„Sektenpfarrer“ Gandow geht in den Ruhestand – Ein Kommentar
Er ist ein streitbarer und umstrittener Sektenexperte, Pfarrer Thomas Gandow, bis vor kurzem „Pfarrer für Weltanschauungsfragen der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz“. Es passt zu ihm, dass er sich, beim Abschiedschiedsgottesdienst in Berlin, einen prominenten „Kollegen“ vornahm:
Der scheidende Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Berlin, Pfarrer Thomas Gandow, hat bei seiner Verabschiedung aus dem Amt mehr kirchliches Engagement gegen „Irrlehrer“ gefordert. So nannte er etwa die esoterischen Lehren des ehemaligen TV-Pfarrers Jürgen Fliege „beschämend für alle, die sich Pfarrer nennen“.
Medienmagazin pro: Sekten-Experte zum Abschied: Fliege ist ein „Irrlehrer“.
Es geht dabei um eine Geschäftemacherei des vormaligen „Fernseh-Pfarrers“ Fliege: ein Wasser namens „Fliege-Essenz“, das heilende Kräfte haben soll.
Ähnlich wie die ehemalige Leiterin der Hamburger Arbeitsgruppe Scientology, Ursula Caberta, ist Gandow ein entschiedener und streitbarer Gegner der Esoterik. Wie bei Frau Caberta kann vermutet werden, dass eine lange Auseinandersetzung mit Organisationen vom Kaliber der „Scientology“ zu der scharf ablehnenden Haltung gegenüber „neuen religiösen Bewegungen“ und dem „spirituellen Supermarkt“ der Esoterik beitrug. Schon als Vikar kam er mit der Mun-Bewegung (Mun-Sekte, Vereinigungskirche) in Berührung bzw. in Konflikt, später mit Scientology und weiteren „Psychokulten“. Seit 1978 erforscht Gandow im Auftrag seiner Kirche die Szene der „Neuen Religionen, Sekten und Weltanschauungsbewegungen“.
Im Unterschied zu der um weltanschauliche Neutralität bemühten Hamburgerin, für die Religion Privatsache ist, und die es folglich auch ablehnt, über ihren eigenen religiösen Standpunkt öffentlich zu reden, ist Gandow allerdings ein klassischer Apologet, ein wortmächtiger „Verteidiger des Glaubens“ über die für einen Geistlichen erforderliche Loyalität zur eigenen Kirche hinaus. Wie schon an der Formulierung „Engagement gegen Irrlehren“ deutlich wird, hält Gandow nichts vom gerade in der Esoterik-Szene weit verbreiteten Synkretismus im Sinne von „alle Religionen wollen irgendwie das Gleiche und lehren irgendwie das Gleiche“. Die von ihm von geforderte Haltung gegenüber nichtchristlichen Religionen umriss er in seinen Weihnachtlichen Betrachtungen über Synkretismus und Dialog so:
Gerade aus der Spannung zu christlichen Vorstellungen, nicht aus der Nivellierung in angebliche Gemeinsamkeiten ergeben sich die Möglichkeiten echten Gesprächs. Nicht „fließende Übergänge“, sondern Klarheit im Denken und in der Unterscheidung und Präzision in der Sache sind hilfreich für friedliches Miteinander. Mehr noch: Solche Klarheit und Eindeutigkeit, die die Eigenart des anderen nicht weg interpretiert, sondern ernst nimmt, ist die Voraussetzung des echten Dialogs.
Meiner Ansicht nach ist das eine Haltung, die zwischen theologisch klar umrissenen Offenbarungsreligionen praktikabel ist, allerdings gegenüber Religionen und spirituellen Bewegungen, die ihrem Wesen nach synkretistisch sind, wie z. B. Wicca, Voodoo, Santería, aber auch den chinesischen und japanischen Formen des Buddhismus, versagen muss.
Was er zu Heiden zu sagen hat, etwa im vom ihm verfassten Kapitel „Neugermanisches Heidentum“ in der dritten neugefasster Auflage 1986–1997 des „Evangelischen Kirchenlexikon“, ist nicht unbedingt angenehm. Und nicht unbedingt immer zutreffend.
Er schätzt die „neuheidnischen und neogermanischen Kulte“ auf 25.000 bis 30.000 Mitglieder. Eine Zahl, die übrigens deutlich über den Angaben Dr. Mathias Pöhlmanns von der „Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen“ (EZW) liegt, der Neuheiden-Gruppen in Deutschland auf etwa 10.000 bis 15.000 Anhänger schätzt. Die starke Abweichung zwischen den Schätzungen zweier ausgewiesener Fachleute der selben Kirche kommt daher, dass es keinerlei abgesicherten statistischen Angaben über „Neuheiden“ in Deutschland gibt, die Zahlen also eher geraten als geschätzt sind. Fest steht nur: die Zahl der nicht organisierten Heiden und Hexen übertrifft die der in Vereinen organisierten um ein Vielfaches. Wie groß dieses „Vielfache“ ist, wage ich nicht einmal zu raten.
Bei einer Tagung „Neuheidentum und neonazistische Heilslehre“ der Evangelischen Kirche in Rothenburg warnte Gandow vor einer Verharmlosung der neogermanischen Gruppen. Nach der Einschätzung des Berliner Sektenexperten spielen völkisch-religiöse Gruppen zunehmend eine Rolle bei der Einigung der zersplitterten rechtsextremen Szene.
„Mit der Bindekraft der neogermanischen Kulte können sich die zerstrittenen politischen Splittergruppen und Parteien zur Bewegung formieren“, warnte Gandow in der „Frankenpost“. „Bei vielen Rechtsextremen wächst die Überzeugung, dass der Eroberung der politischen Macht die Erringung der kulturellen Hegemonie vorhergehen muss.“
Ob ausgerechnet die extrem unterschiedlichen und folglich uneinigen „neogermanisichen Kulte“ „Bindekraft“ für die löblich zerstrittene rechtsextreme Szene haben, bezweifle ich.
Sogar die Differenzen innerhalb der ariosophisch geprägten „rechten Heidenszene“ halte ich in einigen Fällen für inhaltlich unüberbrückbar, etwa die zwischen den „klassischen“ Neonazis der „Artgemeinschaft“ und der von den Armanen dominierten ANSE, die ich eher der „Neuen Rechten“ zuordnen möchte. Die Uneinigkeit der „nationalen Kräfte“ um den „rechten Weg“ spiegelt sich auch unter völkischen „Heiden“ der gleichen „Glaubensrichtung“ wieder. Davon abgesehen dürften die wenigsten Heiden und Hexen der ariosophisch geprägten Heidenszene zuzurechnen sein – oder überhaupt völkisch eingestellt sein.
Die Zeiten, in denen noch ein „Armanenblock“ zumindest das organisierte und publizierende Heidentum in Deutschland dominierte, wie noch 1994, als sich Gandow in der “Frankenpost” zu Wort meldete, sind den Göttern und ihren echten Freunden sei dank, vorbei. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass Gandow seither seinen Standpunkt geändert hat.
Eher zustimmen mag ich ihm darin, das heidnisch-germanische oder für heidnisch-germanisch gehaltenene Symbole und Mythenfragmente unter unseren inwändig braunen „Freunden“ eine gewisse identitätsstiftende Wirkung haben, ich denke da z. B. an „T-Hemden“ mit Sprüchen wie „Odin statt Jesus“ und die berüchtigten Neonazi-Sonnenwendfeiern. Recht gebe ich Gandow darin, dass viele Rechtsextreme überzeugt sind, dass die politische Macht am ehesten über die kulturellen Hegemonie errungen werden kann. (Im Sinne einer metapolitschen Strategie: „Geistige Lufthoheit“ über die Diskurse, etwa, indem z. B. über „Ausländer“, „Unterschichtler“ aber auch „Heuschrecken“ auch von Nicht-Rechtsextremen in rechtsextremen Begriffen und nach rechtsextremen Modellen argumentiert wird).
Wenn, nach Beobachtungen Gandows, sich antisemitisches Gedankengut und rassenideologische Vorstellungen in den meisten germanischen Kultgemeinschaften heutiger Zeit wiederfinden, dann liegt das meines Erachtens daran, welche „Kultgemeinschaften“ er beobachtet hat. Demokratisch gesonnene Heiden hat er, nach meinem Eindruck, nicht „auf seinem Radar“. Warum kann ich nur vermuten.
Einen Grund vermute ich darin, dass Gruppen, die tatsächlich oder potenziell gefährlich sind, natürlich von einem engagierten Demokraten und Christen stärker wahrgenommen werden, als Gruppe, die die Demokratie schätzen und denen Heidentum nicht vor allem aus demonstrativem Antimonotheismus als „Feindschaft zu den Wüstenreligionen“ besteht.
Aber das ist, denke ich, nicht der einzige Grund. Ich weiß nicht, ob es bei Gandow wirklich der Fall ist, aber ich habe den Eindruck, dass er manche vollmundigen Behauptungen aus „rechten Heidenkreisen“, vor allem aus der Richtung der Armanen, für bare Münze nahm.
Bei seinen Kollegen bei der EZW beobachte ich z. B., dass eine winzige Gruppe wie die (übrigens nicht rechtsextremistische, aber im weitesten Sinne „ariosophische“) G.G.G. sehr großen Raum einnimmt. Ich vermute, dass das daran liegt, dass die G.G.G. Strukturen aufweist, die einem Christen vertrau sind: etwa eine hierarchische Ordnung und so etwas wie Glaubenssätze und heilige Schriften. Dem Denken von Sektenexperten, die sich vor allem um Organisationen wie die Munies, die Scientologen und die nach ähnlichem Muster aufgebaute, straff organisierte „Psychokulte“ kümmern, kommt entgegen, dass die paar Anhänger der G.G.G. so etwas wie einen „Guru“ als so etwas wie eine „zentrale Autorität“ haben.
Hinzu kommt, dass die Trennlinie, sowohl in der Arbeit Pfarren Gandows wie in der der EZW, ganz im Sinne einer traditionellen Apologetik, nach wie vor zwischen Christen und Nichtchristen zu verlaufen scheint – und nicht, was im Falle der rechtsextremen „germanische Kulte“ meines Erachtens geboten wäre, zwischen erklärten Menschenrechts-Vertretern und Figuren, die den Menchenrechten indifferent, gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstehen.
Ähnliches und gesellschaftlich weitaus Verheerenderes geschieht auch im „Dialog zwischen Christen und Moslems“ – es ist m. E. ebenso verfehlt wie bezeichnend, dass sich die vom früheren deutschen Innenminister Wolfgang Schäuble angeregte „Deutsche Islamkonferenz“ einseitig auf strenggläubige Muslime und „verbandsislamische“ Kräfte fixiert. Dadurch, dass die Trennlinie vor allem zwischen „den Religionen“ gesehen wird, und dass „kirchenähnliche“ Organisationen als Gesprächspartner bevorzugt werden, spielt die Islamkonferenz ungewollt „Islamisten“ bzw. Anhängern einer „islamisch“ bestimmten autoritären Gesellschaft in die Hände und behindert damit de facto die Integration von Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern.
Ein uns direkt betreffendes Beispiel: 2004 wurde Duke Meyer – als Gode der Nornirs Ætt und ehemaliger Pressesprecher des „Rabenclan“ – zuerst eingeladen, um auf einer Tagung einen Vortrag über „rechtsradikale Tendenzen im Neuheidentum“ zu halten – und wieder ausgeladen, da der Veranstalter, Dr. Pöhlmann von der EZW, kein Verständnis dafür hatte, dass Duke über sein Referat hinaus als Gast auch gern den anderen Referenten gelauscht hätte. Dr. Pöhlmann argumentierte damals, dass er dasselbe dann auch jenem anderen „Heiden“ unter den Referenten gestatten müsste, und das würden ihm dann „zuviele Heiden“ auf der Tagung – „zu viele Heiden“ (2, in Worten „zwei“, die außerdem weltanschaulich Welten trennen), fürchtete er, ließen diese Veranstaltung über Neuheiden „aus dem Ruder“ laufen.
Jener andere Heide war übrigens ein gewisser Geza v. Nemenyi von der G.G.G..
Etwas Ähnliches – nämlich, dass er die straff hierachisch organisierten „rechten Heiden“ schon deshalb in ihrer Bedeutung überschätzt, weil sie hierarchisch organisiert sind, und dass für ihn die Frontstellung „Christen vs. Heiden“ mindestens ebenso wichtig ist wie die „Demokraten / Menschenrechtsverteidiger vs. Diktaturfreunde und Menschenrechtsfeinde“ – vermute ich bei Pfarrer Gandow. Ich hoffe, dass sein Nachfolger das etwas anders sieht.
Herzlichen Dank für den fairen Kommentar und die sachliche Kritik.
Manche meiner Einschätzungen sind zeitgebunden, entsprachen dem damaligen Kenntnisstand, auch den damaligen Kontakten und Begegnungen – u.a. mit dem Bezugspunkt Berlin.
Hier waren aber auch die Verbindungen der neuheidnischen Szene zu politischen Gruppen und umgekehrt zeitweilig besonders stark und erfolgreich.
Danke für Ihre souveräne Reaktion!
Schließlich ist die Kritik, die ich in meinem Kommentar äußere, doch sehr deutlich.
Ich hatte schon leichte Bedenken, ob ich Sie nicht doch zu polemisch kritisiert hätte. Es liegt mir ja nichts daran, engagierte Aufklärer über Gefahren durch „Sekten“ und Rechtextremisten wie Sie „herunterzuputzen“ oder schlecht zu reden.
Martin M.
Meldung des „Tagesspiegels“ vom 10. März 2012: Bundesverdienstkreuz für Scientology-Experten