Genetik beantwortet die Frage nach der „Arischen Invasion“
Die Streitfrage: „Gab es Masseneinwanderungen aus dem zentralen Eurasien oder breitete sich lediglich die indoeuropäische Sprachfamilie von dort nach Indien und Europa aus?“ ist in Europa heutzutage eher von akademischem Interessse – von den Anhängern „völkischer“ Lehren einmal abgesehen. In Indien ist sie hingegen von einiger politischer Brisanz.
„Arier“ (Sanskrit ārya) ist heute eine Selbstbezeichnung von Sprechern indoiranischer Sprachen, eines Primärzweiges der indoeuropäischen bzw. indogermanischen Sprachfamilie. Es gab wahrscheinlich wirklich ein zentralasiatisches Volk, das sich selbst „Arya“ nannte, das sich in der späteren Kupfersteinzeit bis zur frühen Bronzezeit über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten sowohl nach Süden als auch nach Westen ausbreitete. (Während der „arische Volksstamm“, blond, hochgewachsen, überlegen, von dem die Europäer (und ganz besonders die Deutschen) abstammen sollen, ein rassistischer Mythos ist.) Es ist wahrscheinlich wirklich so, dass die indoeuropäische Sprachfamilie ihren Ursprung in der Region um das Schwarze Meer und das Kaspische Meer hatte. Ob es aber die vielfach behauptete „Invasion der Indogermanen“ nach Europa und nach Indien wirklich gab, ist damit keinesweg belegbar: Aus einer Sprache können zwar kulturelle, jedoch kaum anthropologische Schlüsse, etwa in Hinsicht auf eine „Volksgruppenzugehörigkeit“ gezogen werden, geschweige denn auf „Abstammungslinien“. (Das Beispiel der Afroamerikaner, die Englisch als Muttersprache sprechen, einer „europäischen“ Kultur angehören, aber genetisch gesehen überwiegend westafrikanische Vorfahren haben, zeigt deutlich, dass Sprache und Kultur keine Rückschlüsse auf die Abstammung im biologischen Sinne zulassen.)
Um 2000 bis 1500 v. u. Z. wanderten, gemäß der etablierten Lehrmeinung, „Arier“, die die indogermanische Sprache Vedisch sprachen, nach Nordwestindien ein. Aus dem Vedischen entstand das Sanskrit, das für die heutigen Indien eine ähnliche Bedeutung wie Latein für das heutige Europa hat. Vom Sanskrit leiten sich die modernen Sprachen Hindi-Urdu, Bengalisch, Marathi, Kashmiri, Panjabi, Nepalesisch und Romani ab.
Nicht nur von indischen Nationalisten wird entschieden bestritten, dass es eine Masseneinwanderung der „Arier“ nach Indien gegeben hätte. Diese Theorie gilt als rassistisch. Der Grund liegt, salopp gesprochen, in der Hautfarbe der mutmaßlichen Einwanderer bzw. ihrer rassistisch-eurozentrischen Deutung durch die englische Kolonialherren. Die sich heute selbst „Arya“ nennenden Menschen haben im Durchschnitt eine deutlich hellere Haut als die „durchschnittlichen Inder“. Sie sind also „weißer“ als die „farbigen Ureinwohner“ des indischen Subkontinents. Diese magere Tatsache reichte als Grundlage für die kolonialrasstische Behauptung aus, „Weiße“ hätten den Indern ihre Kultur gebracht, eben jene „Arier“, von denen auch die Engländer in direkter Linie abstammen würden. Die Kolonialherren würden nur das Werk und die historische Aufgabe ihrer „fernen Ahnen“ fortsetzen: Die Ausbreitung ihrer „überlegenen Rasse und Kultur“.
Im heutigen Indien entstand Gegenentwurf die „Indigenous Aryan Theory“. Sie lokalisiert die „Urheimat der Arier“ in Indien. Die „Arier“ wären autochrone Einwohne des indischen Subkontinents gewesen. Von dort aus seien die „Arier“ nach Europa gewandert. Die bronzezeitliche Indus-Kultur basiere nicht auf dravidischen (also: nicht-indoeuropäischen) Wurzeln, sondern sei vedischen (also indoeuropäischen) Ursprungs.
Die Anhänger_innen der „Indigenous Aryan Theory“ berufen sich u. A. auf Ergebnisse der modernen Humangenetik. Sie hätte die „arische Migrationstheorie“ gründlich widerlegt. Untersuchungen an Mitochondrialer DNA (mtDNA) legten die Schlussfolgerung nahe, dass es in letzten 12.500 Jahren nur wenig externe Einflüsse auf den Genpool der indischen Gesamtpopulation gegeben hätte. Also gäbe es keine Masseneinwanderung.
Das Problem dabei: mtDNA wird nur von der Mutter auf die Kinder vererbt, die väterliche Abstammung bleibt, anders als bei Untersuchungen der aus den Chromosomen stammenden DNA, außen vor. Neuere Untersuchungen der chromosomalen DNA, vor allem der DNA des männliche Geschlechtschromosoms (Y-DNA), kommen jedoch zu einem anderen Ergebnis: Es gab Einwanderung.
Gemäß einem Artikel in „The Hindu“, einer weit verbreiteten indischen englischsprachigen Tageszeitung, beweisen neue genetische Untersuchungen, dass es sehr wohl eine Einwanderung aus Zentralasien gab: How genetics is settling the Aryan migration debate
Der – zumindest in Indien – brisante Artikel in „The Hindu“ – beruht auf einer Veröffentlichung, die im März 2017 in der renommierten Peer-Review-Zeitschrift „BMC Evolutionary Biology“ erschien: “A Genetic Chronology for the Indian Subcontinent Points to Heavily Sex-biased Dispersals”.
Ein Team aus 16 Wissenschaftler unter der Leitung von Prof. Martin P. Richards von der University Huddersfield, Großbritannien, kam zu dem Schluss, dass der genetischer Zustrom aus Zentralasien in der Bronzezeit stark männlich dominiert war. Das steht im Einklang mit der patriarchalischen, patrilokalen und patrilinealen Gesellschaftsstruktur, die der frühen indoeuropäischen Gesellschaft zugeschrieben wird.
Der Grund für den Unterschied in mtDNA und Y-DNA Daten ist damit im Nachhinein offensichtlich: Diejenigen, die migrierten, waren überwiegend männlich, daher haben sind diese Genflüsse so wenig in den mtDNA-Daten niedergeschlagen. Insbesondere tragen 17,5% der Inder die Haplogruppe R1a, die heute in ganz Zentralasien, Europa und Südasien weit verbreitet ist. Die pontisch-kaspische Steppe in heutigen Ukraine und Südrussland wird als die Region gesehen, von der aus R1a nach Westen und Osten ausbreitete.
Die pontisch-kaspische Region.
(CC BY-SA 3.0 Urheber: Dbachmann)
Prof. Richards sagte in einem E-Mail Austausch mit Tony Joseph, dem Autor in „The Hindu“ erschienenen Artikels, dass die Prävalenz von R1a in Indien ein starker Beweis für eine wesentliche Bronzezeit-Migration aus Zentralasien wäre. Die Einwanderer hätten höchstwahrscheinlich die indoeuropäische Sprache nach Indien gebracht.
Die Publikation legt auch Nahe, dass die indoeuropäische Sprache von männlichen Einwanderern derselben, die Haplogruppe R1a tragende, Population nach Europa gebracht wurde. Sowohl die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wie archälogische Befunde deuten in dieselbe Richtung.
Allerdings ist bei solchen Schlussfolgerungen Vorsicht angebracht: Sprachen hinterlassen keine genetischen Spuren.
Martin Marheinecke
Man hat bis jetzt noch keine Beweise, welche Haplogruppe die Ur-Griechen hatten (man müßte auf dem Balkan entsprechende genetische Spuren finden). Auch die Hethiter und andere bekannte anatolische Völker, die „indo-europäisch“ sprachen, stehen noch aus. Falls man die Haplogruppen R1a oder R1b finden sollte, wäre die Ausbreitung des indo-europäischen Urvolks die wichtigste Wanderungsbewegung der Weltgeschichte. Sprache und genetische Verwandtschaft könnten dann doch zusammengegangen sein.
Das alleine kann es aber nicht gewesen sein, weshalb diese Männer! aus der Steppe sich so durchsetzten: wie sahen soziale Organisation und Kulturtechniken aus?
Lustig: Polen ärgern sich, daß man in Piastengräbern R1b gefunden hat (überwiegt in Deutschland) und nicht R1a (überwiegt in Polen).
https://www.mpg.de/11421333/genetische-abstammung-minoer-mykener
Das ist spannend. Mykener haben nur einen kleineren Anteil an den indo-europäischen Steppe-Genen, übernehmen aber Sprache und Kultur dieser Einwanderer. Was ist da passiert?