Kultur & Weltbild

Im Zeitstrom des Lebens

Urd, Werdandi und Skuld

wenn das, was ist, das ist, was war
und mir das morgen doch nicht klar
weil es im dunklen liegt verborgen
des gestern, heute, übermorgen
dann komm ich heute aus dem gestern

geh die wege die ich muß
so kommt das neue aus dem alten
und alles ist in stetem fluß
vereinigt sich im meer des lebens
und kam auch schon aus ihm hervor

ich folge nur dem lauf des flusses
der zum wassertropfen mich erkor
ob blind für seitenwege oder zeichen
oder offenen Auges frei und wild
weben die nornen mir mein schicksal

und weisen des morgens neues bild

Wen bewegt nicht von Zeit zu Zeit (sic!) die Frage, was sie denn nun ist, die Zeit: Realität oder Fiktion, linear verlaufend oder in Wellen, einmalig oder gar in Parallelwelten existierend. Aus dieser Frage ergeben sich neue und immer wieder andere. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist dabei gewiß eine wesentliche, aber auch aus ihr ergeben sich neue, wie die nach dem Schicksalsgedanken, der freien Entscheidungsmöglichkeiten und der Art und Größe der Verantwortung, die wir für unser jeweiliges Handeln tragen. Wer sind wir und warum sind wir? Welches Weltbild, welches Bild von der Welt tragen wir in uns. Denn dieses ist es, das unser Handeln und Denken wesentlich bestimmt und prägt. Die „Zeit“ zu verstehen und zu erklären ist ein erster Schritt, uns selbst zu verstehen und unseren Platz im Universum des Ganzen einzunehmen.

Carola Seeler, 2004

Die Nornen, die Zeit und ein Weltbild – oder zwei, oder drei…

Urd, Werdandi und Skuld sind die Namen der drei Nornen, der Wächterinnen über das Schicksal und das Gefüge der Welt, die den Schicksalsteppich weben.

Sie knüpfen Fäden und kürzen sie und stehen für das, was „Wyrd“-Netz genannt wird. Wir Menschen der Moderne neigen nun dazu, Urd, Werdandi und Skuld mit den uns bekannten Zeitfeldern „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ zu verknüpfen – vergessend, dass die Kultur, die die Nornen hervorbrachte, in ihrer Sprache nur zwei Zeiten (Vergangenheit und Gegenwart) kannte. Somit kann davon ausgegangen werden, dass sich im Weltbild der germanischen Kulturen die Vorstellung und der Umgang mit dem Faktor „Zeit“ anders verhalten haben muss, als wir es in unseren heutigen Vorstellungen von der Reise auf einer Zeitachse tun. Auf dieser Zeitachse befinden wir uns dann an einem Punkt, an dem wir gerade sind, blicken zurück auf das, was hinter uns liegt und auf das voraus, was vor uns liegt, wie bei einer Reise auf einer Eisenbahnschiene. „Zukunft“ war in den alten Zeiten grammatisch nicht vorgesehen – zumindest keine Zukunft, die getrennt von der Gegenwart stattfand. Die deutsche Sprache weist ja noch heute auf diesen Sachverhalt hin, wenn sie im täglichen Sprachgebrauch das Futur nur dann nicht im Präsens ausdrückt, wenn eine Bedingung oder eine Möglichkeit damit verbunden ist. Das bedeutet, dass Zeit nicht zwingend linear verstanden werden m u s s.

Gibt es also Alternativen? Fragen wir doch die, die heute so gern mit Zeitformen in Zusammenhang gebracht werden, die es zu ihren besten Zeiten so noch gar nicht gab: die Nornen.

Urd

Urd heißt „das Gewordene“. Sie steht damit für das Manifestierte, also das, was wirklich da ist, was begreifbar ist, was man wissen kann – dass der Urdbrunnen so heißt, wie er heißt, hat eben hier seinen Grund.

Somit steht Urd auch für das, womit man „rechnen“ kann. Keine Konjunktive gibt es hier, keine „hätte-wäre-wenns“, weil es sich sonst nur um Spekulationen handeln würde, die selten nützliche Ansätze für Analysen und Ausgangspunkte sein können, unabhängig davon, ob es sich um Risiken handelt, die glücklicherweise nicht eingetreten sind oder Dinge, die man sich gewünscht hätte, die aber nicht existent sind – und nicht etwa: einem versagt blieben. Es geht also um das, was ganz konkret „da“ ist.

Denn diese „gewordenen“ Dinge/Situationen etc. sind die Tatsachen, derer man sich sicher sein kann – die allerdings auch nicht mehr zu ändern sind, sondern akzeptiert werden wollen, damit man etwas mit ihnen „anfangen“ kann.

Werdandi

Werdandi – sie ist der Wortbedeutung nach, als Partizip Präsens, das „Werdende“, das im Entstehen begriffene, gerne „Gegenwart“ genannt und doch nicht dem heutigen Verständnis einer Gegenwart entsprechend; denn sie wird in diesem Augenblick, sie ist nicht schon.

Für das, was schon ist, steht ja bereits Urd. Werdandi ist das, worauf man „Einfluss“ nehmen kann – aber nur in dem Rahmen dessen, worauf es aufbaut, nämlich auf dem, das schon geworden ist. Und je „selbstverständlicher“ man in diesem Werde-Prozess auf der Basis dessen bleibt, was da ist, desto „passender“ ist das Ergebnis – weil man in seine Wünsche und Hoffnungen nichts einbaut, das keine Basis hat und somit ein Luftschloss wäre. Der viel zitierte und wenig verstandene „germanische Pragmatismus“ braucht auch hier keine Konjunktive, denn er hat etwas Besseres: das, was da ist, ist die stabile Grundlage für das, was entsteht.

Skuld

Skuld als Synonym für den Begriff Zukunft zu bezeichnen, ist dann noch unpassender als die letzten beiden Zuordnungen in diesem „Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Denken“. Spätestens hier merkt man, dass es nicht um Zeitanalogien, sondern um eine völlig andere Einstellung oder Weltsicht geht. Skuld entspricht als Wort einem „Optativ“, betrachtet also das, was nunmehr „rauskommen müsste“ oder „soll“, wie der Name sagt, also die Konsequenz auf der Grundlage einer auf einer greifbaren Basis stehenden Entscheidung dessen, was man tut – denn diese Konsequenz ist das, was man dem schuldet, was ist und daraus entsteht – und auch was man will.

Es geht dabei also nicht etwa um ein konkretes Ergebnis: das liegt im Gegensatz zum heutigen Denken eben nicht in der Zukunft, sondern kann nur in der Welt der Urd betrachtet werden. Woanders gibt es nichts „Begreifbares“ zum Anschauen, Drehen und Wenden. Skuld ist die Konsequenz dessen, das sich aus einer an dem was „ist“ ausgerichteten Formung des gerade sich Manifestierenden ergibt.

Pragmatismus oder Fatalismus?

Der Unterschied hört sich klein an, wenn man sagt „man tut Dinge, um dieses und jenes Ergebnis in der Zukunft anzustreben“ oder „man tut Dinge, um im Rückblick feststellen zu können, das richtige getan (manifestiert) zu haben“ – aber er ist fundamental.

Die eine Sichtweise ist Bewegung, man strebt, tut „um zu“ und versucht eine Richtung einzuhalten auf ein Ziel hin, das man „dort vorn irgendwo“ vermutet. „Glück“ kann man haben: wenn man dieses Ziel halbwegs sauber erreicht und nicht all zu weit daneben lag in der Peilung – was in vielen Fällen wirklich „nur“ glücklicher Zufall sein kann?

Die andere Sichtweise ist eine „Gegenwärtige“, wobei schon dieses Wort wieder missverständlich ist. Die Welt besteht aus „gewordenen“ Dingen oder Umständen, und in dieser Welt lebt man. Um einen herum sind dabei die Dinge in Bewegung, werden, nehmen Form an – abhängig von dem, das schon da ist und unter der Prämisse, dass „die Welt“ auf das Leben und die Möglichkeit bzw. das Ermöglichen von Leben ausgerichtet ist.

Alles geschieht in der Konsequenz dessen, was bereits begreifbar und manifest ist und was man damit tut. Alles, was geschieht und was man selber tut, hat auch eine Konsequenz, die ebenso zu akzeptieren ist, wie das, worauf dieses Tun basiert. Ich muss also die „Tatsachen“ akzeptieren und meine „Möglichkeiten“, die sich daraus ergeben ebenso, wie ich bereit sein muss, die Konsequenzen, die sich aus meinem Tun ergeben, zu akzeptieren, um überhaupt auf Werdendes zugreifen zu können.

In diesem Weltbild gibt es wenig Raum für das, was heute „Zufall“ genannt wird, oder „Glück“. Es kann keine Aufgabe geben ohne eine dazugehörende Lösung, denn eine Herausforderung, also die Möglichkeit auf Werdendes“ formend einzugreifen, bedingt Vorhandenes und eine dazu gehörige Konsequenz. Zumindest, wenn man von einer Welt ausgeht, die prinzipiell „Sinn macht“. Davon nicht auszugehen wäre wenig pragmatisch.

Es mag natürlich sein, dass der, der vor einer Aufgabe steht, nicht alles sehen kann, was diese Aufgabe beinhaltet und welche (Aus)Wirkung sie hat. Aber wenn man die Konsequenzen akzeptiert, sind auch die Voraussetzungen da, die es ermöglichen, die Aufgabe zu lösen. Nicht, weil sie plötzlich auftauchen, wo vorher nichts gewesen wäre, sondern weil sie dazu gehören und die Welt, in der alle Dinge ihren Sinn haben, ohne sie nicht komplett wäre. Man hat sie halt nur (noch) nicht gesehen.

Nach heutiger Sichtweise hilft einem hier der „Zufall“ oder es ist „eben Schicksal“, das man hinnehmen muss. Aus der Sicht der Nornen passiert das, was passieren muss. Nicht etwa, weil irgendein Ding namens „Zukunft“ festgelegt wäre, sondern weil alles aus einem Kreislauf von Tat und Konsequenz heraus geschieht, auf der Basis dessen, was ist.

Hier fährt man nicht linear von irgendwoher irgendwohin. Hier ist man. Und um einen herum pulsiert der Zyklus des Lebens, mit sich selbst mittendrin.

Sven Scholz, 2004

4 Gedanken zu „Im Zeitstrom des Lebens

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