs bewusst, und fährt entsprechend vorsichtig, hat aber keine Angst vor dem Straßenverkehr. Angst ist etwas Absolutes, erlaubt kein Abwägung von Risiken mehr – habe ich Angst vor Hunden, dann jagt mir auch der freundlichste Zwergpudel Schrecken ein.

Norbert Elias schrieb in „Über den Prozess der Zivilisation“, dass Angst einer der wichtigsten Mechanismen sei, durch den

„(…) die Strukturen der Gesellschaft in psychologische Funktionen des Individuums übertragen werden (…)“,

und folgerte, der zivilisierte Charakter werde zum Teil durch diesen Prozess der Internalisierung von Angst konstruiert. Internalisierung meint, dass es für die Angst keinen konkreten Anlass geben muss, und auch niemanden, der uns Angst macht – die Angst ist sozusagen in unsere Persönlichkeit „eingebaut“. Etwa die Angst vor Prestigeverlust oder die Angst davor, schuldig zu werden.
Lange vor Elias betrachtete der englische Philosoph Thomas Hobbes die Angst als entscheidend für die Entwicklung des Individuums und einer zivilisierten Gesellschaft. Weil Hobbes glaubte, der „Naturzustand“ sei ein brutaler Kampf jeder gegen jeden, und der Staat sei eine Einrichtung, die den Einzelnen zu seinem eigenen Besten diszipliniert, hielt Hobbes Angst für etwas Positives.

Gefahren lösen nicht direkt Angst aus, sondern unsere Reaktionen werden durch kulturelle Normen vermittelt, die uns sagen, was von uns erwartet wird, wenn wir in Gefahr sind, ob etwa eine Gefahr mit Angst besetzt ist, wie diese Angst erlebt wird und wie sie „angemessen“ ausgedrückt wird.
Typisch für Angst ist, dass das Ausmaß der Angst nicht direkt dem Ausmaß des Risikos entspricht – klassisches Beispiel ist die Angst vor sexuell motivierten Verbrechen an Kindern: die meisten Menschen überschätzen das Ausmaß der Gefahr (etwa 20 Fälle pro 100.000 Einwohnern, Spanner und Exhibitionisten eingerechnet) und schätzen die Richtung, aus der sie kommt, falsch ein (die meisten dieser Verbrechen werden von Angehörigen oder engen Bekannten verübt).
Da Angst (auch) sozial konstruiert ist, kann sie auch von denen manipuliert werden, die sich davon Vorteile versprechen.
Im Fall der Sexualverbrechen an Kindern gilt, dass ohne Multiplikatoren, die einfach Behauptungen wie „jedes Jahr werden etwa 20.000 Kinder zu Opfern sexueller Gewalt“ in den Raum stellen oder (wahrheitswidrig) behaupten, es gäbe „immer mehr“ Sexualverbrechen an Kindern, die Angst sehr viel geringer wäre. Dabei handelt jemand, der Angst manipuliert, nicht unbedingt aus kalter Überlegung heraus – es dürfte der Normalfall sein, dass Manipulatoren die Ängste, die sie vermitteln, auch selbst empfinden.

Was die Dinge angeht, die uns ängstigen, fällt auf, dass die meisten dieser Ängste durch die Medien kultiviert wurden und nur wenige Resultat direkter Erfahrungen sind.
Trotzdem halte ich es für falsch, Angst in erster Linie der Macht der Medien, oder den Machenschaften sich der Medien bedienender Manipulatoren, zuzuschreiben. Angst hat auch sehr viel mit „Vereinzelung“ und Machbarkeitsdenken zu tun: wenn ich glaube, ich sei „selbst meines Glückes Schmied“ (und zwar in jedem Fall), dann glaube ich auch, dass meine Probleme, Sorgen und Krisen von mir selbst erzeugt wurden – ich bin „selber schuld“ wenn es mir schlecht ergeht. Infolge dessen werde ich jede meiner Handlung auf mögliche Gefahrenquellen untersuchen und stets sorgsam darauf achten, alles richtig zu machen – und wenn es doch schief geht, vermuten, ich hätte trotz Sorgfalt einen „Fehler begangen“. Am Ende ist alles, was ich tue oder lasse, mit der Angst, etwas falsch zu machen, besetzt.
Noch etwas fällt auf: die meisten durch die Medien vermittelten Ängste richten sich auf abstrakte Gefahren, also etwa „die Kriminalität macht mir Angst“ und nicht etwa die konkrete Gefahr, dass mir ein Taschendieb das Portemonnaie klauen könnte. Gegen Taschendiebe kann ich mich unter Umständen wirksam schützen, ich kann aus Erfahrung das Ausmaß der Gefahr abschätzen, ich weiß, in welchen Situationen diese Gefahr droht – bei „DER Kriminalität“ geht das nicht: „Das Böse ist immer und überall“, abstrakte Ängste, denen keine konkreten Bedrohung mehr zugeordnet werden können, sind allgegenwärtig, unvorhersehbar und maßlos. Die Gefahr, dass zur abstrakten Angst eine „passende“ (maßlose) konkrete Bedrohung gesucht und gefunden wird, und dass diese Bedrohung dann personalisiert wird, ist real – und eine ständig sprudelnde Quelle sowohl für Verschwörungstheorien wie auch z. B. für Rassismus. Diffuse Ängste gebären Hexenjagden – was übrigens wörtlich genommen werden kann.

Wenn Ängste zunehmen, dann liegt das auch daran, dass abstrakte Ängste konkrete Ängste verstärken. Seit dem 11. September 2001 hat sich die abstrakte Angst vor dem Terror weit verbreitet und Einzug in fast alle Lebensbereiche gehalten. In den Jahren seit dem „11. September“ sind früher als „normal“ betrachteten Gefahren, etwa die der Passfälschung, wenn sie mit dem Terrorismus verknüpft werden, zu enormen Bedrohungen aufgewertet worden, womit dann jede noch so drastische Maßnahme zu Abwehr dieser enormen Bedrohungen legitim erscheint. Die Frage nach der Effizienz der Mittel zur Terrorismusbekämpfung wird nicht mehr gestellt, es reicht aus, wenn das Mittel effektiv zu sein verspricht.
(Ein Vorschlaghammer ist ein effektives Mittel gegen eine in der Wohnung umherschwirrende Mücke, ist für diesen Zweck aber höchst ineffizient.)
Wer ständig in Angst lebt, zumal in „abstrakter“ Angst, gegen die man wenig tun kann, wird verunsichert.
Damit sind wir wieder beim Wandel, denn Verunsicherung fördert die Angst vor dem Wandel. Diese aus Verunsicherung geborene Angst vor dem Wandel führt nicht etwa zu einer gewissen Skepsis gegenüber Neuerungen, also einem gesunden Pessimismus, sondern zur zwanghaften Neigung, stets von jeder Veränderung das Schlimmste zu befürchten. Zur Neophobie.
Und Neophobie ist ein ziemlich sicheres Rezept, in einer Zeit des schnellen Wandels zu scheitern.

Darum will ich wandern übers Land
In vielen Gestalten, unerkannt
Ich bin das Feuer unterm Beton
Der Frost, der alle Rohre sprengt
Ich bring Wandel unserer Zeit!

Ich bin die Flut
Ich spüle den Dreck aus den Kanälen hoch
Ich bring Wandel
Wandel unserer Zeit!

Ich bin der Herzschlag gegen den Takt
Ich bin der Schrei der Sehnsucht nach Wandel
Wandel unserer Zeit

Aus Wandel (von Karan).

Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht.

(Franklin D. Roosevelt)
Ein Ausspruch, der auch von einem „alten Germanen“ hätte stammen können!

Martin Marheinecke, Januar 2013, unter Verwendung älterer Blogbeiträge (und einiger interessanter Gedanken Sven Scholz‘ ).

2 Gedanken zu „Wandel

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