Neil Gaiman: American Gods
Was geschieht mit Göttern alter Kulturen, wenn die Träger ihrer Kultur wandern? Manchmal nehmen die Menschen sie mit: in ihren Herzen, in ihren Mythen, im Hintergrund ihrer Kulturen. Doch wenn sie vergessen werden, degenerieren Götter. Das ist die Voraussetzung, von der Neil Gaimans Roman „American Gods“ ausgeht. –
Shadow hat drei Jahre in Haft gesessen. Nun soll er, kurz vor Weihnachten, wegen guter Führung vorzeitig entlassen werden. Er hat ein Leben, in das er zurückkehren kann, eine Frau, die auf ihn wartet, und einen alten Bekannten, der einen Job für ihn hat. Noch bevor er zu Hause ankommt, durchkreuzt jedoch ein Unglück Shadows Vorhaben, fortan ein rechtschaffenes bürgerliches Leben zu führen, und der zwielichtige Mr. Wednesday heuert ihn als Chauffeur, Leibwächter und Komplizen an. Fortan reisen die beiden kreuz und quer durch die USA, in einer Mission, deren wahrer Charakter sich erst ganz am Ende des Buches zeigt. Sie begegnen Gottheiten aus Europa, Afrika und Asien, indianischen Legendenfiguren, irischen Kobolden und Geistern aus dem Schwarzwald, aber auch modernen „Göttern“ des Fernsehens, der Technik und der Städte. Die alten und die neuen Götter – sie ringen um die Vorherrschaft in einem Land, das ohnehin (das wird schnell klar) kein gutes Land für Götter ist.
Gaiman schöpft aus allen Mythen, die je in die amerikanische Kultur eingeflossen sind, und baut auf ihnen eine Geschichte auf, die zwischen surreal-traumhaften Fantasy-Elementen, Roadmovie, Mystery und Horror pendelt. Das Erhabene liegt in diesem Buch nur eine Haaresbreite vom Trivialen, das Urkomische neben dem abgrundtief Traurigen.
In Zwischenspielen beleuchtet Gaiman, wie die Götter nach Amerika gekommen sind. Hier wird man auch mit Teilen der US-amerikanischen Geschichte konfrontiert, die man als gewöhnlicher Westeuropäer in dieser Form nicht präsent hatte (etwa die Deportation von Sträflingen aus England in die damaligen englischen Kolonien in Nordamerika, wo sie als Dienstboten eingesetzt wurden), sowie mit Fiktionalisierungen altbekannter Fakten, die unter die Haut gehen. Einige dieser Geschichten sind leicht erkennbar Fiktion, andere erscheinen historisch wahrscheinlich.
Ich wünschte mir beim Lesen manchmal eine Karte der USA: Denn Gaimans Roman bewegt sich kreuz und quer durch die Staaten, von den Südstaaten bis nach San Francisco, und es sind die hinterwäldlerischen, provinziellen Gegenden, in denen der größere Teil der Handlung stattfindet.
Shadow ist über weite Strecken eher ein Antiheld, ein Spielball der Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Göttern und der rätselhaften Ränke von Mr. Wednesday. Erst am Ende wächst er über sich hinaus, wird erwachsen, erlangt echte Handlungsfähigkeit – und damit Freiheit und Lebendigkeit.
Reaktionären Geistern wird Gaimans amerikanische Anverwandlung der europäischen Mythologie schwerlich gefallen. Sein Mr. Wednesday ist nämlich ein abgehalfterter alter Gauner, der nur gelegentlich die Würde und Größe eines Allvaters, über die er auch verfügt, durchscheinen läßt – wenig besser sind die anderen Götter. Sie sind allesamt keine strahlenden Gestalten, sondern sterblich, fehlbar, egoistisch, ja sogar zum Bösen fähig und ziemlich heruntergekommen. Und ein wenig Sex, Blut und Untote sollte man auch vertragen können. Das vorausgesetzt, ist „American Gods“ ein Lesevergnügen, das meine Nächte etwa zwei Wochen lang deutlich kürzer als gewohnt ausfallen ließ.
Das Blog des Autoren: Niel Gaiman’s Journal
Originalausgabe, gebunden:
New YorK: William Morrow, 2001
ISBN-10: 0060093641
ISBN-13: 978-006009364
Taschenbuch:
New York: Harper Perennial, 2003
ISBN-10: 0060558121
ISBN-13: 978-0060558123
Deutsche Ausgabe, gebunden:
München: Heyne, 2003
ISBN-10: 3453874226
ISBN-13: 978-3453874220
Deutsche Ausgabe, Taschenbuch:
München; Heyne, 2005)
ISBN-10: 3453400372
ISBN-13: 978-3453400375
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