Kultur & Weltbild

Fremde alte Welten – Teil 1: Griechenland, antik

Ein Gespräch in einem griechischen Restaurant

Es ist schon über 10 Jahre her, da sprach Klaus N. Frick, Chefredakteur der Science-Fiction-Romanserie Perry Rhodan (und irgendwie immer noch ein Punk) eine wichtige, desillusionierende und gern verdrängte Tatsache über die Science Fiction und ihre Leser aus. Mit der oft behaupteten Offenheit der SF-Fans für „seltsame Lebensformen und neue Zivilisationen“ sei es offenkundig nicht weit her.

Es war während eines PR-Cons in Garching bei München. (Ein „Con“ ist ein Fantreffen mit Programm, von „Convention“, Zusammenkunft.) Ich saß ich zusammen mit etlichen anderen Perry-Rhodan-Fans und einigen „Perry Rhodan-Schaffenden“ nach einem interessanten, aber auch anstrengend Tag in einem kleinen griechischen Restaurant. Irgendwann, ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, meinte Klaus N. Frick, er würde aus eigener Anschauung Kulturen kenne, die weitaus exotischer wären, als alle „außerirdischen Zivilisationen“, die in der langen Geschichte der Perry Rhodan-Romanserie beschrieben wurden. (Und die ist wirklich lang, sie begann 1961.)
Überrascht war ich nicht. Schließlich reist Klaus N. öfter mal in Gegenden, in die sich ein Normaltourist eher selten verirrt – und damit meine ich nicht etwa Garching, sondern z. B. die Kalahari.

Wir kamen im Laufe des Gesprächs darauf, dass es eine Grenze gäbe, ab der eine „exotische Kultur“ für den europäischen Normalleser nicht mehr nachvollziehbar wäre. Deshalb sei es in Science Fiction und Fantasy, die auf einen Massenmarkt abzielt, nicht möglich, etwa eine Kultur zugrunde zu legen, die jener der namibischen Himba entsprechen würde. Der Leser würde damit überfordert sein. Da schlug ich vor, inspiriert von der auf „Antike“ gestylten Inneneinrichtung des griechischen Restaurants, die Grenze des „Zumutbaren“ läge etwa bei der „klassischen“ altgriechischen Kultur. Jemand widersprach mir energisch, und meinte, das klassische Griechenland des Plato, Sokrates, Perikles oder Alkibiades läge schon weit jenseits des Horizonts des Durchschnittslesers, zumindest dann, wenn man es halbwegs wahrheitsgemäß schildern würde. Bei näherem Überlegen muss ich zugeben, dass er Recht hatte, und zwar unabhängig vom Bildungsgrad dieses Durchschnittslesers.

Das Problem des kulturellen Horizontes, der zu eng ist, um eine alte oder fremde Kultur begreifen zu können, betrifft nicht nur angeblich bildungsferne Konsumenten angeblich niveauloser Trivialliteratur, sondern sogar ausgewiesene Intellektuelle und angesehene Philosophen.

Odysseus und die Sirenen - nach einem Vasenbild

Odysseus und Adorno

Als ich mich durch den Exkurs über die Odyssee in Adorno / Horkheimers berühmten Aufsatzsammlung „Dialektik der Aufklärung“ arbeitete, musste ich an den Abend beim „Griechen“ denken.
Der „Odysseus-Exkurs“ wird Adorno zugeschrieben. Er veranschaulicht anhand der Odyssee die Entstehung des „bürgerlichen Individuums“ bzw. „des autonomen Selbst“.
In Adornos allegorischer Deutung stehen verschiedene Abenteuer des Odysseus für verschiedene geistige Zustände des Helden, die zugleich repräsentativ für die verschiedenen Stufen der Zivilisationsgeschichte seinen – einer Entwicklung vom vorbewussten Denken (bei dem Lotophagen) über Magie und Mythos (Kirke, Hades usw.), dann das Epos (Rache an den Nebenbuhlern), schließlich zur Ratio (und damit zur Aufklärung).

Odysseus, laut Adorno der Prototyp des aufgeklärten Bürgers, könne nur Subjekt sein, indem er immer wieder Triebverzicht übe und mit ordnender Vernunft die innere und äußere Natur beherrschbar mache. Als Subjekt sichere er sich ab in den bürgerlichen Werten von Heimat und Eigentum. Das Tauschprinzip beherrsche stets sein Handeln. Um Macht über die Natur auszuüben, müsse er ständig Verzicht üben und einen Preis zahlen – den Preis der Entfremdung.

Dass diese Deutung anachronistisch ist, in dem Sinne, dass Homer bestimmt nicht absichtlich das hineingeschrieben hatte, was Adorno aus dem Epos herauslas, wusste der Vordenker der „Kritischen Theorie“ wahrscheinlich selbst. Im Grunde benutzte der Philosoph den allgemein bekannten Stoff als „Steinbruch“ für griffige Beispiele – nicht viel anders, als es ein Fantasy-Autor macht, der alte, bekannte Mythen „ausschlachtet“.

Sieht man sich die Odyssee im Kontext älterer Mythen an, dann liegt Odysseus keineswegs außerhalb der Tradition der griechischen Heroen. Schon Theseus, Iason, Oidipous, Daidalos usw., sogar der übermenschlich starke Herakles, bestanden ihre Abenteuer nicht allein mit körperlicher Stärke und Mut, sondern immer auch mit einer „ordentlichen Portion Grips“. Odysseus List, auch gegenüber Naturgewalten, ist also nichts Neues. Neu ist allerdings, wie sehr Odysseus als unverwechselbares menschliches Individuum – und nicht als Idealtypus – gezeichnet wird. Darüber hinaus ist Odysseus weniger ein strahlender Held, sondern ein im Großen und Ganzen „vorbildlicher“ Charakter, allerdings einer mit Fehlern und Schwächen. Odysseus wagt – wenn auch mit dem Beistand einer Göttin – Widerstand gegen göttliche Gesetze. Obwohl er weiß; dass er seinem Schicksal nicht entrinnen kann, versucht er es so weit wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen.
Triebverzicht ist nicht seine Sache. Er zeugt mit der Kirke den Telegonos und teilt mit Kalypso das Lager. Er ist habgierig und rachsüchtig, und legt sich nur da Zügel an, wo unmittelbare Gefahr droht. Selbstbeherrschung ist bei ihm nur Taktik.

Odysseus markiert in der Tat einen wichtigen Schritt in Richtung „Aufklärung“ – im Sinne der Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Aber er markiert keine Etappe auf dem Weg zum gut funktionierenden, selbstbeherrschten bürgerlichen Individuum. Er ist ein „Selberdenker“, ein Querkopf und ein hinterlistiger Bursche. Ich kann ihn mir mühelos 1500 Jahre nach Homer als Anführer einer Wikingerbande oder noch einmal 750 Jahre später als Freibeuterkapitän vorstellen – aber nicht als „Wirtschaftskapitän“ eines modernen Großunternehmens. Odysseus ist alles andere als ein in irgendeiner Weise „bürgerlicher“ Mensch. In der heutigen Zeit wäre ein Mensch mit seiner unangepassten, rebellischen und skrupellosen Natur ein gesellschaftlicher Außenseiter.

Wie kam Adorno zu seiner meines Erachtens weder Homer, noch der Odyssee, noch der griechischen Antike gerecht werdenden Interpretation?
Je mehr ich mich in den Text seines Aufsatzes vertiefte, desto stärker wurde mein Eindruck, dass Adorno nicht vom Urtext der Odyssee, sondern von schon vorhandenen Interpretationen ausging. Im Prinzip machte er also nicht anders als ein Autor eines Romans, der nicht etwa das, was wir heute aus Quellen und archäologischer Forschung über das Mittelalter wissen zugrunde legt, sondern Meinungen aus zweiter Hand über das Mittelalter. Bei Unterhaltungsschriftstellern wie Dan Brown oder Noah Gordon sind das allerdings Klischees, populäre (moderne) Legenden und eingängige Verschwörungstheorien. Bei Adorno sind es immerhin wissenschaftliche Lehrmeinungen – und, unterschwellig, auch „bildungsbürgerliche“ Vorurteile.
Der Odyssee-Exkurs berührt so gesehen die Frage, ob Homers Odysseus wirklich auf dem Weg zum zweckrationalen triebverzichtenden bürgerlichen Individuum war, überhaupt nicht. Allenfalls geht es darum, ob Odysseus gemäß einer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktuellen, von der Psychoanalyse, dem Marxismus (historischen Materialismus) und dem bürgerlichen Fortschrittsgedanken inspirierten Interpretation der Odyssee Vorläufer des „aufgeklärten bürgerlichen Menschen“ war.
Adorno entstammte dem Bildungsbürgertum, er war mit der Geschichte des antiken Griechenlands sicherlich vertraut. Trotzdem konnte oder wollte er sich in die kulturellen und sozialen Verhältnisse, wie sie im antiken Griechenland herrschten, nicht hineindenken. Es ging ihm entweder gar nicht um die Antike, oder er hatte eine Vorstellung von der antiken Gesellschaft, die mit dem, was wir über die griechische Gesellschaft zu Homers Zeit wissen, nicht viel zu tun hat.

Die Spartaner und „300“

Zurück in die Welt der (von Adorno herzlich verachteten) „Kulturindustrie“. Ein Beispiel für den Mechanismus der „modernen Scheuklappen“ beim Blick auf alte oder fremde Kulturen ist der Film „300“. Er ist ein gutes Beispiel auch für „exotische“ Kulturen in Fantasy und SF, da er kein Historienfilm mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit ist, sondern eine Comic-Verfilmung, die auf geschichtliche Tatsachentreue zugunsten einer guten Geschichte bewusst verzichtet. (Bei Historienfilmen und historischen Romanen ist das auch so, aber die Verzerrung der Geschichte zugunsten der guten Geschichte wird selten zugegeben.) „300“ ist „Historical Fantasy“.
Ein Gegenstück zu „300“, das die Kultur der Griechen und der Perser einigermaßen authentisch nachvollziehen würde, würde wahrscheinlich nicht funktionieren – jedenfalls nicht für ein amerikanisch oder europäisch geprägtes Massenpublikum.

Leonidas, Held von „300“, war König der Spartaner. Als neuzeitliche Menschen denken wir sofort an ein antikes Gegenstück zu Napoleon oder Friedrich II. von Preußen, also einen Feldherrn und Monarchen in Personalunion – vielleicht mit einem Stoßseufzer verbunden, dass „damals die Oberbefehlshaber noch selbst in der Schlacht ihr Leben riskierten, anstatt aus sicherer Entfernung … (usw. usw.)“. Allerdings hatte der gute König Leonidas mit dem „Alten Fritz“ wenig gemeinsam. Das fängt schon damit an, dass Sparta zwei Könige hatte, die gemeinsam herrschten. Herrschten, nicht regierten, denn regiert wurde Sparta von fünf Ephoren, die zwar jedes Jahr neu gewählt wurden, was aber mit Demokratie, wie es sie beim Dauerrivalen Athen zumindest zeitweilig gab, nicht viel gemein hatte, nicht nur, weil nur etwa 8000 Männer, die Spartiaten, Wahlrecht hatten, sondern auch, weil die Ephoren eine fast unbegrenzte Macht hatten und niemandem Rechenschaft schuldig waren, ähnlich wie absolute Monarchen. Ein interessantes und verbürgtes Detail über das Wahlverfahren für die Ephoren: gewählt war, wer in der Apella (Volksversammlung) die lautesten Rufe erhielt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Lektoren so ein Verfahren nur bei ausgesprochenen satirischen Romanen „durchgehen“ ließen.
Leonidas war (wie alle spartanischen Könige) Sakralkönig. Das war bei den Spartanern ähnlich wie später bei jenen germanischen Stämmen, die ein ebenfalls ein Sakralkönigtum entwickelten. Er war Vertreter seines Volkes gegenüber den Göttern, oberster Priester und Träger des „Heils“ (wobei sich die altgriechische Heilsvorstellung von der germanischen sicherlich unterschied und sich beide kaum mit neuzeitlichen Begriffen erklären lassen). Politische Macht hatte ein Spartanerkönig praktisch keine. Dafür war er im Krieg Heerführer, mit voller Befehlsgewalt und der Pflicht zum Siegen. Anhaltender militärischer Misserfolg, auch durch schieres Pech, auch gegenüber einem überlegenen Feind, war ihm sozusagen bei Todesstrafe verboten.
Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass Kriegsgefangenschaft in der Antike lebenslange Sklaverei bedeutete, erscheint das historisch verbürgte und archäologisch bestätigte Selbstopfer der 300 Spartaner, die damit den Rückzug der griechischen Hauptstreitmacht sicherten, in einem anderen, weniger heroischen, Licht.
„Kosmos“ bedeutet „Ordnung“, aber auch „Anstand“. Mit diesem Wort bezeichneten die Spartaner selbst ihr nach ihren Begriffen harmonisches Gemeinwesen, das nach heutigen Begriffen wie ein totalitärer Alptraum anmutet, aber nach altgriechischem Verständnis, auch dem der völlig anders organisierten Athener, keine „Tyrannis“ war.
Jedenfalls war der „Kosmos“ Spartas bei weitem „exotischer“, als es fast alle „außerirdischen“ Zivilisationen im literarischen Kosmos der Science Fiction sind.

Im Film „300“ beschimpft Leonidas die Athener als „Schwuchteln“. Der echte Leonidas hätte, wenn er sinngemäß so etwas gesagt hätte, keine Beleidigung ausgesprochen, sondern eine Tatsache benannt, die auf seine Spartaner erst recht zugetroffen hätte.
Der Begriff „Homosexualität“ ist ein Denkkonstrukt, wenn man so will eine geistige „Schublade“, der Neuzeit. Nicht-neuzeitliche oder nicht „abendländische“ Kulturen passen da nicht ohne Zwang hinein, egal, ob in ihnen gleichgeschlechtlichen Sex missbilligt, toleriert oder, wie im antiken Griechenland, verehrt wurde.
Das heißt: wirklich angesehen, wenn auch nicht geächtet, war Geschlechtsverkehr unter erwachsenen Männern in Athen nicht, während die Paderaistia, die „Knabenliebe“, sozusagen zum „guten Ton“ gehörte. Eine „Knabenliebe“, die nach unserem Verständnis auf den sexuellen Missbrauch von abhängigen Minderjährigen hinausläuft. (Allerdings war ein Junge vor Beginn der Pubertät auch im klassischen Griechenland sexuell tabu!)
Nirgendwo im antiken Griechenland nahm die Paderaistia einen so hohen Rang ein wie in Sparta. In Athen wurden Kritiker der Paderaistia als weltfremd, sauertöpferisch oder schlicht barbarisch verspottet – in Sparta wären sie, wenn es sie überhaupt zu Wort gekommen wären, als umstürzlerisch und volksverräterisch verdammt worden, denn die Paderaistia gehörte zu den Fundamenten des Kosmos. Nach dem spartanischen Ideal sollte jeder junge Spartiate durch feste erotische Bande an einen vorbildlichen Mann gekettet sein, und jeder Krieger durch seine Gefühle gegenüber einem jugendlichen Liebhaber zu höchstem Vorbild aufgestachelt werden. Auch unter erwachsenen Spartiaten galten „Liebespaare“ als besonders tapfere Kämpfer. Daher überrascht es nicht, dass die Spartaner vor einer Schlacht dem Eros opferten.
Übrigens scheinen sich im alten Griechenland Paideraistia und „heterosexueller“ Sex niemals ausgeschlossen zu haben. Wenn der spartanische Staat „Nachwuchssorgen“ hatte, Männer, die mit 30 noch nicht verheiratet waren, mit Strafen belegte, oder verlangte, dass ein kinderloser Ehemann sich seines Bruders oder Freundes als „Ehehelfer“ bediente, dann lag das wahrscheinlich nicht daran, dass spartanische Männer Sex mit Frauen grundsätzlich abgeneigt gewesen wären. Die Athener waren es jedenfalls nicht.

Alles in allem liegt der Schluss nahe, dass eine wahrheitsgemäße Schilderung der altgriechischen Verhältnisse vielleicht in einem anspruchsvollen historischen Roman funktionieren könnte. Für einen mainstream-fähigen Unterhaltungsroman müssten die antiken Verhältnisse erklärt, umschrieben oder – einfachste und häufigste Lösung – modernen Vorstellungen angepasst werden.

Teil 2: Nordeuropa, wikingerzeitlich

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