Gjallarhorn Weblog

Identitär – und (un-)germanisch

Identitär

Ich befürchte, dass wir vor einem neuen Zeitalter von Angst und Illiberalität und neuem autoritären System stehen (…)

Das sagte der unlängst verstorbene Historiker und Holocaustüberlebende Fritz Stern in einem seiner letzten Interviews. Fritz Stern im Gespräch mit Dieter Kassel – Deutschlandradio Kultur, 2.Februar 2016
Es sieht, siehe u. A. mit Blick auf die USA, leider so aus, als ob Stern recht behielte. Stern stellte ferner fest, dass er keinen Staat wüsste, wo es das nicht gibt. Auch in dieser Beziehung dürfe der Historiker recht behalten, denn anders als bisher zeigen sich auch „alte, gefestigte Demokratien“ wie das Vereinigte Königreich, die USA oder auch Frankreich als anfällig.

„Es“, das ist ein Phänomen, das gewöhnlich als „Rechtspopulismus“ umschrieben wird. „Rechts“ ist insofern wahr, da all diese „Bewegungen“, Parteien, Politiker nationalistisch sind. „Populismus“ ist meiner Ansicht nach verniedlichend – es sind „propagandistische Feldzüge“ im Namen „des Volkes“ gegen die liberale Demokratie – und, was nicht übersehen werden soll, den modernen Sozialstaat. Wobei es paradoxerweise ja gerade der Abbau dieses Sozialstaates ist, der neben der breiter werdenden Schere zwischen Arm und Reich den rechten Bauernfängern Stimmen zutreibt. Es klingt bizarr, aber es ist wirklich so: Überraschend viele Menschen stimmen gegen ihre eigenen Interessen, wählen also wie die sprichwörtlichen „dummen Kälber“ ihren „Metzger selber“, um (vermeindlich) ihre Interessen zu wahren.

Da der Begriff „neuer Faschismus“ allzu „vernutzt“ und mit irreführenden Konnotiationen versehen ist, nenne ich die „Rechtspopulisten“ in Anlehnung an die zahlenmäßig eher unbedeutende, ideologisch jedoch wichtige „Bewegung“ der Identitären „identitär“.

Denn eines haben PEGIDA, AfD, die Brexiters im Vereinigten Königreich, die PiS in Polen, Trump in den USA, Erdogan in der Türkei usw. bei aller Verschiedenheit „im Angebot“:
„Wir stärken Eure Identität!“

„Identität“ – das bedeutet in diesem Zusammenhang, durch Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk, einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Lebensstil automatisch besonders wertgeschätzt, „ernst genommen“ zu werden. Das Gefühl, als „Abendländer“, „Weißer“, „Einheimischer“, „Hetero“ usw. jenen überlegen zu sein, die „nicht dazu gehören“.

„Dagegen“ sein ist nicht attraktiv

Im Juni 2016 gab es den „Brexit“ im Vereinigten Königreich, im November den Wahlsieg Trumps in den USA. Seit einigen Jahren gibt es reihenweise Wahlsiege der „rechten Populisten“ überall in Europa, und die Türkei ist stramm auf dem Weg in eine Diktatur.
Mit der Frage „Wie kann das passieren?“ hat sich Sven Scholz auf seinem Blog auseinandersetzt – ein langer Text, bei dem aber, wie ich finde, jedes Wort lesenswert ist: Perspektiven.

[…]Wie wären all diese letzten Wahlen wohl ausgegangen, hätten auch die US-Demokraten, die Remainers in England, die „etablierten“ Parteien in Deutschland den Menschen neben dem Ziel, etwas zu verhindern (Trump, Brexit, die AfD) auch etwas geboten „für“ das sie hätten stimmen können? Denn schon längere Zeit ist es so, dass nicht mehr die, die wählen gehen, den Ausgang von Wahlen bestimmen. Sondern die, die nicht (mehr) hingehen. Clinton hätte die Wahl gewonnen, wenn von denen, die sonst Demokraten gewählt hatten, nicht so viele zuhause geblieben wären.

Die anderen, die Trumps, Brexiters, Rechtsradikalen, deren Stimmanteil entspricht ziemlich genau dem Potential derer, die „für“ diese Leute oder Dinge sind. Das sind im Fall Trump knapp 25% der US-Amerikanischen Wählerschaft. Das ist keine Mehrheit. Die Brexiter haben ebenfalls so gut wie alle an die Urnen bekommen, die „für“ ihre Ziele stimmen, und das waren 37% der Wahlberechtigten. Diese Zahlen sind also das Potential „für“ die Ziele von Trump, Brexitern etc..

Dass die Mehrheit derzeit nicht „Für“ abstimmt, die „Für“-Menge aber dennoch eine Mehrheit in den Auszählungen erzielt, sagt mir:

Menschen gehen zur Wahl, um „für“ etwas zu stimmen. Wenn es als Alternative für ein „für“ nur ein „gegen“ gibt und kein anderes „für“, dann gehen zwar die zur Wahl, die etwas sehen, „für“ das sie stimmen können, es gehen vielleicht auch einige zur Wahl, um „dagegen“ zu stimmen oder die eine Stimme quasi aus einer Motivation der „Tradition“ heraus abgeben, aber die, die zeigen würden, dass die „Für“-Stimmen keine Mehrheit sind, bleiben zuhause. Und so siegen die, die den Menschen etwas geboten haben, „für“ das sie stimmen können.

Wer Menschen motivieren will für sich zu stimmen muss ihnen etwas bieten, „wofür“ sie stimmen können. Etwas, das sie betrifft. Etwas, das sie wollen. […]

Ein Beispiel. Die oft gestellte Frage: „Warum gibt es keine Massendemonstrationen gegen den grausamen Krieg in Syrien?“ läßt sich damit beantworten, dass bei den bekannten Großdemos „gegen etwas“ (z. B. TTIP oder die Vorratsdatenspeicherung) immer auch „für etwas“ („Faire, transparente, demokratisch konntrollierte Handelsbeziehungen“ oder „Informationelle Selbstbestimmung“) demonstriert wird. Bei „Anti-Kriegs-Demos“ wird in aller Regel auch für eine der beteiligten Kriegsparteien demonstriert – z. B. im Falle einer klassischen Invasion für die Verteidiger.
Im Syrien-Konflikt gibt es allerdings nur Kriegsverbrecher und Opfer von Kriegsverbrechen. Ich persönlich stehe z. B. vor dem Dillemma, zu wissen, dass die „Lösung“, die die meisten Menschenleben retten würde, ein schneller und vollständiger Sieg des Assad-Regimes wäre. Das Dumme dabei: Ich mag nicht für einen Diktator und Kriegsverbrecher eintreten – und übrigens auch nicht für die meiner Ansicht zurecht als „islamististische Terroristen“ bezeichneten Rebellen. Resultat: Ich bleibe zuhause und spende lieber an Hilfsorganisationen, auch wenn ich weiß, dass die bestenfalls das Elend lindern. Und ich fühle mich hilflos, wütend, verzweifelt, wenn dann Krankenhäuser, die auch von meinen Spendengeldern aufgebaut wurden, mit Waffen zerbomt werden, die auch mit meinen Steuergeldern bezahlt wurden.
So weit mein persönlicher Abschweif.

„Nationale Identität“ ist in Deutschland „germanisch“

Die identitäre Idee, jedes „Volk“ hätte eine separate gemeinschaftliche Kultur und einen „eigenen Charakter“, ist in der Tat sinnstiftend. Damit verbunden ist eine „rückwärtsgewandter Utopie“ – es wird wieder so werden, wie „früher“, als die Welt noch „in Ordnung“ war, als Nationalstaaten noch souverän waren, die Einheimischen unter sich und die Familie Kern der Gesellschaft war, als es noch keine Globalisierung gab und eine „brummende“ heimische Industrie für Wohlstand sorgte. (Es ist eigentlich unnötig, zu erwähnen, dass diese „gute alte Zeit“ hoffnunglos idealisiert gesehen wird – und dass unter „deutschen Patrioten“ keine Einigkeit darüber besteht, wann diese „gute alte Zeit“ eigentlich gewesen war.)
Es ist aber auch das Versprechen auf „Wandel“ damit verbunden: Weg mit den Eurokraten, dem internationalen Finanzkapital, den abgehobenen Eliten, den verlogenen Medien, her mit der „echten Demokratie“ im Sinne einer Mehrheitsherrschaft, die keine Rücksichten auf irgendwelche „Extrawürste“ störrischer Minderheiten mehr kennt, her mit starken Führungspersönlichkeiten, die wissen, was das Volk wirklich will! Vor allem gibt „identitäres“ Denken die Gewissheit, dass es völlig legitim ist, das eigene Volk, die nationale Kultur, das „Abendland“ mit allen Mittel gegen die Bedrohungen und Vermischungen zu schützen. Und wenn diese Politik auf Rassismus, Abschottung, Homophobie hinauslaufen sollte – ist doch egal, „wir“ als Weiße, Heteros, „anständige Deutsche“ sind ja nicht betroffen.

In Deutschland steht das „identitäre“ Denken, das es nicht nur in politisch rechten Parteien gibt, auf drei ideologischen Säulen:

  • der „deutschen Leitkultur“,
  • dem „christlichen Abendland“ (in Abgrenzung zu „dem Islam“),
  • und

  • der „Germanenideologie“

Auf die „deutsche Kultur“ kann man sich unter Umständen etwas einbilden – nur ist das eine Form der Einbildung, die eine gewisse Bildung voraussetzt. Mit Fragen nach herausragenden deutschen Künstlern, Wissenschaftlern, Dichtern oder Philosophen kann man deutsche Nationalisten erstaunlich oft in Verlegenheit bringen.

Das „christliche Abendland“ funktioniert hervorragend als (imaginäre) Schicksalgemeinschaft der wackeren Streiter gegen die angeblich drohende Islamisierung – nur ist die religiöse Bindung der meisten Deutschen eher schwach ausgeprägt, vergleicht man sie z.B. mit jener der US-Amerikaner oder der Polen. Letzten Endes bleiben „Leitkultur“ und „Abendland“ als identitätsstiftenden Elemente eher oberflächlich.

Die „Germanenideologie“ wird zwar nur noch von Rechtsextremisten offen vertreten, aber das Konstukt einer „deutschen Identität“ funktioniert ohne „unsere Vorfahren, die Germanen“ meiner Ansicht nach nicht.

Stark zugespitzt und verallgemeinnert: Der us-amerikanische Überlegenheitsdünkel speist sich z. B. aus einem Gefühl des religiösen Auserwähltseins nebst einer „Erfolgsstory“ des Aufstiegs zur Weltmacht, die der individuellen Erzählung vom Aufstieg vom Tellerwäscher zu Millionär entspricht. Der britische Überlegenheitsdünkel hat viel mit der Weltmacht-Vergangenheit zu tun. Ein ganz anderes Modell liegt dem polnischen Überlegendheitsgefühl zugrunde: Es rührt nicht zuletzt aus der Idee her, seit gut 300 Jahren immer nur das unschuldige Opfer ausländische Mächte gewesen zu sein, und sich trotzdem mit Gottes Hilfe niemals unterkriegen zu lassen.
Deutschland fehlt im Großen und Ganzen eine entsprechende „nationale Erfolgserzählung“ – zwei selbst fahrlässig herbeigeführte bzw. mutwillige angezettelte und dann gründlich verlorene Weltkriege taugen nicht dazu. Der „deutsche Opfermythos“ wirkt, angesichts deutscher Verbrechen, selbstgerecht und selbstmitleidig. Für Deutsche, die sich von „Nazis“ distanzieren wollen, ist dieses Gejammer eher Anlass zum Fremdschämen als zum Nationalstolz.
Erfolge „der deutschen Wirtschaft“ taugen auch nur bedingt als Quelle des Nationalstolzes, weil viele an diesen Erfolgen nicht teilhaben. Am ehesten entzündet sich deutscher Patriotismus, der leicht in offenen Nationalismus umschlagen kann, an sportlichen Erfolgen. Das ist aber etwas dünn.

Das Gefühl, „von deutschem Blute“ zu sein, und qua Abstammung „besser“ und wichtiger als irgendwelche „Ausländer“, ist daher für die erfolgreiche Konstruktion einer deutschen nationalen Identität unverzichtbar. Allen unangenehmen Konnotationen zu den Nazis (man selbst ist natürlich niemals einer) zum Trotz.
Damit ist eine „deutsche nationale Identität“ praktisch immer „völkisch“ konstruiert!

Die Germanenideologie

Ich schreibe im Folgenden über die Germanenideologie, in der Form wie sie von der „alten“ wie der „neuen Rechte“ vertreten wird. „Rechtpopulisten“, die nicht als „rechtsradikal“ oder „rechtsextrem“ wahrgenommen werden wollen, vertreten sie in abgeschwächter Form. Und der Germanenmythos, der locker auf der Germanenideologie fusst, ist wie alle Alltagsmythen ohnehin nicht konkret ausformuliert.

Ich warne ausdrücklich davor, den Begriff „Germanenideologie“ oder auch „Germanenmythos“ zu überdehnen! Nicht jeder „Germanenfan“ hängt ihr an. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es die völkische Germanenideologie verharmlost, wenn sogar Spielzeug-Wikinger oder „Germanenmet“ in ihre Nähe gerückt werden. Wobei unter Umständen zumindest der „Germanenmet“ an den „Germanenmythos“ anküpfen kann.

Die Germanenideologie zeichnet sich durch drei Grundannahmen aus:

  • Seit „Urzeiten“, etwa seit der Ablösung des Neandertalers durch den anatomisch modernen Menschen in Europa, gäbe es eine „germanische“ bzw. „nordische“ „Rasse“ bzw. ein „arisches Urvolk“.
  • Diese „nordische Rasse“ wäre anderen „Rassen“, Völkern und Kulturen überlegen. Das rechtfertigt und „erklärt“ dann auch z. B. die europäische Kolonialherrschaft über „farbige Völker“. Wo die „Germanen“ trotz ihrer natürlichen Überlegenheit ins Hintertreffen geraten, kann das folglich nur an den üblen Machenschaften von Juden und „Volksverrätern“ liegen, nebst den Folgen der „Rassenvermischung“. („Umvolkung“, „Kulturverlust durch Überfremdung“.)
  • Germanen und Deutsche wären „blutsverwandt“, d. h. „echte Deutsche sind Nachkommen der alten Germanen“. Umkehrschluss: Wer nicht überwiegend „deutschen oder artverwandten Blutes“ sei, könne auch kein richtiger Deutscher sein oder werden. „Germanisch“ und „deutsch“ seien im Wesentlichen dasselbe, womit dann auch z. B. isländisches Kulturgut, da es unzweifelhaft „germanisch“ ist, als „urdeutsch“ vereinnahmt werden könne.

Die Germanenideologie ist wissenschaftlich völlig unhaltbar und war schon nach den Maßstäben ihrer Entstehungszeit im späten 19. Jahrhundert rassistisch. Noch heute braucht man nicht lange zu suchen, um von der „Germanenideologie“ geprägte Aussagen im Alltag und vor allem in aktuellen politischen Diskussionen zu finden.

Ein bittere Ironie steckt darin, dass die „alten Germanen“ gar keine „Identität“ hatten – es gab sie buchstäblich nicht, bis Caesar ihnen, den Völkern „rechts des Rheins“, die Identität „germanisch“ wie ein Etikett aufklebte.

Martin Marheinecke, 7. Dezember 2016

Ein Gedanke zu „Identitär – und (un-)germanisch

  • Peer Korp

    Das ist ja alles schön und gut. Meiner Ansicht nach ist es schlicht unmöglich, „germanische“ Götter zu verehren, ohne „die Germanen“ mythisch zu verklären.

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