Kultur & Weltbild

Zwischen Gegenüber und Identifikation: Mein Verständnis von Gottheiten

Letztens führte ich mit einer Freundin eine angeregte Diskussion darüber, wie denn Heidentum inklusiver werden könnte, unter anderem meine meine persönliche Baustelle queer betreffend. queer verwende ich nicht als Sammelbegriff für „lesbisch, bisexuell, schwul, transgender und noch so ein paar Geschlechter und Sexualitäten“, sondern als Verortung jenseits der heterosexuell-zweigeschlechtlichen Normalität; sich als queer zu bestimmen, heißt für mich, kurz gesagt, die kulturellen Regeln, die Geschlechter und Sexualität bestimmen, in Frage zu stellen.

Als queere Person Heidin zu sein, ist für mich insofern nicht ganz einfach, als – entgegen weitverbreiteter Annahmen – allein das Fehlen von offener Ablehnung und einschlägigen Stellen in heiligen Schriften noch keine Praxis macht, in der es für queers auch behaglich ist. Auch – und um so mehr, als sie sich als körperfreundlich, sex-positive und lustbetont präsentieren: gerade – heidnische Zusammenhänge stecken voller Annahmen über Geschlecht, Sexualität und Partnerschaften, bei denen viele Menschen nicht darauf kommen, an welchen und wie vielen Stellen eine schmerzhaft mit diesen Annahmen kollidieren kann.

Irgendwann in dieser Unterhaltung fiel die Aufforderung: „Werde doch mal konkret, erzähl doch mal von deinen Gottheiten.“ Meine Antwort darauf war (zusammengefaßt), daß es für diese Frage weniger wichtig ist, wer „meine Gottheiten“ sind, sondern vor allem, wie ich sie sehe und verehre. Ich will diese Antwort hier ein wenig genauer ausführen – und einen Disclaimer anbringen: Was ich hier schreibe, ist meine äußerst persönliche Sichtweise. Sie ist in keiner Weise repräsentativ für die gesamte Nornirs Ætt.

Exkurs: Das kann doch jede_r machen, wie er_sie will… oder doch nicht?

Warum muß ich darüber überhaupt diskutieren? Kann das nicht jede_r machen, wie er_sie will?
Im Prinzip ja. Vor allem solitary pagans können es tatsächlich machen, wie sie wollen.

Für mich fängt das große Aber in dieser Hinsicht damit an, daß das, was die dominante Gruppe aka „Die Mehrheit“ macht bzw. für richtig hält – der_die Diskursanalytiker_in würde sagen: die hegemoniale Position – überall und nirgendwo abgebildet ist, in jedem heidnischen Einsteigerbuch geschildert wird, die Grundannahme von gefühlt 95% aller Texte bildet, überall praktisch Konsens herrscht: So macht man’s!
Darauf, es überhaupt anders machen zu wollen, muß eine überhaupt erstmal kommen, und das ist um so schwerer, je mehr eine dabei das Rad neu erfinden muß; um so schwerer, je weniger überhaupt Alternativen dargestellt und denkbar gemacht werden; um so schwerer, je mehr die hegemoniale Position noch die Begriffe, in denen eine denken könnte, prägt; um so schwerer, je mehr das Nirgends-Gespiegelt-Sein der eigenen Lebensrealität dazu führt, daß eine an der Realität und Wichtigkeit ihrer eigenen Bedürfnisse zweifelt.

Dann: Das „es machen, wie ich will“ ist unter diesen Umständen genau so lange konfliktfrei, wie eine keine gemeinsame Praxis mit anderen sucht. Schon der Besuch eines Heidenstammtischs oder eines heidnischen Forums bringt eine in die Lage, sich mit dem unausgesprochenen Konsens, der hegemonialen Position, auseinandersetzen zu müssen – und es ist immer die (von der hegemonialen) abweichende Position, die sich schneller als überhaupt denkbar rechtfertigen muß und an den Rand gedrängt wird.
Meine Versuche, eine gemeinsame Praxis mit anderen zu gestalten, die meine Lebensrealität nicht leugnete, führten jedenfalls öfter zu Streit und dem unguten Gefühl, mit der kleinsten Äußerung eines Bedürfnisses in Wespennester zu stechen.

Zum Glück nicht immer: Wo Glaubensinhalte nicht kodifiziert sind und jedes Ritual neu entsteht, wo kein bestimmtes Bild von Gottheiten, kein bestimmtes Weltbild vorausgesetzt wird und genau darum tatsächlich jede Vorstellung vom Göttlichen gleich viel wert sein und gleichermaßen Raum haben kann, ist auch Platz für meine Lebenswirklichkeit.

Aber zurück zur Frage „Wie sieht denn nun eigentlich deine Praxis aus?“

Meine spirituelle Praxis …

Wie spiegelt sich nun meine queerness in meiner spirituellen Praxis?
Zunächst einmal: Meine spirituelle Praxis ist eine Dauerbaustelle. Sie ist bei weitem nicht so umfangreich, strukturiert und regelmäßig, wie ich das gerne hätte. Es gibt wenig Festgelegtes, ich improvisiere sehr viel. Vieles baue ich in unscheinbaren Handlungen in den Alltag ein: Das beiläufige Trankopfer an die Ahn_innen, wenn mir gerade danach ist, ihnen ein Glas was auch immer hinzustellen; das zwischendrin mal eingebaute wortlose oder ausgesprochene Gebet (in 99,9% der Fälle nicht in vorher festgelegten Worten) an eine konkrete Gottheit oder, seltener, an das Kollektiv der Gött_innen; die spontane kurze Erdungsmeditation unter einem großen Baum, die gelegentliche schamanische Reise.

Mir kommt meine Praxis ausgesprochen unspezifisch vor, das Besondere daran ist für mich gerade der Mangel an Spezifik – das einzig Spezifische, das ich wahrnehme, ist meine Ausrichtung auf nordische Mythologie. Und das queere an meiner Praxis ist eigentlich weniger das, was ich mache, sondern eher Dinge, die ich weglasse.

… und mein Polytheismus

Der Witz an meinem Polytheismus ist nicht, daß ich nur homosexuelle Gottheiten verehre oder mich an den geschlechtlich uneindeutigen Gottheiten festmache – letzteres nun gerade nicht; danach habe ich persönlich als cisgender-Frau keinen so großen Bedarf und es ist mir wichtig, Begehren und gender – auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen mögen – als zwei getrennte Dinge zu betrachten.

Die rigide Zwei-Geschlechter-Ordnung durch etwas Fluides zu ersetzen, ist mir zum einen insofern wichtig, als es Platz für Leute mit nicht-binärem Geschlecht schafft, zum anderen ist das für mich persönlich wichtig, weil die üblichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen klar gekoppelt sind mit Heterosexualität und mit Annahmen, was dem jeweiligen Geschlecht im Leben wichtig zu sein hat und welches Verhalten jeweils angemessen ist. Annahmen, mit denen ich allein durch mein Nicht-heterosexuell-Leben schon kollidiere.

Hier sind ein paar Dinge darüber, wie ich meine Gottheiten und meine Beziehungen zu ihnen sehe:

  • Ich lehne den Satz „Alle Göttinnen sind eine Göttin, alle Götter sind ein Gott“ ab. Nicht nur wegen seiner zweigegenderten Grundvoraussetzung, sondern weil die Vielzahl der Gottheiten mir erst erlaubt, sie mir in Diversität vorzustellen. Wenn ich so etwas wie eine übergreifende Göttlichkeit anerkenne, dann ist sie auf einer derart abstrakten und un-personalen Ebene (und damit auch jede denkbare und undenkbare Geschlechtlichkeit und Geschlechtslosigkeit umfassend), daß sie für alle praktischen Belange keine Rolle spielt: ungefähr so groß wie das gesamte Universum. Auf praktischer Ebene betrachte ich Gottheiten als klar unterschiedene Individuen.
  • Ich kategorisiere meine Gottheiten nicht primär nach Geschlecht. Ich nehme sie als komplexe Persönlichkeiten wahr. Charaktere, mit deren spezifischen Aufgaben und Stärken mein Leben gerade was zu tun haben mag – oder auch nicht. Persönlichkeiten, zu denen ich mich temporär oder dauerhaft hingezogen, mit denen ich mich verbunden fühle.

    Ich nehme die Großen (den Begriff habe ich von eibensang geborgt) als Vielzahl von sehr spezifischen und verschiedenen Wesenheiten wahr, und es ist mir wichtig, ihre Details kennenzulernen und nicht bloß irgendwo mal einen Absatz in einem Buch zu lesen. Bei manchen mag das erst einmal schwierig sein, weil es wenig historische, literarische, archäologische Quellen gibt: da müssen dann Kreativität, Selberdenken und hands-on-Mystik – das, was amerikanische Heid_innen UPG, unverified personal gnosis, nennen – ran.

    Und wenn sie laut vorhandenen Quellen größtenteils in zwei Geschlechter passen, dann sind sie immer noch höchst verschieden. Die Männlichkeit Thors ist anders als die Odins, und obwohl Tyr meistens als männlich klassifiziert wird, gibt es doch Hinweise, daß er* früher eine Himmelsgottheit war, die sowohl männlich als auch weiblich war. Freyas Weiblichkeit ist eine andere als Sifs und deren Weiblichkeit wiederum anders als die Hels, von Lokis müheloser Gestaltwandlung ganz zu schweigen.

  • Damit verbunden: Ich sortiere meine Gottheiten nicht in Männlein-Weiblein-Paaren zusammen. Meistens habe ich mit ihnen als Individuen zu tun.
  • Manche meiner Gottheiten sind gar nicht anthropomorph. Erda z.B. kann ich als Planet vergöttlichen – das reicht mir vollkommen (und resultiert in einem Bild, das sich von dem üblichen, gern leicht verkitschten der Erdmutter ganz heftig unterscheidet).
  • Welche Gottheiten gerade wichtig für mich sind, ist nur in wenigen Fällen von gender bestimmt, viel öfter von der Aufgabe oder dem Lebensbereich, mit der oder dem ich es gerade oder auch dauerhafter zu tun habe. Als Sängerin, Schreibende und Runen-User pflege ich z.B. eine Beziehung zu Odin; Hel ist eine wichtige Partnerin, wenn es um die Arbeit mit meinen Seelentiefen geht; Loki hilft mir, wenn ich mich durchmogeln muß und ist außerdem als Gestaltwandler und genderqueere Person wichtig für mich. In Erda habe ich mich wegen solcher Bilder verliebt. Bei Freya spielt gender eine Rolle, denn sie ist für mich – unter anderem! – die ultimative femme, deren Weiblichkeit nicht davon abhängt, wen sie in ihr Bett einlädt oder nicht und der ich zutraue (wenn nicht unterstelle), alle möglichen Geschlechter, damit auch Weiblichkeit zu begehren.
    Summa summarum kann ich sagen, daß es mir vor allem bei den Gottheiten, von denen stark sexualisierte Bilder unterwegs sind, wichtig ist, queere Bilder zu entwickeln – queer nicht nur im Sinne von „irgendwo zwischen den Geschlechtern“, sondern auch queer im Sinne von Begehren jenseits des heterosexuellen.

Das wichtigste scheint mir meine Beziehung zu den Gött_innen zu sein: Die bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach einer persönlichen Beziehung bis hin zu devotionaler Hingabe und der klaren Wahrnehmung von Gottheiten als Gegenüber, mit dem ich interagieren kann.
Bruchlose Identifikation dagegen? Nein. Wenn es mir wichtig ist, queere Gottheiten zu haben bzw. sie auch in queeren Gestalten zu sehen, dann so ähnlich, wie es mir auch in menschlicher Gesellschaft leichter fällt, über queer-relevantes zu sprechen, wenn mein Gegenüber auch queer (oder glaubwürdig als Verbündete_r) verortet ist. So ähnlich, wie ich eher mit Musiker_innen detailliert über Musikalisches sprechen kann. Und darüber hinaus, weil ich nicht einsehe, hier Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als Defaultzustand oder gar einzig denkbaren und natürlichen Zustand stehen zu lassen.

Dabei gehe ich davon aus, daß Göttinnen_Götter ohnehin viel größer, komplexer und vielfältiger sind, als unser menschliches Bewußtsein fassen kann. Meine subjektive Sicht auf sie ist deshalb nicht die einzige mögliche – aber sie ist genauso valide wie die jedes anderen Menschen.

Eine Gottheit im Ritual anzurufen, bewegt sich für mich immer zwischen einer Einladung, präsent zu sein, und einer Bitte, etwas zu tun – aber (fast) nie strebe ich das an, was Wiccas als „invoziert sein“ bezeichnen. Gottheiten durch mich handeln zu lassen, ist für mich vielleicht im Rahmen von Besessenheit denkbar – und das ist in meinen Augen eine Hausnummer, die eine nicht mal eben so macht.

Denn: Gottheiten sind für mich Wesenheiten mit einem eigenen Willen, die zum Teil, wenn nicht vollständig außerhalb meines eigenen Bewußtseins existieren. Und darum ist es grundsätzlich kein Problem, wenn sie von mir verschieden sind; und gleichzeitig schließe ich eher mit denen Freundschaft, die ich in einer Gestalt sehen kann, die mit meinem Leben etwas zu tun hat.

Ein Gedanke zu „Zwischen Gegenüber und Identifikation: Mein Verständnis von Gottheiten

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