Was nicht gesund sein darf
Eigentlich gehört diese kleine Meldung in die Rubrik „Wissenschaft“: Kaffee ohne Milch reinigt die Zellen.
Gute Nachrichten für Kaffeeliebhaber: Ohne Milch ist der belebende koffeinhaltige Aufguss nicht nur ein kalorienarmes Getränk, sondern kann auch den zellulären Selbstreinigungsprozess, die Autophagie, auslösen.
Es gibt aber einen Grund, weshalb sie im „Gjallarhorn“ gelandet ist: Sie ist ein willkommener Anlass, über ein kulturelles Klischee zu schreiben, das mitunter als Scheuklappe wirkt.
Diese Erkenntnis ist weder überraschend noch weltbewegend, weil Kaffee Polyphenole enthält. Von den in Fruchtsäften enthaltenen Polyphenolen ist seit eh und je bekannt, dass sie gesund sind, unter anderem wirken sie entzündungshemmend, hemmen das Wachstum von Krebszellen und beugen der Arteriosklerose vor. Seit etwa 20 Jahren tun das auch die Polyphenole im Rotwein, daher ist es absolut nicht überraschend, dass die Polyphenole im Tee, Kakao und nun auch im Kaffee ebenfalls gesundheitsfördernd sind.
Bezeichnend ist allerdings, dass die gesundheitsfördernde Wirkung der Polyphenole z. B. aus Granatapfelsaft offensichtlich nie bestritten wurde, die Wirkung ähnlicher oder gleicher Polyphenole in „Genussmitteln“ hingegen schon – oder dass sie lange Zeit erst gar nicht entdeckt wurde.
Es gibt offensichtlich in unserer Gesellschaft einen „ungeschrieben Kanon“ welche Lebensmittel gesund und welche ungesund zu seien haben. Ernährung ist für viele Menschen eine Art Ersatzreligion, was vor allem religiöse Ursachen hat.
Berühmt ist der Fall des „vielen Eisens im Spinat“. Jahrzehntelang hielten sich weit überhöhte Angaben über den Eisengehalt des grüne Blattgemüses in den Nährwerttabellen – und noch länger in den popuären Gesundheitsratgebern. (Es war übrigens entgegen einer viel zitierten Legende kein Kommafehler: 1890 hatte der Physiologe Gustav von Bunge den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat völlig korrekt mit 35 Milligramm bestimmt. Allerdings hatte er getrockneten Spinat untersucht, der zehnmal so viel Eisen enthält wie die gleiche Menge frischer Spinat. Die Angabe, dass es sich um getrockneten Spinat handelte, ging irgendwann verloren.)
Warum wurde der absurd hohe Eisenwert so selten angezweifelt? Wahrscheinlich, weil Spinat ein grünes Blattgemüse ist, und grünes Blattgemüse gilt in unsererem Kulturkreis automatisch als „besonders gesund“. Was nicht unbedingt der Fall sein muss, denn rohe Blattgemüse sind die wichtigste Ursache von Lebensmittelvergiftungen.
Von Mark Twain stammt dieser Ausspruch:
Gesund bleiben kann man nur, wenn man isst und trinkt, was man nicht mag, und tut, wozu man keine Lust hat.
In einer streng protestantischen Gesellschaft, vor allem einer des calvinistisch-puritanischen Typs, wie jener der USA zu Twains Tagen, ist alles, was wir mögen, des Teufels.
Heute ist der Puritanismus samt Askese gerade in den USA Sache einer kleinen Minderheit; es blieb aber ein weit verbreitetes schlechtes Gewissen, das eine wichtige Ursache dafür ist, dass die meisten „Wunderdiäten“, Ernährungsmythen und hysterischen Warnungen vor ach so ungesunden Fetten / Kohlehydraten / Eiweissen usw. „Made in USA“ sind.
Ein extremer Vertreter der von Mark Twain karrikierten Lehre war ein gewisser John Harvey Kellogg – ja, der Erfinder der „Corn Flakes“. Kellogg glaubte, die Ursache für körperliches und geistiges Sichtum gefunden zu haben: Selbstvergiftung! Er warnte, wie andere Mediziner auch, vor Alkohol, Tabak und fetten Speisen, aber als echter Extremprotestant hörte er damit nicht auf: Auch alle Genussmittel wie Kaffee, Tee, Schokolade und Gewürze führten laut Dr. Kellogg zur Entstehung von giftigen Substanzen im Darm. Bezeichnenderweise glaubte Kellogg, dass das Ausleben der Sexualität das Gefährlichte sei, was man sich selbst antuen kann!
Die ursprünglichen Cornflakes entsprachen genau dem, was Kellogg unter „gesunder Ernährung“ verstand: einigermaßen nahrhaft, aber ohne nennenswerten Geschmack.
Dass die pappigen Dinger dann doch zum Welterfolg wurden, lag an seinem geschäftstüchtigen Bruder, Will Keith Kellogg. Er fügte eine Substanz hinzu, die Dr. Kellogg streng verboten hatte: Zucker.
Diese „klassischen Cornflakes“ waren der Vorläufer einer unübersehbaren Reihe von „gesunden Frühstückscerialien“, die oft so viel Zucker enthalten, dass sie im Grunde Süßigkeiten sind.
Gemüse – vor allem grünes Blattgemüse, Vollkornbrot (das nicht jeder oder jede verträgt) und Milchprodukte (die noch weniger Menschen vertragen) gelten z. B. pauschal als „gesund“. Trotzdem gilt Pizza dagegen pauschal als ungesund – auch wenn der Boden aus Vollkornmehl gebacken wurde und sie mit reichlich Gemüse und Käse belegt ist. Oder die bösen Pommes Frittes, die sich nährwertmäßig nicht von Pellkartoffeln mit etwas Butter – landläufig als „gesund“ angesehen – unterscheiden.
Hier greift offensichtlich das Prinzip, dass das, was Kinder spontan gerne essen, grundsätzlich nicht gesund sein kann. Erst das Ernährungswissen der Erwachsenen macht es möglich, einzuschätzen, was gesund zu sein hat.
Das Misstrauen gegen Genussmittel – „Genussgifte“, wie Ernähnungspuritaner sagen – ist so groß, dass sich die Behauptung, Kaffee sei ein „Flüssigkeitsräuber“, jahrzehntelang halten konnte. (Das Glas Wasser zum Kaffee gehört zur gepflegten und außerhalb des Großraums Wiens selten gepflegten Kaffeehauskultur trotzdem dazu.) Nach den ersten Studien über die gesundheitsfördernden Eigenschaften von Rotwein gab es sofort misstrauische Stimmen, die behaupteten, die Studien seien doch bestimmt von der Winzerlobby gefälscht worden. Die berühmte – oder berüchtigte, je nachdem, wer sie zitiert – Monica-Studie der WHO kam zu dem Ergebnis, dass männliche Teilnehmer die höchste Lebenserwartung hatten, wenn sie täglich den alkoholischen Gegenwert einer halben Flasche Wein tranken. Erst bei einer ganzen Flasche – im medizinischen Sinne also bei schwerem Alkoholmissbrauch – erreichten sie dieselbe (relativ) frühe Sterblichkeit wie Abstinenzler. Mir ist keine Studie der Weltgesundheitsorganisation bekannt, die nur annähernd so oft und so erbittert angefeindet wurde. Seltsamerweise wittert niemand hinter Studien über den Wert von Vollkornbrot den Einfluss der Getreidelobby.
In katholischen Gegenden übernimmt die „Sünde“ die Funktion des Spaßverderbers an leckeren Sachen. Die erzeugt beim Essen und Trinken nicht ganz so zuverlässig ein schlechtes Gewissen wie die protestantische Ethik, ist dafür bei der der bösen, bösen Sexualität sogar noch wirksamer.
Egal, ob in der protestantischen oder der katholischen Variante der gottesfürchtigen Askese (es gibt selbstverständlich auch eine islamische) – jede Freude ist eine schlimme Versuchung. Das färbt auf nicht-religiöse Heilslehren, vor allen denen, in denen es um Selbstoptimierung und Effizienz geht, ab.
Der Ausdruck „Heidenspaß“ ist, was körperliche Genüsse angeht, jedenfalls berechtigt.
Übrigens warte ich nur darauf, dass irgendwelche Scharlatane eine angebliche Wundertherapie auf der netten, aber weder überraschenden noch weltbewegenden neuen Erkenntnis über Kaffee aufbauen. Dass schwarzer Kaffee relativ preiswert ist, stört dabei nicht, denn typische „Wunderheilmittel“ sind von den Materialkosten her spottbillig. Immerhin ist die Dosis, ab der es gefährlich wird, bei Kaffee weitaus höher als z. B. bei Chlordioxid.
Martin Marheinecke