„Vielweiberei“ bei den „Wikingern“ – oder: Alter Käse, neu überbacken
Sie sind nicht totzukriegen, die monokausalen Erklärungsmodelle für komplexe historische Vorgänge. Egal, ob es um „die“ Ursache für den Untergang des (West-)Römischen Reiches geht, um „die“ Ursache für die koloniale Expansion Westeuropas in der Frühen Neuzeit (gemeinhin unter der gleich mehrfach irreführenden Bezeichnung „Zeitalter der Entdeckungen“ bekannt) oder „die“ Ursache der Wikingerüberfälle. Wobei Sachkenner, und zwar weit über den Kreis der Fachwissenschaftler hinaus, selbstverständlich wissen, dass monokausale Erklärungsmodelle nicht funktionieren. Das ändert aber nichts daran, dass sie im Boulevardjournalismus sehr beliebt sind – und bei Ideologen.
[…]Die Zeit zwischen 750 und 1050 gilt als Ära der Wikinger, die in diesem Zeitraum in ganz Europa Siedlungen überfielen. Dazu, was zu diesem Phänomen führte und beitrug gibt es viele Hypothesen, die vom Klimawandel bis zur technischen Entwicklung in der Seefahrt reichen. Die drei Archäologen Ben Raffield, Neil Price und Mark Collard haben diesen Erklärungsansätzen in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift Evolution & Human Behavior jetzt eine weitere hinzugefügt: Die Vielweiberei.[…]
Vielweiberei als Ursache für Wikingerüberfälle – Artikel von Peter Mühlbauer auf „telepolis“.
Dass im vorchristlichen Nordeuropa Ehegewohnheiten üblich waren, die sich entschieden von den in christlich geprägten Gesellschaften angestrebten unterschieden, ist ein uralter Hut, und die These, dass diese „Vielweiberei“ an der Expansion der „Wikinger“ „schuld“ wäre, findet sich schon bei Dudo von St. Quentin – was die Autoren des Aufsatzes ja auch zugeben. Die Behauptung, sie seien die ersten, die nicht nur behaupteten, dass die „Vielweiberei“ Ursache der „Wikingerüberfälle“ gewesen wäre, sondern das mit archäologischen Befunden und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert hätten, halte ich für ziemlich gewagt.
Tatsächlich interessant am Aufsatz „Male-biased operational sex ratios and the Viking phenomenon: an evolutionary anthropological perspective on Late Iron Age Scandinavian raiding“ ist ein anderer Punkt: Aus Kulturvergleichen lässt sich ableiten, dass riskantes Verhalten, zu dem Teilnahme an Raubzügen gehört (aber auch Handelsexpeditionen und Siedlungsgründungen, die ja ebenfalls für die „Wikingerzeit“ typisch sind) zwecks Statusverbesserung umso wahrscheinlicher ist, je stratifizierter eine Gesellschaft ist. (Also je stärker die Klassenunterschiede in einer Gesellschaft sind und je ungleicher Wohlstand und Privilegien verteilt sind.) Wer wenig zu verlieren hat, wagt mehr, um reicher und einflussreicher zu werden. (Das ist fast eine Binsenweisheit, die aber erstaunlich oft verdrängt wird.)
Aus Schriftquellen und archäologischen Funden ist schon lange bekannt, dass die bäuerlichen Gesellschaften Nordeuropas bis zur späten Eisenzeit realtiv egalitär waren. Die soziale Mobilität war groß, auch wenn es bereits deutlich voneinander geschiedene Klassen und deutliche Unterschiede im persönlichen Reichtum gab. Polygynie und Konkubinat waren in solchen relativ egalitären Gesellschaften weitaus weniger brisant, als in Gesellschaften, in denen sich z. B. „der König“ unzählige Frauen leisten konnte, „Freie Bauern“ immerhin eine Ehefrau, während viele „einfache Männer“ leer ausgingen.
Es ist sicher kein Zufall, dass auf die blutige „Wikingerzeit“ bald das noch blutigere „Zeitalter der Kreuzzüge“ folgte, an denen Männer aus normannisch geprägten Kulturen maßgeblich beteiligt waren. Denn obwohl nach der Christanisierung die Monogamie moralischer Standard wurde, änderten sich die realen Verhältnisse in den immer ungleicher werdenden Freudalgesellschaften ja nicht. Auch christliche Könige „von Gottes Gnaden“ hielten sich zahlreiche Konkubinen; selbst unter geistlichen Fürsten wie Bishöfen war das völlig üblich.
Die Tatsache, dass in isländischen Sagas polygyne Ehen nur selten vorkommen, muss nicht allein der seit etwa dem Jahr 1000 einziehenden christliche Ehemoral geschuldet sein: Die isländischen Gesellschaft war deutlich demokratischer organisiert und ihr Reichtum weniger ungleich verteilt als z. B. in den extrem ungleichen Feudalstaaten Mitteleuropas.
Es ist auch nicht zwingend so, dass der Frauenmangel unter den frühen isländischen Siedlern zwangsläufig zum Frauenraub geführt hätte. Sicherlich waren viele der irischen und schottischen Frauen, von denen heutige Isländer abstammen, nicht freiwillig dorthin ausgewandert. Sklavenhandel war schließlich nachweislich ein wichtiger Wirtschaftszweig der „Wikingerzeit“ und Sklavenhaltung war weit verbreitet. Anderseits war die soziale Stellung der Frauen im mittelalterlichen Island besser als in den immer stärker feudalisierten Gesellschaften Westeuropas. Daher müssen die Geschichten von Frauen, die freiwillig und gern „Nordmänner“ geheiratet hätten, nicht unbedingt schönfärberische Legenden hochmittelalterlicher Geschichtenerzähler sein.
Bemerkenswert erscheint mir auch, dass die „Wikingerzeit“ zwischen ca. 750 und ca. 1050 als besonders erklärungsbedürftig angesehen wird. Schon vor 750 sind „Seeräuberüberfälle“ und Raubzüge von „Nordländern“ auf das Fränkische Reich bekannt, und davon, dass die Verhältnisse nach 1050 friedlicher geworden wären, kann keine Rede sein.
Damit wären wir bei der Ideologie.
Unter den Kommentaren zum „telepolis“-Artikel finden sich erwartungsgemäß nicht wenige, die mühelos den Bogen von den „Vielweiberei und Frauenraub“ betreibenden Wikinger-Barbaren zur angeblich Bedrohung „des christlichen Abendlandes“ durch „Masseneinwanderung unverheirateter Moslems“ ziehen.
In der Tat ist es, ein entsprechendes Weltbild vorausgesetzt, in dem die „christlichen Abendländer“ damals wie heute automatisch „die Guten“ sind, verlockend, die „Vielweiberei“-These der „Wikingerüberfälle“ auf dschihadistische Gewaltausübung zu übertragen.
Dass Mehrfrauenehen „im Islam“ grundsätzlich erlaubt und z. B. in den halb- bis ganzfeudalen „Ölmonarchien“ der Arabischen Halbinsel durchaus üblich sind, weiß sogar ein durchschnittlicher PEGIDA-„Spaziergänger“. (Dass die Vielehe in den meisten islamisch geprägten Staaten unzulässig ist, ist schon weniger bekannt.) Das in der Tat erhöhte Risikoverhalten selbsternannter „Gotteskrieger“ erklärt sich in dieser Weltsicht mühelos aus der potenziellen Ehelosigkeit rangniederer Männer, die tendenziell dazu neigen, ihren Status durch riskantes, aggressives Verhalten zu verbessern. Ja, und die „Horden junger Muselmänner“, die „nach Europa strömen“ sind nicht etwa auf der Flucht vor Krieg, Diktatur und Armut, nein, sie haben einfach in ihrer Heimat keine Frauen abgekriegt!!1!!11!!! Das Schreckensbild notgeiler junger, unbeweibter Moslems aus einer „zutiefst frauenfeindlichen Kultur“, die vielleicht dann auch noch aus „biologischen Gründen“ viel triebgesteuerter sind als „weiße Mitteleuropäer“, trief aus vielen Kommentaren.
Martin Marheinecke