Starben Neandertaler wegen schwachen Sozialverhaltens aus?
Sind dem Neandertaler Schwächen im Sozialverhalten zum Verhängnis geworden?
Diese These vertreten Anthropologen aus Oxford und London in den „Proceedings B“ der britischen Royal Society. Sie vermuten, dass große Teile des Neandertaler-Hirns damit beschäftigt waren, den massigen Körper und ein vergleichsweise großes Sehzentrum zu kontrollieren. Für komplexere Prozesse wie das Sozialverhalten sei deshalb kaum noch Platz gewesen. Das habe es den Neandertalern schwer gemacht, große Gruppen zu bilden und den harschen Umweltbedingungen in Europa im Verband zu trotzen.
Auf ihre These kamen die Forscher, indem sie Schädel von Neandertalern vermaßen und mit den Schädeln moderner Menschen von vor 27.000 Jahren verglichen. Es zeigte sich: Neandertaler hatten deutlich größere Augenhöhlen und vermutlich auch eine größere Netzhaut. Offensichtlich sei das Hirn dieser Urmenschen vor allem darauf ausgelegt gewesen, gut zu sehen.
DOI: 10.1098/rspb.2013.0168
Quelle: DRadio Wissen Creative Commons BY NC ND 3.0 D
Kommentar: Persönlich sehe ich diese Hypothese skeptisch, da es selbst bei heute lebenden Menschen nach wie vor nicht möglich ist, etwas so Komplexes wie das Sozialverhalten aus der Anatomie des Gehirns abzuleiten. Die Erfolge der neurologischen Hirnforschung in den letzten 20 Jahren, vor allem durch neu bildgebende Verfahren, führten meiner Ansicht dazu, die Bedeutung der Hirnanatomie zu überschätzen und verführen zu einer Art Gehirnbiologismus.
Ein Einwand auf biologischer Ebene: Da das Gehirnvolumen der Neanderthaler im Durchschnitt sogar größer war als das anatomisch moderner Menschen, schliesst ein auf optimales Sehen ausgelegtes Neanderthalerhirn auch hirnanatomisch eine hohe „soziale Intelligenz“ keineswegs aus. Selbst wenn man, wie es die Forscher taten, die für Körpersteuerung und Sehzentrum „zuständigen“ Gehirnareale herausrechnet, ist die Differenz zwischen Neanderthaler und anatomisch modernem Menschen nicht extrem. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass alles Wissen über das Neanderthalerhirn aus Abgüssen der Innenseiten fossiler Schädel abgeleitet ist, viele Angaben über seinen anatomischen Aufbau sind also spekulativ.