Haslinger: „Jetzt bloß keine Hexenjagd“
Der prominente österreichische Schriftsteller Josef Haslinger fiel als Klosterschüler mehrmals pädosexuellen Übergriffen von Priestern zum Opfer. Dass er als Kind auf diesem Gebiet Erfahrungen sammelte und darüber schrieb, macht ihn, wie er selbst sagt, nicht zum Experten in Fragen der Pädophilie und der Pädosexualität.
Dennoch hat er einiges zu diesem Thema zu sagen. Sein Aufsatz „Jetzt bloß keine Hexenjagd“ auf welt.de ist wichtig und richtig.
Wichtig ist, dass sexuelle Übergriffe auf Schutzbefohlene nicht isoliert davon gesehen werden können, wie vor gar nicht langer Zeit auf katholischen Klosterschulen erzogen wurde:
Heute denke ich, es war vor allem das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung, das im Nachhinein meine Hassgefühle hat wachsen lassen. In den Jahren, in denen außerhalb der Klostermauern über antiautoritäre Erziehung gesprochen wurde, wurden wir von den Protagonisten der Religion der Liebe, auf arabische Art, könnte man sagen, mit dem Stock geschlagen.
Was er dann schreibt, hat mich beim ersten Lesen erschreckt:
Die Pädophilen waren in dieser Sphäre von klösterlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit. Das Kloster war ein Exzess in dieser und jener Richtung.
Erschreckt weniger, weil da ein Opfer seine Peiniger bis zu einem gewissen Gerade in Schutz nimmt, sondern weil es vielleicht einen scheinbar rätselhaften Aspekt beim Skandal über Pädophile Priester / Lehrer und den „sexuellen Missbrauch“ von Schülern zumindest teilweise erklären könnte: Warum hatten die „Knabenschäder“ so leichtes Spiel? Die mögliche Antwort: Weil in einer lieblosen und von brutaler Disziplin und harten Strafen geprägten Umgebung den Kindern und Jugendlichen jede Form von „Zärtlichkeit“, egal, aus welchen (üblen) Motiven heraus, willkommen ist. Jedenfalls so lange der Pädophile nicht gegen seine Opfer offen aggressiv wird.
Haslinger stellt klar, dass der öffentliche Diskurs über „Kinderschänder“ in eine gefährliche Richtung läuft:
Passen wir bloß auf, dass wir jetzt keine Hexenjagd inszenieren. Die Kinder sind zu schützen, keine Frage. Und die Opfer haben ein Recht, gehört zu werden. Aber was machen wir mit den Tätern? Es hat einen guten Sinn, dass es im Gesetz Verjährungsfristen gibt. Dafür hat es einmal ein Rechtsempfinden gegeben. […]
Das Hauptbestreben der derzeitigen Thematisierung von Pädophilie und Pädosexualität muss es sein, heutige Fälle aufzudecken und künftige zu verhindern. Die Aufarbeitung der Geschichte ist für die Opfer von Bedeutung. Sie haben einen uneingeschränkten Anspruch darauf. Aber die Gesellschaft? Immerhin wird der Intimbereich von Menschen berührt. Von Opfern und von Tätern. Egal wie er beschaffen ist, er steht unter dem Schutz unserer gesellschaftlichen Verfassung. Ich will diese Leute nicht am Pranger vorgeführt bekommen.
Ich stimme Haslinger zu: Menschen mit pädophiler Veranlagung sollte man gar nicht erst zu Tätern werden lassen. Es gibt Ansätze für so eine Prävention, die leider meines Erachtens zu wenig Beachtung finden. (Hart Strafen ist eben populärer, auch wenn es für die Opfer längst zu spät ist.)
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch im Dunkelfeld“ finden seit Juni 2005 Männer, die auf Kinder gerichtete sexuelle Fantasien haben, aber keine Übergriffe begehen wollen therapeutische Unterstützung: kein täter werden.
Medienaufgeregte Politiker überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man das Strafrecht verschärfen und Verjährungsfristen aufheben könnte. Wenn wir Pädophile mit Kinderschändern und Sexualattentätern gleichsetzen, haben wir zwar ein größeres Medienspektakel, aber es geht uns jeder Maßstab für sinnvolle Maßnahmen verloren. In meinen juristisch ungeschulten Augen sind das unterschiedliche Paragraphen.
Dem ist wenig hinzuzufügen!
Davon abgesehen ist eine ausreichende Gefahrenaufklärung der Kinder und Jugendlichen wichtig. Noch wichtiger ist es vielleicht, die offensichtlich immer noch bestehenden Strukturen, die sexuelle Übergriffe auf Schutzbefohlen begünstigen, endlich abzubauen. Die gibt es übrigens nicht nur in katholischen Bildungseinrichtungen.
Übrigens halte ich gerade in diesem Zusammenhang die strenge Disziplin in der Erziehung, wie sie z. B. von Bernhard Bueb („Lob der Disziplin“, „Von der Pflicht zu führen“) gefordert wird, für äußerst problematisch. Bueb, der zeitweilig auch an der Odenwaldschule unterrichtete, hat persönlich sicherlich nichts mit den „Mißbrauchsfällen“ an diesem Internat zu tun. Es fällt mir nur auf, dass ausgerechnet sein langjähriger Freund, der ehemaligen Schulleiter der Odenwaldschule Gerold Becker, erheblich in den Skandal verwickelt ist. Ich weiß nicht, inwieweit Becker ähnliche pädagogische Konzepte, wie Bueb sie im Internat Salem anwendete, vertrat. Entdecken und Fördern von Stärken der Schüler und „Erlebnispädagogik“ sind die eine Seite von Buebs Ansatz, die Andere, dass in dieser Pädagogik sehr viel überwacht und diszipliniert wird, und vor allem, dass sie den Schülern keine Selbstbestimmung zubilligt. Ganz so, als hätten Jugendliche keine Vorstellung von dem, was sie wirklich wollen und was für sie gut ist.
Ich halte es für möglich, dass die Kombination aus Strenge, fehlender Selbstbestimmung und persönlicher Nähe in familienähnlichen Kleinguppen, die von einem Lehrer geleitet, werden sexuelle Übergriffe begünstigt.