Als die Sau noch Göttin war: Wer waren “die Germanen”?
Wer waren “die Germanen”?
Sehr einfach: Es hat sie nie gegeben.
Das Wenige, was wirklich über germanische Kultur(en) bekannt ist und bekannt war, taugt seit je allen Außenstehenden zur beinahe beliebigen Projektion. Für den römischen Feldherrn Gaius Julius Caesar waren “die Germanen” einfach jene Barbarenstämme, die östlich des Rheins lebten. Die Stämme westlich des Rheins seien die Kelten – so einfach machten es sich die römischen Eroberer vor 2000 Jahren. Caesars Bestreben war es, mit “de bello gallico” einen Eroberungskrieg vor dem römischen Senat zu rechtfertigen.
Der römische Geschichtsschreiber Tacitus wiederum benutzte mit seinem Wissen aus zweiter Hand (Gymnasiasten leidvoll bekannt als “Germania”) Erzählungen über germanische Kultur dazu, der von ihm als dekadent empfundenen römischen Stadtbevölkerung das Ideal der “edlen Wilden” vorzuhalten.
Ein Polit-Stratege hie, ein antiker Karl May da – unbrauchbar sind beide Schriftzeugnisse dennoch nicht; man muss sich nur vergegenwärtigen, welcher Intention sie folgten. Ob antikes Rom oder jüngstes Deutschland: An einer realistischen Darstellung germanischer Verhältnisse war jedenfalls die längste Zeit der Geschichte niemand interessiert!
Wechselnde Bündnisse und Fehden sowie gegenseitige Kultureinflüsse unter den mittel- und nordeuropäischen Völkerschaften machten es den Römern sicher auch schwer, zwischen der bunten Vielfalt germanischer und keltischer Stämme zu unterscheiden – die entsprechenden Fehldeutungen pflanzen sich bis in unseren heutigen Sprachgebrauch fort. Wer hält z.B. die Teutonen nicht für Germanen? Tatsächlich neigt die Wissenschaft inzwischen eher dazu, die Teutonen zu den Kelten zu rechnen. Geht womöglich der Stammesname auf den Gott Teutates zurück? Die Asterix-Leser unter uns atmen auf, endlich mal wieder was Vertrautes … Tatsächlich: Teutates ist eindeutig ein gallischer, also keltischer Gott. Wer aber waren denn nun Kelten und Germanen, und wieso hat es zumindest letztere laut meiner Aussage nicht gegeben?
In der heutigen Wissenschaft werden Völker, neudeutsch “Ethnien”, und Volksgruppen nach ihrer Sprachzugehörigkeit definiert. Demnach kann man solche Kulturen germanisch nennen, in welchen germanische Sprachen gesprochen wurden. Macht man sich die Mühe, einen historischen Atlas aufzuschlagen, der mit heutigen Mitteln Europa vor 2000 Jahren zu gliedern versucht, wird man über die geographischen Gegebenheiten nördlich des Limes folgendermaßen informiert: “Vermutlich Wald”, “vermutlich Sumpf” lauten die lapidaren Angaben über den halben Kontinent nördlich des Römischen Imperiums.
Germanisches Gehöft Elsarn – rekonstruiertes Haus – Foto: Brigh
Die sog. Indoeuropäer – Vorläufer der Kelten, Slawen, diverser Mittelmeerkulturen und auch der späteren Germanen – kamen aus dem vorderindischen bis kaukasischen Raum. Einwanderungswellen indoeuropäischer Hirtenvölker aus asiatischen Steppen gab es mehrere, und die anschließende Vermischung mit den bäuerlichen Urbevölkerungen Europas erstreckt sich über den Zeitraum von Jahrtausenden: Was davon erhalten blieb, sind spärliche Scherbenfunde, Keramikreste, ein paar Gräber, und vergleichbare Misch-Mythen quer durch die Kulturen.
Der indoeuropäische Zug der späteren Germanen jedenfalls endete im Gebiet des heutigen Dänemark, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern sowie im ostrheinischen Teil der heutigen Niederlande (was archäologisch der Ausdehnung der sog. Harpstedt- und Jastorfkultur entspricht). Die urgermanische Sprache wird auf ca. 2000 v.Chr. datiert; erst 200 v.Chr. teilte sie sich auf in einen nord- und einen südgermanischen Dialekt. Bemerkenswert bleibt, dass ein gutes Drittel des urgermanischen Wortschatzes sich heute nicht mehr zuordnen lässt. Dieses Drittel ist nicht indoeuropäisch, es stammt auch definitiv nicht aus der Megalithkultur (den mutmaßlichen Erbauern von Stonehenge) 2000 v.Chr.; seine Herkunft verliert sich völlig im Dunkeln. Die unbekannten Worte müssen kurz vor 2000 v.Chr. übernommen worden sein: kein Mensch weiß, von wem.
Von “germanischer Kultur” lässt sich allerfrühestens ab 500 v.Chr. sprechen – je nachdem, wie man die archäologischen Funde deutet. Jenseits sprachlicher Zuordnungsmöglichkeit wird dies schnell spekulativ. Germanen sind ein Ergebnis zahlloser Wanderungen, Kämpfe und Vermischungen verschiedenster Volksstämme. Nicht Geschichte, nicht Politik, nicht Verwandtschaft, nein: Kultur war das einzige, was sie gemeinsam hatten. Und selbst das ist ein relativer Begriff. Denn der Gesamtheit der germanischen Stämme – also derjenigen Stämme mit germanischen Dialekten und Sitten – fehlte jedes Gemeinschaftsbewusstsein über den eigenen Stamm hinaus.
Fehlte? Tatsächlich ist diese Haltung üblich bei archaischen Stammeskulturen in aller Welt.
Die Germanen hat es also schon deshalb nie gegeben, weil sich zwischen 500 Jahren vor und 900 Jahren nach Christus niemand selbst so bezeichnet oder gesehen hat. Diejenigen Leute von damals, die wir heute Germanen nennen, hätten sich selbst Chatten, Sueben, Istwäonen, Ingwäonen, Langobarden, Burgunder, Goten, Vandalen, Alamannen, Markomannen, Quaden, Hermunduren, Cherusker, Semnonen, Bataver, Gepiden, Rugier, Ambronen, Hasdingen, Warnen, Kimbern, Thüringer, Saxen, Angeln, Bajowaren, Franken – oder sogar vollkommen anders genannt, denn viele Stammesnamen, die wir heute kennen, stammen nicht von diesen Stämmen selber.
Was diese aber über sich und ihre Gepflogenheiten im einzelnen hätten sagen können, hätte zwangsläufig nur für Chatten, oder für Langobarden, oder für Vandalen, oder eben jenen einen Stamm gegolten, dessen Angehörigen wir gerade angesprochen hätten – nicht aber für die sprachlich verwandten “Stämme nebenan”. Wenn ich sage, es hat keine Germanen gegeben, meine ich damit:
Es hat – über die gemeingermanische Kultur und Mentalität hinaus – kein germanisches Selbstverständnis gegeben: kein politisches, und schon gar kein “rassisches”. Die germanischen Stämme waren Personenverbandsgesellschaften; sie definierten sich nicht nach Territorien wie Staaten, sondern nach Zugehörigkeit zu Personen – und zu Göttern. Der Gedanke eines pan-germanischen Selbstverständnisses im Sinne eines faktischen oder auch nur theoretischen germanischen Nationalstaates ist ein Widerspruch in sich: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen – schon gar kein militärischer.
Berserker laufen nicht auf Befehl, und schon gar nicht im Gleichschritt: Grundlage ihrer Kampfmethode ist nicht soldatischer Gehorsam, sondern schamanische Ekstase. Berserker, Bärenfellkrieger – das waren nach germanischem Verständnis Kämpfer, die sich in wilde Tiere verwandelten. Wolf, Bär und Katze waren dabei nur die populärsten. Die Geschichte beweist, dass man damit zwar viel Ruhm gewinnen kann, aber keine Kriege. Den disziplinierten, bestens bewaffneten, hocheffizient organisierten und straff geführten Heeren des Römischen Reiches waren die schlechtausgerüsteten germanischen Horden militärisch ähnlich hoffnungslos unterlegen wie die amerikanischen Ureinwohner der U.S.-Kavallerie; Ausnahmesiege wie Teutoburger Wald hie oder Little Big Horn da bestätigen die traurige Regel. Als militärisches Vorbild taugen die hoch individualistischen Germanenkriegerinnen und -krieger nun wirklich nicht.
Kriegerinnen? Schriftliche Quellen wollen nichts von ihnen gewusst haben, aber was sagen schon schriftliche Quellen über eine Kultur, die ihre literarische Hinterlassenschaft auf vereinzelte Glyphen (und auch noch viel später auf ledigliche Spruchband-Kritzeleien a la „Kilroy was here und versank mit Mann und Maus“) beschränkt? Von der Höhe ihrer urbanen Zivilisation sahen bereits die seit je geschichtsschreibenden Römer naserümpfend auf die schriftlosen Länder der Analphabeten herab, und sahen dort eigentlich nur Wald. Und deshalb zeigen auch unsere heutigen Atlanten nicht mehr als „…vermutlich Wald… vermutlich Sumpf…“, und selbst für die Völkerwanderung ein vages Wirrwarr quer durch Europa wuselnder Pfeile. Pikantes Detail am Rande: Hunderte von Jahren innergermanischer Kriegswirren sind überhaupt nicht dokumentiert, weil sich die Römer, da selbst nicht bedroht, dafür schlicht nicht interessierten. Über manche Moorleichenfunde wird noch gestritten; doch im frühmittelalterlichen Gräberfeld von Niederstotzingen z.B., (nicht groß, aber überdurchschnittlich reich an Waffen- und Panzerbeigaben), fand man auch eine schwerbewaffnete Frau.
Eine Randentdeckung, die – rein historisch – nicht viel bedeuten braucht. Aber gerade solche Kleinigkeiten, die sich schwer ins Schema der Erwartungen fügen mögen, könnten – auch und weil sie mehr Fragen aufwerfen als beantworten – allzu festgefahrene Annahmen relativieren helfen: was uns selber, uns Heutige betrifft. Die Tragik an unseren Vorstellungen von germanischer Kultur erwächst nicht aus unserem tatsächlichen Mangel an Gewissheiten darüber, sondern aus dem stetig vorausgaloppierenden Irrtum, sie besser zu kennen als wir können. Woher denn? Gute Frage! Wichtige Frage! Sie kann nicht oft genug gestellt werden. Ihr gilt meine ganze Rede.
A propos Moorleichen: Sie liefern ein prächtiges Beispiel dafür, wie sehr die Deutung archäologischer Funde davon abhängt, was man zu finden erwartet. Das berühmte „Mädchen von Windeby“ musste jahrzehntelang als „Beweis“ herhalten für die angeblich rigiden germanischen Ehegesetze – auf die ja auch schon Tacitus angespielt hatte. Die „obszöne Geste“ der Moorleiche (Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt) schien dies zu untermauern; der Fachwelt wie dem Publikum war felsenfest klar: Das Mädchen wurde als „Ehebrecherin“ im Moor versenkt. So musste es sein! Klar wie Kloßbrühe? Klar wie Moorsumpf. Generationen aufgeklärter Menschen gruselten sich wohlig in finstersten Phantasien über grausame Heidensitten. Inzwischen stellte sich heraus: Die Geste existierte nur auf einem Foto („entstand“ lediglich perspektivisch durch ein solches), die Hände der Leiche selbst sind völlig normal verschrumpelt und verkrümmt (ohne besondere Kennzeichen) – und überhaupt ist das „Mädchen von Windeby“ … ein Junge.
Wie macht die Seifenblase? Plopp. Ganz, ganz leise. Und ward nicht mehr gesehen.
Es darf gelächelt werden. Aber ja: Es gibt noch so viele…
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