„Stellt euch vor …“ Geschichte machen (Roman von Stephen Fry)
Stell euch vor, Ihr wäret kurz vor dem Abschluss eurer Doktorarbeit, ihr führt das Leben eines Stubenhockers, errötet mit euren 24 Jahren immer noch in Gegenwart eurer Mutter wenn sie euch vor ihren Freundinnen
lobt, dann wisst ihr wie mein Leben, das Leben von Michael D. Young aussieht.
Meine Freundin Jane hat beschlossen mit mir Langweiler am Abgabetag meiner Dissertation Schluss zu machen. In einem Anfall von Rachsucht beschmiere ich unser Auto, welches die dumme Pute mitgehen ließ. Dabei verteilt sich der Inhalt meiner Tasche über den Parkplatz, 400 Seiten fein gelocht, die Arbeit von 4 Jahren Recherche, Analyse und Studienaufenthalt im Ausland fliegt unter geparkten Autos, den Gehweg und der Rasenfläche des Campusgeländes umher. Der Wind und mein angeschlagener Zustand lässt mich nicht gut aussehen beim Einsammeln der verloren gegangenen Blätter. Ein älterer Herr ist mir behilflich, gemeinsam bändigen wir die toll geworden Blätter. Interessiert überfliegt er einige Seiten, und lädt mich ein zu sich …
So beginnt Stephen Frys Roman „Geschichte machen“, eine knapp fünfhundert Seiten lange
Geschichte über:
Was wäre wenn … der ältere Herr eine Möglichkeit gefunden hätte, in der Zeit etwas zurück zu schicken, um so die Geburt von Adolf Hitler zu verhindern?
Meine Doktorarbeit sich genau über den Zeitraum seiner Kindheit und Jugend erstreckte, das Leben seiner Eltern eingeschlossen?
Meine Freundin Jane, ihres Zeichens Genetikerin, in einer Forschungsabteilung beschäftigt ist mit der Entwicklung eines Medikament für die Sterilisation eines Mannes?
Imagine all the people Sharing all the world … (yuhuuuh)
You may say I am a dreamer But I’m not the only one I hope someday you’ll join us And the world will be as one
John Lennon
Stephen Fry, der sich ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, lässt seinen Protagonisten im ersten Teil seines Romans Hitlers Geburt verhindern, nur um in einer veränderten Geschichtslinie zu erkennen,
dass das Böse nicht an eine bestimmte Person gebunden ist, es gibt immer noch Himmler, Goebbels, Heydrich und all die anderen Nazigrößen und einen andern Führer …
Fyr macht deutlich, das es noch viele andere Täter und Mitläufer bedarf, wie es der Historiker Christopher R. Browning in seiner Studie „Ordinary Men“ (1) aufzeigt. In erst vor kurzem veröffentlichten Dokumenten sind 50 % der inhaftieren deutschen Kriegsgefangenen loyal gegenüber Hitler, für die Jahre 1944/45 ein erstaunlich hoher Rückhalt innerhalb der Wehrmacht. (Einestages: „Das Geheimnis von P. O. Box 1142“.)
Für „Geschichte machen“ hat er von Alan Bullocks Hitler-Biografie, „Eine Studie über Tyrannei“ (2) ausgiebig Gebrauch gemacht, ebenso wie von dem Band „Schöne Zeiten – Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer“ (3) wo Auszüge des Tagebuches des historischen Dr. Johan Paul Kremers als Vorlage für den Sturmarzt Bauer dienten, „dessen Dokumente Hannah Arendts These der Banalität des Bösen auf das Entsetzlichste illustrieren.“ (4)
Das Wunschdenken des Protagonisten Michael, durch die Verhinderung Hitlers Geburt den Holocaust und den zweiten Weltkrieg zu vermeiden, scheitert. Die Welt, die Michael neu mit geschaffen hat und in der sich wiederfindet, ist ein Amerika der McCarthy-Ära, in der die Rassentrennung nie abgeschafft wurde und Homosexualität kriminell ist. „Casablanca“ wurde nie gedreht, keine Chance für Humphrey, Isabell noch einmal in die Augen zu schauen. Rock´n Roll hat es niemals gegeben. In Europa gibt es herrscht ein großdeutsches Reich, in dem keine Juden mehr leben, Moskau und Leningrad sind atomar eingeäschert worden.
Fry setzt das in einen bitterbösen Albtraum um, der mit dem schwärzesten britischen Humor gewürzt ist.
Fry, Schriftsteller, Drehbuchautor, Schauspieler und Regisseur, geboren 1957, verurteilt in jungen Jahren wegen Kreditkartenbetruges, Autor zahlreicher Theaterstücke, Schauspieler in einem Dutzend Spielfilme und Fernsehserien (u.a. Black Adder), schafft es in diesem Roman einen zu fesseln, gleichzeitig Utopien aufzuzeigen und gerade auch an die eigene Verantwortung zu appellieren. Ein Lesevergnügen eines doppelten Superlativs oder mit den Worten Michaels:
Obercool.
Stephen Fry
„Geschichte machen“ (Making History)
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 7. Auflage (1999)
ISBN-13: 978-3499224102
(1) Deutsche Ausgabe: Christopher R. Browning: „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen“, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1993, ISBN 3-498-00569-3
(2) Alan Bullock: „HITLER – Eine Studie über Tyrannei“
TB – Droste-Verlag, Düsseldorf – 1989 – ISBN 3770009150 – 886 Seiten
(3) Ernst Klee (Herausgeber), Willi Dreßen (Herausgeber), Volker Rieß (Herausgeber): „Schöne Zeiten, Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer“ Verlag: S. Fischer, Frankfurt a. M; Auflage: N.-A. (1997) ISBN-10: 310039304 X
(4)Fry, Stephen, „Geschichte machen“ S.496