Gedanken über barrierehaltige Unterkünfte anlässlich des 22. Althings
Am 29. Juli 2017 hielten wir unseren 22. Althing (Alþing) ab. Wir thingten wie üblich im Rahmen eines gemeinsam verbrachten Wochenendes, vom 28. bis zum 30. Juli. Ein langer Althing, denn es galt, ein schwieriges internes Problem zu allgemeinen Zufriedenheit zu lösen. Drei Drengr_innen traten ins Fullrettr (eine vierte Drengerin, die ihre Probezeit glücklich überstanden hatte, war leider verhindert) und zwei neue Drengr_innen baten um Aufnahme in unsere wachsende, aber immer noch kleine Gemeinschaft und traten ihr Probejahr an.
Wie üblich feierten, thingten und ritualisierten wir in einer Gruppenunterkunft.
Duke „Eibensang“ Meyer hütet das Hündchen einer Ættlinga – das Auto, auf dessen Motorhaube er so anmutig posiert, ist übrigens nicht seins.
Ja, und damit wäre ich beim Thema, das mir unter den Nägeln brennt. Mitlerweile gehören drei Ættlinge mit (unterschiedlich schweren) körperlichen Beeinträchtungen zu uns. Das bedeutet, dass längst nicht alle Unterkünfte für uns infrage kommen. Ein Ættling ist unbedingt auf ihren E-Rollstuhl angewiesen, womit dann nur behindertengerechte Häuser infrage kommen. Solche Unterkünfte sind in Deutschland leider dünn gesäht. Hinzu kommt, dass wir uns nicht unbedingt darauf verlassen können, dass dort, wo „barrierefrei“ drauf steht, auch „barrierefrei“ drin ist. Zu Jul 2013 erlebten wir eine äußerst unangenehme Überraschung: Barrieren im „behindertengerecht ausgebauten“ Freizeitheim.
Da die Rollifahrerin dieses Mal nicht dabei sein konnte, hatten wir keine so hohen Anforderungen an die Barrierefreiheit. Wir entschieden uns für das „Naturfreundehaus Springer-Höhe“ in Altena-Evingsen im westlichen Sauerland.
Naturfreundehaus Altena-Evingsen von der Straßenseite aus.
Fairerweise sei gesagt, dass die „Naturfreunde“ ihr Haus nicht als barrierefrei bewerben. Wir vermuteten aber, dass die Barrieren für die beiden teilnehmenden gehbehinderten Ættlige leicht überwindbar seien. Eine Innentreppe zu den Zimmern im ersten Stock? Schaffen wir, die wird ja wohl ein Geländer haben! Nun ja, die Innentreppe war viertelgewendelt, steil und hatte ein Geländer, das offensichtlich aus der Zeit vor der aktuellen Fassung der DIN-Norm 18065 „Gebäudetreppen“ stammte. Keine Chance für meine auf einen Rollator angewiesene Freundin, die sonst auch längere Treppen bewältigt, wenn sie ein vernünftiges Geländer zum Festhalten hat. (Der andere betroffene Ættling, mit Motorik-Schwierigkeiten, schaffte die Treppe übrigens.)
Es blieb uns nichts anderes übrig, als mithilfe des freundlichen Verwalters ein „Notquartier“ aus Matratzen im Erdgeschoss des Hauses einzurichten.
Bei einer Hausbesichtung hätten wir nicht nur die schwierige Treppe gesehen, sondern auch, dass die Zufahrt zum Haus einigermaßen halsbrecherisch ist. Nun ja, das war unser Fehler und war terminbedingt, das passiert uns hoffentlich nicht noch einmal. Wie oben geschrieben: Das Naturfreundehaus ist nicht als „barrierefrei“ ausgewiesen, anders als seinerzeit die „Hindernismühle“, die übrigens in Sachen „Barrieren im Haus“ das „Naturfreundehaus“ locker toppt.
Wir haben Erfahrungen mit barrierefreien, nicht-wirklich barrierefreien und nicht barrierefreien Unterkünften.
Ich leite daraus einige Erkenntnisse ab, die auch für andere Gruppen interessant sein können:
- Ohne eine vorherige Hausbesichtigung geht es offensichtlich nicht.
- Nicht-Behinderte (oder auch Anders-Behinderte) können nicht immer einschätzen, wie behindernd eine Barriere wirklich ist.
- Ein behindertengerechtes Haus bedeutet für die Nicht-Behinderten keine Einschränkung. Im Gegenteil, was für Behinderte notwendig ist, ist für Nicht-Behinderte in der Regel komfortabler und sicherer als die üblichen Standardlösungen.
- Es ist meistens teuer, barrierfrei zu bauen oder umzubauen. Aber: Sehr oft scheitert „Barrierefreiheit“ nicht an den Kosten oder den örtlichen Gegebenheiten, sondern an „Barrieren im Kopf“ der Nicht-Behinderten.
- Sehr oft lassen sich Barrieren mit etwas Phantasie, Improvisation und gutem Willen überwindbar machen.
Zum letzten Punkt eine Beobachtung, die ich als Begleiter meiner auf einen Rollator angewiesenen Feundin im Hamburger „Schanzenviertel“ machte. Dort gibt es zahlreiche alte Ladengeschäfte, die allesamt nicht barrierfrei sind. Trotzdem konnte sie dort angenehm einkaufen. Sehr viel hängt nämlich von der Rücksichtsnahme und Hilfsbereitschaft der Verkäufer und der übrigen Kunden ab – und die erwies sich dort als sehr viel ausgeprägter als in anderen Einkaufsgegenden Hamburgs. Ein paar zupackende Hände machen steile Stufen überwindbar. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass die meisten Geschäfte klein und inhabergeführt sind (was hirnrissige „Antikapitalisten“ und Gelegenheitsplünderer bei den „G-20-Krawallen“ nicht daran hinderte, einige von ihnen zu demolieren).
Besonders gefiel mir die „Schanzen-Buchhandlung“: Eine erkennbar selbstgebaute, vielleicht nicht allen Vorschriften entsprechende, aber selbst mit schweren E-Rollis befahrbare bewegliche Rampe überbrückt die Stufen am Eingang, und eine Sitzbank vor dem Schaufenster steht allen zur Verfügung, die sich mal hinsetzen müssen. Vorbildlich, finde ich, bei überschaubarem Aufwand.
Martin Marheinecke