Johann Kruse und das Hamburger Hexenarchiv
„Hexenglaube“ ist kein Phänomen grauer, unaufgeklärter Vergangenheit. Nicht nur, dass es moderne Hexen – z. B. Wicca – gibt, die den Hexenbegriff für sich positiv bewerten, oder dass der traditionelle Volksglauben an Schadenzauber und Abwehrzauber überlebt hat. Tatsächlich sind „Teufelspakt“-Vorstellungen, die denen aus der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung (15. – 17. Jahrhundert) entsprechen, erstaunlich weit verbreitet (man sehe sich nur auf christlich-fundamentalistischen Websites um).
Der Lehrer und Amateur-Volkskundler Johann Kruse (1889-1983) setzte sich Zeit seines Lebens mit der „modernen“ Hexenfurcht auseinander. Eine seiner selbstgestellten Aufgaben war es, die weitere Verbreitung des „Hexenwahns“ in der Bevölkerung zu bekämpfen und gleichzeitig die Verurteilung von Hexen in der Gegenwart zu verhindern. Das Hexenarchiv geht auf seine Sammlung zurück.
Was ist das „Hexenarchiv“?
Das Hexenarchiv am Hamburger Museum für Völkerkunde – offiziell: „Johann Kruse Archiv zur Erforschung des neuzeitlichen Hexenglaubens“ ist eine in Deutschland einmalige Einrichtung. Kernstück ist das Pressearchiv mit Zeitungsausschnitten vor allem aus Deutschland, aber auch aus anderen Teilen der Welt, aus dem Umfeld Magie und Hexerei, das bis in die 1920er Jahre zurückreicht, und die Sammlung von Briefen über Hexenbeschuldigungen. Gesammelt werden auch Informationsmaterialien aus dem weiten Umfeld der „Neuen Hexen“, aus dem Bereich der neuen Religionen, nichtchristlichen Sekten und Kulten, dem neuen Heidentum, New Age, Neo-Schamanismus, alternativer Medizin, bis hin zu freien Rituallehren.
„Hexenmedizin“ im Hexenarchiv
Das Hexenarchiv besitzt eine Bibliothek von Zauberbüchern und Fach- und Sachbüchern über Hexen und Magie, aber auch von abergläubischen, hysterischen und geschäftstüchtig-kommerzesoterischen Schriften. Hinzu kommt eine Sammlung von Objekten wie angeblichen Abwehrmitteln gegen Hexerei.
In das Hexenarchiv integriert ist die über 1500 Objekte umfassende Amulett-Sammlung des Hamburger Augenarztes Dr. Siegfried Seligmann (1870-1926), die sich seit 1927 im Museum befindet und zu den großen Schätzen des Hauses gehört. Seligmann hatte jahrzehntelang Informationen und Objekte zum Thema Amulett und Talisman, zu magischen Heil-, Schutz- und Zaubermitteln gesammelt.
Das Archiv steht nicht nur Fachwissenschaftlern und Studenten zur Verfügung. 1990 wurde die Hexenarchiv-Sprechstunde eingeführt. Einmal pro Woche steht eine Expertin zur Verfügung, die Besuchern, die sich für das Archiv oder die Themen, mit denen sich das Archiv beschäftigt, kompetent informiert, und die zahlreichen telefonischen und brieflichen Anfragen beantwortet. Wissenschaftler, Studenten, Lehrer und Journalisten nutzen die Sprechstunde gerne für Recherchen. Aber es gibt auch ein breiten allgemeines Publikum das Hexenarchiv ist mittlerweile zu einer wichtigen Informations- und Kontaktbörse geworden. Am Museum – und damit dem Hexenarchiv – arbeiten ausschließlich Wissenschaftler aus den Fachgebieten Ethnologie und Geschichte. Psychologische Hilfe, etwa für Menschen, die sich verhext fühlen, kann und soll nicht geleistet werden, dafür stehen bei Bedarf Kontaktadressen zur Verfügung. Bei Ausstellungen und Veranstaltungen des Museums, die die Themen Hexen, Schamanismus und Magie berühren, berät das Hexenarchiv. So entstand die die große Ausstellung „Hexenwelten“, die von Mai 2001 bis April 2003 lief, unter maßgeblicher Mitwirkung des Hexenarchivs.
Johann Kruse, Begründer des Hexenarchivs (1889-1983)
Johann Kruse war von Beruf Volksschullehrer. Seit seiner Studienzeit befasste er sich mit Volkskunde, wobei er sich vor allem mit dem Geister-, Verwünschungs- und Hexenglauben im ländlichen Schleswig-Holstein und nördlichen Niedersachsen. Dabei entdeckte er, dass der „Hexenwahn“, der zur Zeit der großen frühneuzeitlichen Hexenverfolgung Hunderttausenden unschuldigen Opfern das Leben gekostet hatte, auch im frühen 20. Jahrhundert noch nicht ganz verschwunden war. Besonders bedrückte ihn das Schicksal der Dorfhexen, denen man schadenzauberische Fähigkeiten nachsagte, und alles nicht erklärliche Ungemach in die Schuhe schob. Kruse sammelte alles, was er zum Thema Hexen finden konnte. Zahlreiche Aktenordner füllten sich mit Zeitungssausschnitten und Briefe, in denen von Hexereibeschuldigungen berichtet wurde. Er sammelte außerdem Literatur und vorgebliche Abwehrmittel gegen Schadenzauberei.
1923 wandte Kruse sich erstmals an eine größere Öffentlichkeit, als er sein Buch „Hexenwahn in der Gegenwart“ veröffentlichte. Ab 1926 begann er mit systematischen Erkundungszügen durch Norddeutschland, wobei er Frauen aufsuchte, die als Hexen verrufen waren. Er engagierte sich für diese Frauen, die in zumeist ländlichen Gebieten zu Außenseiterinnen gestempelt wurden und vielen Diffamierungen ausgesetzt waren. Er trat als Gutachter bei Prozessen auf, in denen sich die betroffenen Frauen gegen die Verleumdungen zu Wehr setzten. Im Laufe der Jahre baute er seine Sammlung zum „Archiv zur Bekämpfung des neuzeitlichen Hexenwahns“ aus. Kruses besonderer Zorn richtete sich gegen die „Hexenbanner“, die noch in den 1950er Jahren gegen gutes Geld angeblichen Schutz gegen den Schadenzauber angeblicher Hexen anboten. 1951 veröffentlichte er sein bekanntestes Buch, „Hexen unter uns?“, in denen er ausführlich die Aufgaben seines Archivs beschrieb und seine Forschungsergebnisse vorstellte.
In vieler Hinsicht ist er das Gegenstück zu einem noch bekannteren Amateur-Volkskundler und Hexenforscher, nämlich Gerald Gardner. Interessanterweise stimmen einige der Forschungsergebnisse, die Gardner in England gewann, mit denen Kruses aus Norddeutschland überein. (Am Rand vermerkt: Das alte plattdeutsche Wort für Hexer ist „Wikker“, für Hexe: „Wikkersche“, und Plattdeutsch ist die dem alten Angelsächsischen ähnlichste lebenden Sprache. Bezeichnenderweise wusste Gardner das nicht – oder wollte es nicht wissen, als er das Altenglische „Wicca“ von „weise Leute“ ableitete.) Ihre Motivation und Weltanschauung hätte allerdings kaum unterschiedlicher sein können. Gardner war Romantiker, war von der Wirksamkeit von Magie überzeugt, beschäftigte sich mit Logenmagie und stand dem Enfant Terrible der modernen Magie, Aleister Crowley, nahe. Der englische Hexenforscher deutete seine Forschungsergebnisse im Sinne der umstrittenen Theorie der Ägyptologin Margret Murrey, die eine im Untergrund von der Steinzeit bis heute überlebende Alte Religion der Großen Göttin und der Gehörnten Gottes postulierte. Ab den 1920er Jahren folgte er der Idee, die „Alte Religion“ wieder zu beleben bzw. neu zu begründen.
Ganz anders Kruse. Auch er fand Frauen und – seltener – Männer, die sich selbst als Hexen bezeichneten, auch er erfuhr von angeblichen hexerischen Familientraditionen. Er wertete das jedoch als aus „heidnischen Zeiten“ überlebenden Aber- und Irrglauben, der, von einigen volksmedizinischen Fähigkeiten abgesehen, ohne jede reale Grundlage wäre. Kruse wollte den immer noch gefährlichen Hexenwahn dadurch bekämpfen, indem er den Aberglauben der Bevölkerung bekämpfte. Dabei erkannte er, dass neben dem tradierten Volksaberglauben der moderne, angelesene Bildungsaberglauben dem Treiben geschäftstüchtigerer Hexenbannern, Wundermittelverkäufern und anderen Scharlatanen Vorschub leistete. Folglich bekämpfte er esoterische und okkulte Literatur und forderte gesetzliche Verbote. Kruse bedauerte, obwohl er kein Nazi-Sympathisant war, dass das 1937 von Heinrich Himmler erlassene Verbot des „6. und 7. Buch Moses“ und weiterer okkulter Schriften in der Bundesrepublik aufgehoben wurde. Seine kompromisslose Haltung wird verständlich, wenn man bedenkt, wie viele Rufmordkampagnen, vernichtete Existenzen, Prozesse und Selbstmorde auf das Konto des in der Verfolgungszeit der frühen Neuzeit wurzelnden Hexenwahns immer noch gingen (und gehen).
Bis ins hohe Alter verteidigte Kruse Menschen, die dadurch, dass man sie der Hexerei oder des Schadenzaubers verdächtigte, Nachteile erlitten. Als pensionierter Lehrer machte er regelrechte Vortragstourneen, er gab Interviews, schrieb Zeitungsartikel. Zum geflügelten Wort wurde sein Ausspruch vom „Hexenwahn im Atomzeitalter“. Er kämpfte vor allem gegen die verbreitete Vorstellung an, Hexenverfolgung sei ein Relikt aus vergangenen Zeiten – mit anderen Worten, gegen das Prinzip, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Als unermüdliche Aufklärer kritisierte er immer wieder sensationsgierige Boulevardjournalisten, Geschäftemacher auf esoterischem Gebiet, aber auch Kirchenvertreter, die an fragwürdigen Vorstellungen von Teufelspakten und unchristlicher schwarzer Magie festhielten.
Ab den 1960er Jahren setzte ein Gesinnungswandel der Gesellschaft zur Magie, Hexerei und Heidentum ein, zuerst bei Außenseitern wie den Hippies, später, im Zuge der Esoterik-Welle, auch in bürgerlichen Kreisen. Nun gab es immer mehr Menschen, die sich selbst stolz „Hexen“ nannten. Die Probleme wurden dadurch nicht kleiner, aber anders: Nicht mehr die ausgegrenzte Dorfhexe, sondern die Opfer von Sensationsjournalismus und hysterischen christlichen Eiferern standen nun im Mittelpunkt. An die Stelle der Hexenbanner traten die vollmundigen Versprechen von „esoterischen Gurus“. Kruse erlebte und begleitete die Anfänge dieses Wandels noch aktiv mit.
1978 übergab er sein gesamtes Archiv dem Museum für Völkerkunde in Hamburg. Das bedeutete gleichzeitig die Gründung des ‚“Johannes Kruse-Archivs zur Bekämpfung des neuzeitlichen Hexenwahns.“
Wandel seit Kruse
Das Hexenarchiv wurde von nun an konsequent ausgebaut. Der bereits erwähnte Gesinnungswandel in der Gesellschaft ging am Hexenarchiv und seinen Aufgaben nicht vorbei. Schon wegen der gebotenen wissenschaftlichen Neutralität des Ethnologen wurde der Begriff „Bekämpfung“ im Namen des Archivs gegen „Erforschung“ ausgetauscht. Die moderne Ethnologie (Völkerkunde) trifft keine prinzipiellen Unterschiede mehr zwischen der Arbeit eines sibirischen Schamanen und der einer europäischen Stadthexe. Dem Begriff „Hexenwahn“ gab man ebenfalls auf, da es seit Ende der 1970er Jahre zu einer positiveren Neubewertung des Begriffs „Hexe“ gekommen ist. Das Hexenarchiv nach Kruse wurde von der Historikerin Heidi Staschen geprägt, die noch als Studentin das riesige Archiv erstmals systematisierte. Frau Staschen war es auch, die den Tätigkeitsbereich des Archivs auf die „neuen Hexen“ ausweitete und mit der historischen Hexenforschung verknüpfte. Auch die Hexenarchiv-Sprechstunde ging auf ihre Anregung zurück.
Sichtbares Zeichen den Wandels war die „Hexen-Gedenk-Woche“ anlässlich des 100. Geburtstags Kruses 1990. Erstmals fanden öffentliche Workshops zum Thema Hexerei im Museum statt, erstmals traten hier auch in einer viel beachteten öffentlichen Diskussion die neue Hexen Attis und Ute Schiran im seriösen Umfeld des renommierten Museums auf. Die „Hexen-Gedenk-Woche“ gedachte nicht nur dem Lebenswerk Kruses, sondern machte gleichzeitig auf eine grundsätzliche Neubewertung vieler Themen in der Gesellschaft aufmerksam. Bereiche wie Esoterik, Okkultismus, Magie, die Johann Kruse so vehement als „Wahn“ bekämpft hatte, wurden nun von Teilen der Wissenschaft und auch in der breiten Öffentlichkeit in einem anderen Licht gesehen. Der Wandel in der Ausrichtung des Hexenarchivs fand allerdings auch Kritiker, die die Frage stellten, inwieweit das erweiterte Sammlungs- und Forschungsziel im Sinne des Gründers gewesen wären. Diese Frage lässt sich posthum kaum beantworten. Sicherlich hätte der Esoterik-Gegner Kruse mit vielen der neueren Aspekte des Archivs Probleme gehabt. Allerdings ist es Kruses vordringlichstem Ziel, nämlich dass niemand mehr unter den Glauben an Hexen leiden soll, der Schutz der Opfer von Vorurteilen und Hysterie und die Aufklärung über irrige Vorstellungen über „schwarze Magie“ und ähnliches nach wie vor das Hauptziel des Hexenarchivs.
Martin Marheinecke, 2003, überarbeitet 2008
Foto: Hamburger Museum für Völkerkunde
Guten Abend,
das ist ein interessanter Artkel, in dem auch ich vorkomme. Ich war die erste Frau, die dies vielfältige Material gesichtt hat.
Das war in den 8o ger Jahren- vieles sehe ich heute anders.
ich grüße euch,
Hei-di
Pingback: “Hexenpanik” näher betrachtet - Asatru zum selber Denken - die Nornirs Ætt