Umfassend, wertvoll – und streckenweise irritierend: „Völkisch und national“
Puschner, Uwe; Großmann, G. Ulrich (Hrsg.): Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert (Wissenschaftliche Beibände zum Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 5). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. ISBN 978-3-534-20040-5; 429 Seiten
„Völkisch und National – Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert“ enthält 23 Beiträge zur im November 2005 unter dem Titel „Völkisch und National“ im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg, abgehaltenen interdisziplinären Tagung. Es ist eine Aufsatzsammlung mit Fachbuchcharakter über ein gesellschaftliches Randthema zu dem für solche aufwendigen Publikationen mit geringen Auflagen üblichen Preis von 74,90 €, und daher wahrscheinlich keine Anschaffung für das heimische Bücherregal. Auch in den meisten öffentlichen Bibliotheken dürfte man das Buch vergeblich suchen. Es ist eindeutig ein Buch für Fachleute. Lohnt sich die Lektüre, z. B. per Fernleihe, auch für interessierte Laien? Ich denke, ja.
Wie der Titel schon sagt, geht es nur am Rande um die Geschichte der „völkischen Ideologie“, die „deutschvölkischen“ und ariosophischen Religionsentwürfe im ersten Drittel des 20. Jahrhundert, den völkischen Antisemitismus vor und während der Nazizeit, oder esoterische Einflüsse auf die Weltanschauung der Nationalsozialisten. Es geht um völkische Denkmuster in der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit. Die meisten der Aufsätze widmen sich dann auch aktuellen kulturellen Erscheinungen, von der Brauchtumspflege über die Fantasy-Literatur, den Neofolk bis zur Mittelaltermarkt-Szene und deren absichtlichen, fahrlässigen oder einfach nur naiven, unreflektierten Bezüge auf „völkische Denkmuster“.
Anlass der Tagung in Nürnberg war ein 2003 aufgedeckter Wissenschaftsskandal: die ariosophisch geprägte „Runenhaustheorie“ findet sich auch lange nach dem Ende Nazideutschlands in bauhistorischen Publikationen, in der volkskundlichen Laienforschung und in populärwissenschaftlichen Darstellungen.
Der erste Aufsatz ist eine kurze Einführung in die Denkmuster der völkischen Ideologie: Volksmythos, Urzeitwahn, Kulturideologie von Wolfgang Brückner.
Die folgenden drei Aufsätze des Bandes beziehen sich auf den „Runenhaus-Skandal“ und seine Folgen. G. Ulrich Großmann schreibt in seinem Beitrag „Völkisch und national – Der „Beitrag“ der Hausforschung. Wiederaufleben der Runenkunde des SS-Ahnenerbes“ über den Verlauf und Hintergrund des bauhistorischen Wissenschaftsskandals. Es ist erschütternd, wie eine so offenkundig absurde Hypothese (die Anordnung von Balken in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fachwerkhäusern werden als versteckte Runenbotschaften gedeutet – ein typisch ariosophischer Analogieschluss) bestenfalls unkritisch bis in die Gegenwart tradiert wird.
Ulrich Klein stellt am Beispiel der Zeitschrift „Germanen-Erbe“ die widerstrebenden Interessen innerhalb der universitären Archäologie der Jahre 1933-1945 dar. Es gab nicht „die“ NS-Archäologie: Es gab auch unter NS-freundlichen Archäologen sowohl von der klassischen Antike begeisterte „Römlinge“ wie Germanenfanatiker, die alles und jedes für „germanisch“ hielten – und zahlreiche Opportunisten, die sich um Ideologie wenig scherten, aber die Mittel des NS-Staates allzu gerne in Anspruch nahmen. „Germanen-Erbe“ war die populärste Zeitschrift über archäologische und volkskundliche Themen in der NS-Zeit und eindeutig völkisch. Besonders deutlich wird die völkische Ideologie in „Germanen-Erbe“ in Beiträgen zu Architekturgeschichte.
Gottfried Korff schließlich setzt sich mit dem Verstehen und Vermeiden völkischer Symbole in kulturhistorischen Museen auseinander. Vor allem Hakenkreuze – selbst wenn sie ursprünglich gar nicht im NS-Kontext standen – führen auch im Museum regelmäßig zu Problemen: Zeigen oder besser verbergen? Korff spricht sich für eine pädagogisch wie juristisch „gepflegte“, also kontrollierte und in den jeweiligen historischen Kontext gestellte Präsentation aus.
Die folgenden Aufsätze behandeln davon unabhängige Beispiele für völkische „Traditionen“, die bis in die Gegenwart wirken.
Konrad Köstlin untersucht in „Lönssteine, Jahnshügel und Sonnenwende“ die völkischen Ortsbesetzungen in Österreich – die übrigens durchweg mit deutschnationaler und anti-slawischer Konnotation versehen sind.
Ein brisantes Thema greift in „Ethnische Anthropologie. Zwischen scientistischer Innovation und völkischer Tradition“ Ingo Wiwjorra auf. Brisant, weil durch die Hintertür der ethnischen (oder besser: ethnisierten) Genomanalyse die völkische Denktradition neu belebt wird.
Auch Helmut Zanders Beitrag über „Rudolf Steiners Rassenlehre“ enthält durchaus Zündstoff. Zander hat sich auch an anderer Stelle als differenzierter, aber deutlicher, Kritiker der antrophosophischen Weltanschauung und der Neigung vielen Anthroposophen zur unkritischen Steiner-Verehrung profiliert.
In „‘Fundamentalistischer‘ Heimatschutz“ setzt sich Ulrich Linse mit der „Naturphilosophie“ des bayerischen Historikers und ehemaligen Grünen-Mitglieds Reinhard Falter auseinander. Bemerkenswert ist Falters Neuheidentum, das antisemitisch gefärbt ist.
Johannes Zechner rekonstruiert in „Die grünen Wurzeln unseres Volkes“ die „ideologischen Karriere des ‚deutschen Waldes’“, die schon lange vor den Nazis begann und nach der Nazizeit nicht aufhörte.
Gerade unter heidnischen Lesern deutlich umstrittener dürfte Uta Halles Aufsatz „Treibereien wie in der NS-Zeit“ über die völkisch-esoterischen Kontinuitäten des „Externsteine-Mythos nach 1945“ sein. Umstritten weniger wegen der von ihr aufgezeigten Kontinuitäten zu heutigen „braunen Esoterikern“, als wegen ihrer Kritik an den archäo-astronomischen Hypothesen des Astrophysikers Wolfgang Schlosser, dem sie vorwirft, eine „astronomische Funktion der Externsteine à la Teudt [völkischer Esoteriker MM]“ zu propagieren.
Luitgard Löws Aufsatz zur „Sinnbildforschung“ des niederländisch-deutschen Esoterikers Herman Wirth „Völkische Deutungen prähistorischer Sinnbilder“ zeigt u. A., wie „Germanenspinnereien“ ohne jeden wissenschaftlichen Rückhalt weit über die „völkische Szene“ hinaus einflussreich sind und welche schädlichen Auswirkungen das bis heute auf die Felsbildarchäologie hat.
Die drei folgenden Beiträge widmen sich dem eher unbeabsichtigten und unterschwelligen „Weiterleben“ völkischer Denkmuster:
Debora Dusse stellt in ihrer kenntnisreichen Analyse zur Edda-Rezeption im Kontext völkischer Weltanschauung „Eddamythen, Neomythen, Weltanschauungscodes“, deutlich heraus, dass die völkische Eddainterpretation lange Zeit im deutschen Sprachraum dominierte. Ihrer Ansicht nach deutet die strukturähnliche Verwendung von Runen in der ariosophischen und der modernen heidnischen Literatur auf entsprechende ideologische Kontinuitätsmuster hin.
Stefanie von Schnurbein schließt sich daran inhaltlich an, indem sie im Aufsatz „Kontinuität durch Dichtung“ zeitgenössische Fantasy-Romane als „Mediatoren völkisch-religiöser Denkmuster“ sieht. Einerseits stellt sie klar, dass die von ihr untersuchten Fantasyautoren selbst nicht völkisch denken, sondern im Gegenteil Rassismus, Homophobie und Nationalismus ablehnen, anderseits zieht sie das Fazit, dass Fantasy dennoch Transmitter „völkischer Religionsentwürfe“ ist.
In „Germanische Weise Frau, Priesterin, Schamanin. Das Bild der Hexe im Neuheidentum“ stellt Felix Wiedemann Thesen zur Tradierung eines völkischen Hexenbildes im „Neuheidentum“ (einschließlich Wicca) auf, und geht dabei auf den „völkischen Feminimus“ etwa Mathilde von Ludendorfs ein.
Um keineswegs unbeabsichtigte Tradierungen geht es in die folgenden Beiträgen:
Horst Junginger untersucht in „Paganismus und Indo-Germanentum als Identifikationselemente der Neuen Rechten“ am Beispiel des Tübinger Grabert-Verlages die Funktion des „Neuheidentums“ für die „Neue Rechte“ nach 1945. Junginger hält den Begriff „Neuheidentum“ für einen wissenschaftlichen Diskurs für ungeeignet, da er der religiösen Polemik entstammt. Bis heute würde die Auseinandersetzung mit dem Paganismus durch die apologetische Perspektive der Kirchen geprägt, und stünde somit einer werturteilsarmen Untersuchung völkischer Religion eher entgegen.
Der Historiker Ingo Wiwjorra stellt in „Zwischen Spurensuche und Fiktion – Was wissen wir über die Religion ‚unserer Ahnen‘?“ zwei leider viel zu selten gestellte Fragen: „Welches Heidentum?“ – eine Rekonstruktion des vorchristlichen Heidentums sei nicht möglich – und „Welche Ahnen?“ – die heutigen Deutschen stammen nicht nur von „Germanen“, sondern auch von Slawen, Kelten, Römern usw. ab, was deutsch-völkische Geschichtskonstrukte ad absurdum führen würde.
Ulrich Hungers Text zur Runenkunde im Nationalsozialismus „Zwischen Wissenschaft und Ideologie“ zeigt, wie die Runen für die Germanenideologie instrumentalisiert wurden. So sehr, dass die wissenschaftliche Runonologie in Deutschland bis heute an der laienhaften Gleichsetzung von NS-Symbolik und Runen leidet.
Bernd Wedemeyer-Kolwes setzt sich in „Runengymnastik. Von völkischer Körperkultur zur alternativen Selbsterfahrungspraxis?“ mit der Tradierung einer ariosophischen Erfindung im esoterischen und neuheidnischen Spektrum auseinander.
Um einen nach Ansicht des Autors fahrlässigen Umgang mit völkischer Ideologie geht es in Bernd Sösemanns Kritik an der Fernsehdokumentation „Schwarze Sonne“ von Rüdiger Sünner. „Audiovisuelle Assoziationen“ ist, anders kann man es nicht nennen, ein völliger Verriss – und darüber hinaus eine scharfe Abrechnung mit der Art und Weise, wie die NS-Zeit in Dokumentar- und Spielfilmen dargestellt wird.
Gregot Hufenreuter stellt die Frage „Kontinuitätsmuster ohne Kontinuität?“ zwischen völkischem Liedgut der Kaiserzeit und heutigem Neofolk. Dabei gelingt ihm eine differenzierte Analyse völkischer Ästhetik im Neofolk und seinem Umfeld.
Der Beitrag Uwe Puschners „‚Deutsche Schrift‘ und völkische Ideologie“ zeigt, wie stark die Frage nach einer Schrift bis ins Absurde weltanschaulich aufgeladen wurde. Interessantes Detail: Hitler sah die Schriftfrage ausgesprochen nüchtern, weshalb der Einführung der Antiqua als „deutscher Normalschrift“ anstelle der „deutschen“ Fraktur-Schrift aus pragmatischen Erwägungen 1941 „weltanschaulich“ auch nichts entgegen stand.
Anja Grebes Analyse zu Instrumentalisierung der Kunst Dürers im völkischen Kontext „Dürer als Führer“ beleuchtet ein wenig bekanntes, aber bezeichnendes Beispiel völkischer Denkmuster.
Der abschließende Beitrag des Sammelbandes stammt vom Mediävisten Caspar Ehlers. In „Mittelalterbilder – Aktuelle Diskurse in Wissenschaft und Öffentlichkeit“ übt er scharfe Kritik an populärkulturellen Mittelaltervorstellungen, wobei er die besonders problematischen Darstellungen weniger in der „Mittelaltermarkt“-Szene, als z. B. in Artikeln zu historischen Themen im „Spiegel“ sieht. Seine These, dass es eine Tendenz zur Abwertung des christlichen Mittelalters zu Gunsten einer vermeintlich besseren „germanischen Frühgeschichte“ gäbe, dürfte weniger umstritten sein, als seine Vermutung, dass dahinter eine, möglicherweise durch „lebendiges antichristliches und völkisches Gedankengut“ angestoßene, „Welle der Dechristianisierung“ stecken würde.
Der Sammelband „Völkisch und national“ bietet alles in allem einen sehr lesenswerten und gut lesbaren Überblick über die Tradierung völkischen Denkens in die Gegenwart. Dabei sind meiner Ansicht nach die Fragen, die die Artikel aufwerfen, und die damit weitere Diskussion und weitere Forschung anregen, das Wichtigste an diesem Buch. Hingegen wird es seinem Anspruch, aktuell verbreitete völkische Ideologeme außerhalb ausgesprochen rechtsextremistischer Kontexte systematisch zu analysieren und historisch einzuordnen, nicht immer gerecht.
Einige Beiträge wirken auf mich sogar ausgesprochen irritierend. Bei einigen Aufsätzen habe ich den Eindruck, dass deren Autoren zu viele Vorurteile und Voreingenommenheiten hinein bringen – wie ich vermute, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Das scheint mir bei Uta Halles Aufsatz über das Fortwirken völkischer Deutungsmuster in der Externstein-Laienforschung und unter Esoterikern und Heiden der Fall zu sein.
Im Falle der archäo-astronomischen Hypothesen des Astrophysikers Wolfgang Schlosser müsste die erste Frage meines Erachtens sein: „Ist Schlossers Hypothese wissenschaftlich seriös?“ Immerhin hat sich Schlosser mit seiner archäo-astronomischen Deutung der „Sonnenscheibe von Nebra“ einen überwiegend guten Ruf auf diesem Gebiet erarbeitetet. Die zweite Frage wäre: „Ist Schlosser rechtsextrem?“ Eine Frage, die sich mit seinem Auftreten bei „neurechten“ Veranstaltungen allein nicht beantworten lässt. Man müsste auch seine Gründe dafür kennen. Wobei ein „Ja“ auf die zweite Frage nicht bedeutet, dass seine Hypothese damit fachlich unbrauchbar wäre, und schon gar nicht, dass sie ein Ausdruck völkischer Ideologie wäre.
Ich vermute einen Analogieschluss zum rechten Esoteriker Teudt, der die Externsteine als „germanisches Observatorium“ deutete, allerdings alles andere als ein ernstzunehmender Wissenschaftler war.
Sie führt dann auch noch ausgerechnet einen Eintrag im Forum des „Eldarings“ als Beispiel dafür an, „was Schlosser verbreitet und wie dies von rechtsgerichteten Zuhörern seiner Vorträge aufgenommen wird“. Ich würde gerne wissen, woran sie festmacht, dass „Jan“, der den zitierten Eintrag schrieb, „rechtsgerichtet“ sei. (Hoffentlich nicht daran, dass der „Eldaring“ ein germanisch-heidnischer Verein ist.)
Als nicht unbedingt voreingenommen, aber streitbar und sehr parteiisch, zu parteiisch für ein wissenschaftliches Werk, empfinde ich Caspar Ehlers sehr lesenswerten Aufsatz „Mittelalterbilder – Aktuelle Diskurse in Wissenschaft und Öffentlichkeit“. Ich gebe zu, es ist mir eine Freude zu lesen, wie z. B. Ehlers einen flott geschriebenen, schlampig verfassten und mit vielen Klischees über das „finstere Mittelalter“ versehenen Artikel des „Spiegel“-Redakteurs Matthias Schulze auseinanderfetzt.
Ehlers These, dass es gegenwärtig nicht nur unter Laien, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs eine Tendenz zur Abwertung des christlichen Mittelalters und eine Idealisierung der „heidnischen Germanen“ gäbe, ist diskutabel.
Hingegen muss ich bei folgendem Absatz an Horst Jungingers These, die Auseinandersetzung mit dem Paganismus sei durch die apologetische Perspektive der Kirchen geprägt, denken, obwohl es darin gar nicht um „Neuheiden“ geht:
[…] Am wenigsten aber ist es vonnöten, den Verlust germanischer Freiheiten oder gar deren Demokratie, Ehegebote oder Ernährungsweisen durch das Mittelalter zu beklagen. Wer dies tut, zielt auf anderes. Kirchen- und Zivilisationskritik mit antiwestlicher Tendenz eröffnet hier wieder den Sonderweg, den zu verlassen eine moderne Mediävistik seit einem halben Jahrhundert bewußt anstrebt, wobei die Abwendung von dem Terminus „Germanen“ als Sammelbegriff für das Frühmittelalter nur ein Aspekt ist einer seit Jahrzehnten vollzogenen Korrektur einst breit anerkannter wissenschaftlicher Einsichten einer Germanenforschung, der die Ergebnisse wichtiger waren als der Weg ihrer Gewinnung.[…]
(S. 415 u. – S. 416 o.).
Abgesehen davon, dass ein Faible für „heidnische Germanen“ nicht automatisch mit einer Geringschätzung der christlich geprägten mittelalterlichen Kultur einher gehen muss, ist Kritik an der mittelalterlichen Kirche nicht zwangsläufig auch Kulturkritik, Kritik nicht immer Ablehnung des Ganzen, und Kirchen- und Kulturkritik, die sich am Umgang mit „heidnischen Germanen“ festmacht, nicht zwangsläufig „antiwestlich“. (Es sei denn, mit „westlich“ wäre das Konstrukt „christliches Abendland“ gemeint.)
Darin, dass „Germanen“ als Sammelbegriff für das Frühmittelalter im späteren Deutschland unbrauchbar ist, bin ich übrigens einer Meinung mit Ehlers, darin, dass die ältere Mediävistik in Deutschland generell weniger quellen- und methodenkritisch gewesen wäre, als damals international üblich („Sonderweg“), eher weniger. (Einige Sätze weiter oben schreibt er von
(…) einer nachweislich von Jakob Grimm (✝ 1863) erfundenen germanischen Fruchtbarkeitsgöttin „Ostara“(…)
was, jedenfalls so pauschal, nicht stimmt, auch wenn Grimms Hypothese zur Herkunft des Begriffs „Ostern“ wackelig und nach heutigen Erkenntnissen überholt ist.)
Ein generelles Problem ist, dass der Begriff „völkisch“ fest mit einer bestimmten, eindeutig „rechtsextremen“ und (prä-)faschistischen politischen Einstellung verknüpft ist. Man kann z. B. die NPD mit Fug und Recht eine völkisch-nationalistische Partei nennen, die alte NSDAP ebenfalls – Hitlers bekannte Abneigung gegen „völkische Wanderscholaren“ betraf nicht deren politische Ideologie, sondern deren Weltfremdheit und Sektierertum.
Damit ist der Begriff „völkisch“ so negativ aufgeladen, dass es einem Faschismusvorwurf gleichkommt, wenn völkische Denkmuster aufgedeckt werden. Meiner Ansicht nach ist völkisches Denken zwar in jedem Fall zu kritisieren und zurückzuweisen, aber es ist zu fragen, ob alles, was völkisch aussieht, auch wirklich völkisch ist, und, wenn ja, ob hinter diesem völkischen Denken auch ein geschlossenes „rechtsextremes“, sprich antidemokratisches, rassistisches, antisemitisches, nationalistisches usw. Weltbild steht.
Jeder Bezug auf Gedankengut, das sich auch (!) bei völkischen Ideologen findet, läuft Gefahr, wegen der politisch-ideologischer Kontinuitätsannahme selbst als völkisch, sprich faschismusnah, verdächtigt zu werden.
Ein Beispiel ist Debora Dusses an sich ausgezeichneter Beitrag über die völkische Edda-Rezeption. Im Abschnitt „Kontinuitäten völkischer Denktraditionen in der Gegenwart“ führt sie GardenStones „Germanischer Götterglaube. Asatru – ein moderne Religion aus alten Zeiten“ als Beispiel an. Sein Korrespondenzsystem, das jedem Gott Runen, Steine, Farben, Pflanzen usw. zuordnet, erinnert sie an Verfahren Guido „von“ Lists in „Die Bilderschrift der Ario-Germanen“. Die Struktur ist zwar ähnlich, aber ich halte es für voreilig, daraus auf entsprechende ideologische Kontinuität schließen zu wollen. (Unabhängig davon, wie der Autor zum „völkischen Asatru“ steht – in GardenStones Fall: ablehnend.)
Grundsätzlich gilt das für die esoterische Edda-Deutung (wie sie Isa Denison oder Gundula Jäger vertritt), oder die Neuausgabe von Wilhelm Jordans Edda-Übersetzung im „Arun-Verlag“. (Egal, wie man zum zumindest „rechtsoffenen“ Arun-Verlag stehen mag.) Eine absichtliche Weitergabe ariosophisch-völkischer Deutungsmuster halte ich in diesen Beispielen für unwahrscheinlich, möglich wäre aber eine naive-unreflektierte, ohne Bewusstsein dafür, dass die Quellen „uralter Weisheit“ höchstens etwas über 100 Jahre alt und bräunlich-trübe sind. Vor allem bei GardenStone vermute ich jedoch eher einen Rückgriff auf esoterische Symbole und Deutungsmuster, die bereits vor der „völkischen Religionsbewegung“ und unabhängig von ihr entstanden.
Ähnlich irritierend ist das Fazit, das Stefanie von Schnurbein am Ende ihres Aufsatzes über Fantasy-Romanen als „Mediatoren völkisch-religiöser Denkmuster“ zieht.
Die von ihr untersuchten Fantasy-Autoren (J.R.R. Tolkien, Diana Paxson, Stephan Grundy, Harry Harrison / John Holm) lehnen, wie sie richtig erkennt, bei allen Unterschieden, Rassismus, Homophobie und Nationalismus ab. Im Falle von Harrisons / Holms „Hammer und Kreuz“ gibt es nicht einmal unterschwellige Anklänge an völkisches Denken, die Parallele, die sie zu „Diesseits“ orientierten Entwürfen einer „arteigenen“ Religion zieht, wirkt an den Haaren herbei gezogen. Sie erkennt auch, dass diese aus dem englischen Sprachraum stammenden Autoren eine reflektierte, (selbst-)kritische Einstellung zur Macht haben, während in den deutschvölkischen Religionsentwürfen (und in deutschvölkischen Büchern) der „Willen zur Macht“ und die (skrupellose) Machtausübung durch den „heldischen Menschen“ verherrlicht werden.
Trotzdem sieht Schnurbein im Fazit ihres Betrags in der Fantasy-Literatur einen Überträger „völkischer Religionsentwürfe“. Zwar greift Grundy bei seiner Schilderung des Heidentum auf „völkische Denkmuster“ zurück (bei Tolkien und Paxson fließen sie allenfalls unabsichtlich, über das kulturelle Umfeld der Autoren, ein), aber der Unterschied zur völkisch-nationalistischen Ideologie ist beachtlich. (Konkret: völkisch denkende „Rechtsextremisten“ stoßen sich z. B. ganz gewaltig an Grundys wohlwollender Darstellung homo- und bisexueller Charaktere und an seinem positiven Bild der „fremdrassigen“ Hunnen. Das ist keine Spekulation von mir, sondern wird aus Äußerungen auf „rechtsextremen“ Internet-Foren zu Grundys Romanen immer wieder deutlich.) Die Sorge Stefanie von Schnurbeins ist für mich grundsätzlich nachvollziehbar, aber zumindest bei den besprochenen Autoren unbegründet.
Irritierend sind einige, meiner Ansicht nach praxisfremde, Ansichten in einigen Aufsätzen. Felix Wiedemanns Darstellung des „Bildes der Hexe im Neuheidentum“ ist zwar offenkundig gut mit Quellen unterfüttert, aber es scheint sich auf ein völlig anderes Neuheidentum, insbesondere Hexentum, zu beziehen, als ich es aus eigener Erfahrung kenne.
Ebenfalls praxisfremd erscheinen mir Teile von Sösemanns Kritik an Sünners „Schwarze Sonne“. Bei allen Mängeln zählt Sünners immerhin schon fast 15 Jahre alte Dokumentation nach meinem Eindruck zu den wichtigsten – und gelungensten – unter den zahllosen TV-Dokus über Nazis und deren Hintergründe. Ob die von Sösemann gewünschte Faktendichte und Sachlichkeit in einen Format, das letzten Endes eher Infotainment als „Lehrfilm“ ist, überhaupt möglich wäre, wage ich zu bezweifeln. Seinen Vorschlag, das Stilmittel Ironie einzusetzen, halte ich für wenig praktikabel. (Sünner verzichtete auf Ironisierung, weil Ironie zu leicht missverstanden wird.) Nebenbei: für äußerst befremdlich halte ich Sösemanns Ansicht, „Nazi“ sei eine „verniedlichende sprachliche Form“.
Zum Glück überwiegen auch in den von mir kritisierten Aufsätzen die fundierten und anregenden Aussagen, und es gibt mehr rundum gelungene Aufsätze in diesem Sammelband als in Teilen fragwürdige.
Martin Marheinecke
Zur Erläuterung und um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen:
Stefanie von Schnurbein recherchierte für ihre Arbeiten bei germanischen Neuheiden- bzw. Ásatrú-Gruppen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung, darunter auch ausgesprochen antirassistischen Gruppen.
Für den in der Rezension erwähnten Artikel „Kontinuität durch Dichtung“ interviewte sie z. B. Diana Paxson, und schreib über die Autorin und den von ihr gegründeten Ásatrú-Kreis Hrafnar:
Stefanie von Schnurbein ist durchaus bekannt, dass es anti-rassistische, nicht-völkische Neuheiden gibt; es trifft also keineswegs zu, dass sie alle Neuheiden für „Nazis“ halten würde oder nicht-völkische Heidengruppen mutwillig ignorieren würde.
Sie war übrigens im Zuge der Recherchen für ihr neues Buch über „Transformationen neugermanischen Heidentums“ unter anderem bei einem Althing der Nornirs Ætt zu Gast, und war Gast auf einem Ostara-Treffen des Eldarings.
Sie bezeichnet ihr 1993 erschienenes Buch „Göttertrost in Wendezeiten. Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus“ ausdrücklich als „veraltet“, denn im Heidentum hat sich seit damals zum Glück sehr viel geändert.
Übrigens: Wir sind eindeutig nicht-völkisch und entschieden antirassistisch – und die Nornirs Ætt ist ausdrücklich offen für Afrodeutsche, Homosexuelle und andere Minderheiten, die in manchen Ásatrú-Gruppen, auch solchen, die von sich behaupten, keine Rassisten zu sein, nicht zugelassen sind. (Keine Behauptung, sondern durch die Tat bewiesen – was Frau Schnurbein bezeugen könnte.)
Zitat: „Zwar greift Grundy bei seiner Schilderung des Heidentum auf „völkische Denkmuster“ zurück (bei Tolkien und Paxson fließen sie allenfalls unabsichtlich, über das kulturelle Umfeld der Autoren, ein), aber der Unterschied zur völkisch-nationalistischen Ideologie ist beachtlich.“
Was genau ist damit gemeint, Grundy greife auf völkische Denkmuster zurück? Am der Kritik von Frau von Schnurbein ist meiner Meinung nach höchstens die Aussage plausibel, er würde seine Helden blond und blauäugig schildern. Ein von ihr kritisierter positiver Bezug auf die eigene Sippe hat ja noch nicht per se etwas mit völkischem Denken zu tun. Das ist etwas anderes als „Volk“ oder „Rasse“ Andere Aspekte, die mir negativ aufgefallen sind, wie das Pflichtbewusstsein Signys gegenüber ihrem Vater, wo sie einer Heirat zustimmt, bei der sie ein schlechtes Gefühl hat und die Bereitschaft der Wälsungen, lieber heldenhaft unterzugehen, als auch nur einem Kampf auszuweichen, stehen ja tatsächlich genau so in der Välsungensage und können ebenfalls nicht dem Völkischen Denken zugerechnet werden.
So wie ich es verstehe, achtet Frau von Schnurbein auf Klischees, Motive und Wendungen, wie sie typischerweise in „völkischen“ Texten vorkommen. Es geht dabei z. B. nicht darum, dass Grundys Helden durch die Bank „blond und blauäugig“ wären (sind sie übrigens nicht), sondern z. B. auf die „penetrant nordische“ Darstellung Siglinds und Sigmunds, wie sie etwa im Satz
deutlich wird. Grundy beschreibt die beiden in einem Stil, der an „rassenkundliche“ Texte aus der NS-Zeit erinnert. Wenn sich ähnliche Schilderungen in einem Text häufen, ist das schon mal ein Indiz dafür, dass auch das entsprechende Denken dahinter stehen könnte.
Wichtiger ist allerdings Grundys Ausdeutung der alten Sagenstoffe. An sich entspricht die Handlung z. B. der Välsungensage oder des Nibelungenliedes nicht „völkischem Denken“, es ist die Interpretation dieser alten Stoffe, die streckenweise völkisch anmutet. Grundy lehnt sich inhaltlich stark an Wagners „Ring des Nibelungen“ an – und der ist eindeutig völkisch. (Weshalb er ja in den letzten Jahrzehnten fast immer „gegen den inhaltlichen Strich“ inszeniert wird.) Tolkiens Kritik an Wagners Mytheninterpretation ist vernichtend, daher entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Grundy „Rheingold“ Richard Wagner und J.R.R. Tolkien widmete.
Bemerkenswert erscheint mir auch, dass Grundy die „runenmagischen“ Werke Edred Thorrsons ausdrücklich empfiehlt – Thorssons alias Stephen Flowers Runenlehre beruht zum großen Teil auf ariosophischen Deutungen, und dass er u. A. Stephan McNallen, als Gründer der „Asatru Folk Assembly“ einem der wichtigsten Vertreter einer „ethnischen“ Auffassung des Asatrú (als Religion nur für Menschen nordeuropäischer Abstammung) und Schöpfer der pseudowissenschaftlichen „Metagenetik“ (einer modernisierten Version des „Blut- und Boden“-Denkens) ausdrücklich Dank sagt. Wohlgemerkt, Grundy ist kein Rassist im üblichen Sinne, und ob er „rechtsextrem“ ist, wage ich nicht zu beurteilen. Das behauptet Frau Schnurbein aber auch nicht.
Liest man hingegen im Kontrast Paxons Romanzyklus zum gleichen Thema (und mit den gleichen Quellen), dann stößt man zwar auch auf das eine oder andere Klischee – Frau von Schnurbein bemäkelt z. B. die „Herrscherperspektive“ mit bravem Volk als Staffage – aber z. B. die Rolle der Frauen und die Problematik des Gehorsams wird von Paxson ganz anders, eben nicht im leicht „up to date“ gebrachten Sinne des 19. Jahrhunderts, gesehen.
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