Schublade auf und rein mit dir!
Schubladen schaffen Ordnung und Schubladendenken ist herrlich bequem – außer für die Verschubladisierten.
Schubladendenken beruht auf Vorurteilen und bekräftigt Vorurteile. Die geistige Schublade wirkt als sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Schubladendenken kann gefährlich sein oder auch nur lästig. Meist entbehrt es beim näheren Hinsehen nicht einer gewissen Absurdität.
Wie Schubladendenken funktioniert, lässt sich sehr schön am Beispiel einer uns wohlbekannten kleinen Band zeigen. Immer wieder werden die „Singvøgel“ als „Mittelalterband“ verschubladisiert. Das ist für eine rocklorientierte Band, bei der, bei aller instrumentellen Vielfalt, Sackpfeifen, Zinken und Schalmeien durch Abwesenheit glänzen, und deren Texte auffallend oft zeitkritisch sind, immerhin bemerkenswert.
(Das manche an einen Dudelsack erinnernde Instrument im Lied „Freundchen“ ist kein solcher, sondern eine Bordunflöte, genauer gesagt eine chinesische Hulusi. „Freundchen“ ist meines Wissens das einzige Stück im umfangreichen „Singvøgel“-Repertoire, in dem ein Borduninstrument vorkommt.)
Irgendwann einmal wurden die „Singvøgel“ von irgend jemanden als „Mittelalterband“ verschubladisiert. Vielleicht, weil sie auf einem „Mittelalterevent“ (oder etwas, was der Betreffende für ein „Mittelalterevent“ hielt) gesichtet wurden, denn wer da auftaucht, muss wohl Mittelaltermusik machen. Vielleicht ist es auch nur das schräge „ø“, das den Klischeetrigger scharf schaltet, oder die besagte (chinesische) Bordunflöte.
Da die „Singvøgel“ in der Schublade „Mittelalterband“ liegen, ist es nun einfach, auch nicht unbedingt „mittelalterliche“ Sachverhalte „mittelaltermäßig“ zu interpretieren. Sie singen mitunter von Zwergen, Elfen, Riesen und Meerfrauen? „Aha: Fantasy-Mittelalter, Tolkien-Barden – oder alte Märchen, neu nacherzählt. Wie auch immer: typisch Mittelalterszene!“
In dem einen oder anderen Lied kommen nordische Götter vor? „Klarer Fall: Wikingerband!“ Auch soll auch schon mal ein „Singvogel“ mit Trinkhorn am Gürtel auf der Bühne gesichtet worden sein – dass der Typ am Schlagzeug ein Star-Wars-T-Shirt trägt, irritiert vielleicht ein wenig: „Diese Mittelalterfreaks sind halt ein bisschen exzentrisch und nicht immer authentisch!“
Sie singen über die Verzweiflung einsamer Nächte, über korrupte Politiker, für bedrohte Bürgerrechte? „Sie verlassen eben manchmal die typischen eskapistischen Sujets einer Mittelalterband.“ Sie setzen E-Gitarren und Synthesizer ein? „Das musikalische Spektrum geht über die archaische Instrumentierung klassischer Mittelalterbands hinaus.“
Jedenfalls ist es ziemlich schwer, einer Schublade erfolgreich zu entkommen.
Es gibt leider auch Schubladen, in die gedrängt zu werden für die Betroffenen äußerst unangenehm, wenn nicht sogar gefährlich sein kann.
Ein wager Hinweis darauf, dass der „Amokläufer von Newtown“ die ein oder andere Eigenschaft mit Autisten gemein gehabt haben könnte, reicht aus, um den Mörder und Selbstmörder in die Schublade „Kranker, der Krankes tut – gefährlicher Irrer“ einzusortieren. Nachdem alles in eine halbwegs passende Schublade gestopft wurde, sind im Umkehrschluss Autisten – oder eigentlich Menschen mit Asperger-Syndrom – potenzielle Amokläufer. Jens ‚ passendem Kommentar Fickt euch, Medien! schließe ich mich voll und ganz an!
Es kam dann auch, wie es wohl kommen musste:
Der irre Amok-Killer von Newtown. Eiskalt. Ohne Gefühl. Kein Mitleid. Bild.de erklärt das Asperger-Syndrom.
Da fällt mir, wie Jens, nicht einmal eine passende Beleidigung ein!
Dass die Artikel, z. B. in „Spiegel online“ und sogar auf „Bild.de“ inzwischen „entschärft“ wurden, bringt die ausgedrückte Zahnpasta nicht in die Tube zurück. Denn Schubladendenken ist ja so bequem, dass viele Menschen es äußerst ungern aufgeben. Wozu sich Gedanken über Tatmotive, Umfeld oder gesellschaftliche Verhältnisse machen, wenn doch, Schublade sei dank, alles so klar und einfach ist: der „Amokschütze“ war schwer geistesgestört, und damit fertig!
Wie schon das bisher medial bevorzugte Amok-Erklärungsmodell „Killerspiele“ weckt die „Aspie-Erklärung“ gefährliches Misstrauen. Jeder „Aspie“ eine tickende Zeitbombe? Eine dauernde Gefahr für seine Mitmenschen? Wäre es vielleicht nicht besser, diese bedauernswerten Menschen zu ihren eigenen Besten und zum Schutz der Bevölkerung in angemessene gut gesicherte Einrichtungen zu stecken? Denn diese eiskalten Irren ohne Gefühl und Mitleid kann man doch nicht frei herumlaufen lassen. Denkt keiner an die Kinder!?!
Ich oute mich mal als „eiskalt, ohne Gefühl, mitleidslos“. Zwar ist das Asperger-Syndrom bei mir nicht spektakulär ausgeprägt, aber wer weiß? Stille Wasser sind bekanntlich tief und Zeitbomben ticken leise. Das macht mir Angst und macht mich zornig. Ach so, ich habe bekanntlich ja gar keine Gefühle.
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