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„Der ACTA-Krake“ – problematischer als gedacht

„Der Krake“ ist eine 2012 von der Anti-ACTA-Kampagne verwendete Karikatur. In einem Artikel verteidigte ich damals diese Karikatur gegen den Vorwurf, sie sei antisemitisch („Symbolische Probleme“.) Später musste ich erkennen, dass der „ACTA-Krake“ zwar nicht antisemitisch gemeint, aber dennoch „strukturell antisemitisch“ ist. Ich stehe zwar noch heute hinter vielem, was ich in diesem Artikel schrob: Dass z. B. die Figur des weltumschlingenden Kraken schon lange im nicht-antisemtischen Kontext auftauchte, bevor das Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“ seine zurecht berüchtigte Karikatur gegen die behauptete „jüdische Weltverschwörung“ veröffentlichte. Oder dass die Anti-ACTA-Kampagne nicht die Spur antisemitisch war. Aber ich „übersah“ eine Tatsache, die mir eigentlich ins Auge hätte springen müssen: Warum eigentlich war und ist der Octopus, der die Erde wie eine Muschel aussaugt, für Antisemiten so attraktiv?
Stopp-Acta-Krake

Nicht antisemitisch gemeint, aber doch mit antisemitischer Konnotation: ACTA-Krake

Das Problem mit dem ACTA-Kraken heißt „struktureller Antisemitismus“. In aller Kürze: „Struktureller Antisemitismus“ bezeichnet Meinungen, Ideologien, Erklärungsmodelle oder auch Argumentationsstrukturen, die sich augenscheinlich nicht gegen Juden richten, aber dem Antisemitismus nahe kommen und oft auch in ihm münden.
Zwei Punkte sind dafür besonders typisch:

  1. „Verkürzte Kapitalismuskritik“, vor allem, wenn zwischen gutem, „schaffenden Kapital“ und bösem, „raffenden Kapital“ unterschieden wird. In der ökonomischen Realität sind Produktion, Handel, Spekulation und Geldhandel jedoch untrennbar miteinander verbunden. Die weit verbreitete Vorstellung, das zinsnehmende „Finanzkapital“ sei die Ursache aller wirtschaftlicher Ungerechtigkeit in der Welt, ist strukturell antisemitisch.
  2. Ursache allen gesellschaftlichen Übels ist eine „schuldige“ Menschengruppe. Dabei sind „die Bösen“, anders als z.B. im „nach unter tretenden“ Rassimus, im „strukturellen Antisemitismus“ (vermeintlich) gutsituierte und privilegierte Gruppen. Das geht typischerweise mit Verschwörungsdenken einher.

Wobei es absolut legitim ist, das kapitalistische System abzulehnen, und Ungerechtigkeiten in der Welt, die Kluft zwischen Arm und Reich und Ausbeutung kritisch zu hinterfragen. Die scheinbar so einfache „verkürzte Kapitalismuskritik“ läuft dagegen darauf hinaus, dass die Ausbeutung nicht als systembedingt und als komplexer Mechanismus gesehen wird, dem sich auch gutwillige Menschen nicht ohne Weiteres entziehen können, sondern, dass der Kapitalismus eine Verschwörung bösartiger Reicher sei.
Es reicht also aus, die „Bösen“ auszuschalten, und schon können alle rechtschaffenden Menschen von ihrer Hände Arbeit gut leben. Wie im Märchen. Nur dass die Märchen dieser Sorte „Kapitalismuskritiker“ und „Sozialisten“ nicht mit „Es war einmal …“, sondern mit „Wenn wir erst einmal … “ beginnen und oft ausgesprochen gewaltverherrlichend sind. Kennt die „Kapitalismuskritik“ neben den „bösen“ auch „gute“ Kapitalisten, dann ist der strukturelle Antisemitismus nebst passender Veschwörungstheorie quasi serienmäßig eingebaut.

Dass der Octopus nicht so unproblematisch ist, wie ich damals behauptete, wurde mir unangenehm klar, als ich Anfang 2017 für meinen Artikel „Nichts geht ohne Strukturen – aber Struktur ist nicht alles“ recherchierte. Dabei stieß ich nämlich auf diesen sehr lesenswerten Aufsatz aus dem Jahr 2004 über strukturellen Antisemitismus: Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik (pdf). Thomas Schmidinger schreibt darin knapp und verständlich über (ungewollt) strukturell antisemitisch argumentierende Linke.

Beim Lesen wurde mir klar, dass ich seinerzeit den „Elefanten im Raum“ (bzw. den Riesentintenfisch) nicht sehen wollte:

In Karikaturen werden die der Globalisierungskritik latent innewohnenden Weltverschwörungstheorien schon manifester. Die alles umschlingende Krake versucht die ganze Welt zu verschlingen und erhält allerorts Gegenwehr der „produktiven“ Arbeiter usf.. Hier gleichen sich die Illustrationen linker wie rechter GlobalisierungsgegnerInnen zusehends. Manch linke Gruppierung kann dabei nicht einmal auf die obligate Hackennase verzichten, die dem zigarrerauchenden und zylindertragenden Unternehmer angedichtet wird und damit ebenso aus dem Stürmer wie aus einer trotzkistischen, maoistischen oder Attac-Publikation stammen könnte. […] Auch wenn Weltverschwörungstheorien der Linken meist ohne „Welttjudentum“ oder „Freimaurer“ auskommen, sind die Eigenschaften, die dem „Finanzkapital“ zugewiesen werden von frappierender Ähnlichkeit. Ein manichäisches Weltbild mit „Guten“ und „Bösen“, das diesen „Bösen“ antisemitisch konnotirte Eigenschaften und Begriffe zuordnet, so auch ohne offenen Antisemitismus zu einem strukturell dem Antisemitismus ähnlichen Weltbild, das letztlich schneller zu offenem Antisemitismus werden kann als es vordergründig möglich erscheint.

Den besagten Artikel einfach zu löschen kam nicht infrage, eine Überarbeitung erschien mir nicht sinnvoll. Und öffentlich auf einen Fehler, den die meisten nicht einmal bemerken, hinweisen? „Denke an die Außenwirkung. Selbstkritik ist eine heikle Sache.“

Im Bundestagswahlkampf 2017 ging Marina Weisband mit sehr deutlichen Worten auf das Problem ein Über strukturellen Antisemitismus. Dabei erwähnt sie ausdrücklich den ACTA-Kraken:

Ich hatte oben schon erwähnt, warum die Krake ein an sich verschwörungstheoretisches Tier ist: sie hat viele Arme, die sich um die ganze Welt winden, die an allen Hebeln ziehen – aber sie hat einen Kopf. Ausbeutung ist kein komplexer Mechanismus, sie ist geplant, von einer einzigen Entität, die getötet werden kann. Wenn die Krake zu anderen Zwecken benutzt wird (wie ACTA oder die Datenschutzkrake ) ist sie nie ganz unproblematisch. Natürlich kann man für seine legitimen Inhalte antisemitische Karrikaturen zitieren – aber dann ist es halt doof.[…]

(Interessanterweise verweist Marina Weisband auf den mir bereits bekannten Aufsatz von Schmidinger, was nicht wirklich überrascht. Er ist in der Tat eine der besten kürzen Darstellungen des strukturellen Antisemitismus auf deutsch, und ist entsprechend weit verbreitet. Warum ich ihn 2012 nicht gefunden hatte? Die Antwort ist leider ganz einfach: Ich hatte nicht danach gesucht. Ich suchte Argumente, um die Anti-ACTA-Initiative zu verteidigen.)

Nachdem Sascho Lobo gezeigt hatte, wie souveräner Umgang mit einem ungewollten „Griff ins Klo“ aussieht (Meine Republica-Rede, ein transfeindlicher Begriff und Internet-Hoffnung am Horizont), und die Süddeutsche Zeitung wenig souverän mit einer (ungewollt, aber deutlich) antisemitisch wirkenden Karrikatur umging, sah ich es endlich an der Zeit, den „ollen Kraken“ anzugehen.

Die älteste mir bekannte „Kraken mit Weltkugel“-Karrikatur stammt aus dem Jahr 1882. Auf ihr steht der Krake für das „Britische Empire“, dessen Tentakeln überall auf der Welt Länder ergreifen und dem Kolonialreich einverleiben. Andere bekannte Krakenkarikaturen nehmen zum Beispiel „die Mafia“, „die katholische Kirche“, „die CIA“, „die Scientology-Sekte“ oder diverse „Datenkraken“ aufs Korn.
All dieser Karikaturen haben keine Juden als Ziel, sind also nicht antisemitisch gemeint. In den von mit genannten Beispielen geht es auch nicht um eine (strukturell antisemitische) Weltverschwörung oder um „verkürzte Kapitalismuskritik“. Es ist legitime Kritik. Trotzdem ist das „doof“, weil das Motiv „Krake umschlingt die Erde und saugt sie aus“ an sich strukturell antisemitisch ist.

Kommen wir zur Ausgangsfrage:

Warum eigentlich war und ist der Octopus, der die Erde wie eine Muschel aussaugt, für Antisemiten so attraktiv?

  • Der Krake hat nur einen Kopf, aber viele Arme, die sich in alle Welt ausstrecken. Hier kann ich nur wiederholen, was Marina Weisband schrieb: Er passt perfekt zum Verschwörungsdenken, das den Kern des (strukturellen) Antisemitismus ausmacht. Sie hat viele greifende und saugenden Arme, aber nur einen Kopf: Eine Machtgruppe, von der alles Unheil ausgeht. Das entspricht auch der „verkürzter Kapitalismuskritik“. Schlägt man den Kopf ab, schaltet also die „Macht im Hintergrund“ aus, ist das Problem erledigt. Dieses Denken hat nicht nur im Falle der Nazis tödliche Konsequenzen.
  • Tiermetaphern sind im (strukturellen) Antisemitismus sehr weit verbeitet. Ob nun Juden wie im berüchtigten NS-Propagandafilm „Der Ewige Jude“ mit Ratten gleichgesetzt werden, „der Jude“ als listige Schlange erscheint oder in verkürzter Kapitalismuskritik Spekulanten als Heuschrecken dargestellt werden: diese Karikaturen von Menschen oder Menschengruppen als vorzugsweise „ekelerregende“ Tiere entmenschlichen die so Dargestellten. (Viele Menschen ekeln sich vor Tintenfischarmen, sogar wenn sie in frittierter Form auf dem Teller liegen. Daher funktionieren Kraken als Ekeltiere, vor allem, wenn Tintenfische wie im Deutschland vor den 1950er Jahren außerhalb der Küstenregion, nicht zur üblichen Küche gehören.)
  • Der Krake ist in diesem Kontext kein normales Tier, sondern ein gefährliches Ungeheuer Deshalb schreibe ich konsequent von „dem Kraken“ und nicht (umgangssprachlich) von „der Krake“.
    Krake zieht ein Schiff in die Tiefe.
    Kraken. Nach einer Darstellung de Montforts.

    Ein realer Tintenfisch ist für Menschen harmlos und, abgesehen vielleicht von den Riesenkalmaren der Tiefsee, wenig schreckerregend. Anders das mythische Seeungeheuer: „Kraken“ stammt wahrscheinlich aus der nordischen Mythologie. Älteste bekannte Schrifquelle ist die im 12. Jahrhundert verfassten „Sverris saga“ über König Sverre Sigurdsson. Der Krake ist darin groß wie eine Insel und kann Schiffe versenken. Aber auch aus anderen Teilen der Erde sind Sagen über kolossale Tintenfische bekannt, die wahrscheinlich von den für die Schiffahrt ungefährlichen, bis zu ungefähr 10 Meter langen, Riesenkalmaren inspiriert wurden: Mit ihren Saugnäpfen können sie Narben auf der Haut von Pottwalen hinterlassen und immer wieder treiben tote Exemplare an Küsten an.
    Das Monstermotiv hebt die Bedrohung durch einen Kraken in quasi mystische Dimensionen, es geht buchstäblich ums Überleben.

Daher sind sogar Kraken-Karikaturen, die wie der ACTA-Krake nicht auf konkrete Menschen, sondern ein abstraktes Urheberrechtsabkommen zielen, problematisch. Von der bekannten „Stürmer“-Karikatur, die viel wirkmächtiger ist und häufiger nachgeahmt wird, als ich seinerzeit annahm, ganz abgesehen.

Ein Beispiel, wie struktureller Antisemitismus in „echten“ Antisemitismus umkippt:

Der stehende Begriff „East Coast“, „Ostküste“, bezeichnet in der rechten Propaganda den überwiegend nichtjüdischen „Geldadel“ der Neuengland-Staaten der USA. Nach der Auffassung vieler extrem rechter US-Bürger, vor allem aus dem Süden und dem Mittleren Westen, erwarben diese reichen Familien (zu denen die Rockefellers und die Kennedys gehören) ihr Vermögen nicht auf „ehrliche“ Art, wie es nach dieser Auffassung etwa die „Industrie-Zaren“ des nördlichen Mittelwestens oder die texanischen „Öldynastien“ täten – selbst ein „Immobilien-Tycoon“ wie Donald Trump gilt in diesen Kreisen als „ehrliche Haut“. Nein, die „Ostküstenfamilien“ wurden, gemäß dieser Ideologie, reich, indem sie, wie die Rockefellers, ehrliche Unternehmer betrogen, undurchsichtige Spekulationsgeschäfte machten, Arbeiter und Verbraucher übers Ohr hauten, und vor allem Preiswucher als Händler und Zinswucher als Banker betrieben. Sie gehören also zum „raffenden Kapital“. Mit dem vielen Geld, das diese Familen raffen, bestechen sie Politiker und kaufen die Medien. Damit kontrollieren sie die öffentliche Wahrnehmung. Manche von ihnen treten öffentlich als Politiker in Erscheinung, meistens sind sie aber Drahtzieher im Hintergrund, die mit ihrem Einfluss dafür sorgen, dass ihre Machenschaften verborgen bleiben.
Damit ist die „Ostküsten-Erzählung“ strukturell antisemitisch.
Allerdings sagt man der „Ostküste“ auch besonders gute Kontakte zu Juden, vor allem zu jüdischen Intellektuellen, nach. An dieser Stelle kippt der strukturelle Antisemitismus in „echten“ Antisemtismus um. Insbesondere gilt das für deutsche Neonazis, für die „Ostküste“ ein Code für „reiche und einflussreiche amerikanische Juden und Judenfreunde“ ist.

Struktureller Antisemitismus nicht nur dann gefährlich, wenn er in „echten“ Antisemtismus umschlägt. Der Völkermord an den Armenier in der Türkei entsprach dieser gefährlichen Verbindung aus Verschwörungsideologie, verkürzter Kapitalismuskritik und schlichtem Sündenbockdenken.

Auch die große Hexenverfolgungungen im Europa der Frühen Neuzeit, folgten, vor allem bei den jüngeren Verfolgungswellen, oft einen strukturell antisemitischen Schema.

Martin Marheinecke, Mai 2018

2 Gedanken zu „„Der ACTA-Krake“ – problematischer als gedacht

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  • Wenn auch etwas verspätet möchte ich gerne dazu etwas schreiben. Den Kraken als Symbol für die Datensammelwut der Großkonzerne zu nehmen halte ich, obwohl auf dem ersten Blick passend erscheinend, grade wegen der verschwörungstheoretischen Darstellung einer weltbeherrschenden Elite (hat eben nur einen Kopf) und der Stürmer Karikatur ebenfalls für zu stark vorbelastet um sie unmissverständlich zur Darstellung zu verwenden. Ich hätte aber eine Alternative Idee um die Datensammelwut karikaturistisch darzustellen. Wie wäre es wenn man anstelle eines Kraken mehrere Techno Spinnen nimmt die in einem elektrischen Netz sitzen? Die Spinnen könnten einen Chip auf dem Rücken tragen mit der Beschriftung Facebook, Google und einiger Geheimdienste. Durch die Darstellung mehrere Spinnen wäre eine Asoziation mit einer Weltverschwörung durch eine kleine Elite eigentlich ausgeschlossen da jede Spinne für ihre ureigenen Interessen an den Daten steht. Wäre eine solche Karikatur zeitgmäßer und passender oder könnte dies ebenfalls missverstanden werden?

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