Wissenschaft

Spuren der „ersten Wikinger“ in Estland

Zwei bemerkenswerte Schiffsfunde in Estland könnten darauf hinweisen, dass der „Wikinger-Sturm“ sich schon lange vor den bekannten Überfällen auf England und das europäische Festland zusammenbraute.

Nach der üblichen Geschichtsschreibung begann die „Wikingerzeit“ am 8. Juni 793, als das auf einer Insel vor der Küste Nordostenglands gelegene Kloster Lindisfarne von „heidnischen Männern“ aus Skandinavien überfallen und ausgeplündert wurde.

Die Überfälle, Kriegszüge, Handelsfahrten, Entdeckungsreisen und Auswanderungen der „Wikingerzeit“ wären ohne hochseetüchtige und leistungsfähige Schiffe nicht möglich gewesen. Die „frühmittelalterliche skandinavische Expansion“ hatte viele Ursachen, aber der entscheidende Faktor, der „Wikinger“ zur unaufhaltsamen Macht, zu gefürchteten Seeräubern und erfolgreichen Fernhändlern machte, war der überragende Schiffbau.

Über die „Wikingerschiffe“ des 9. bis 10. Jahrhunderts sind wir, dank archäologischer Funde und schriftlicher Quellen, recht gut im Bilde. Hingegen ist über den Übergang vom reinen Ruderschiff vom Typ des Nydam-Schiffes (ca. 320 u. Z.) zum gesegelten Langschiff wenig bekannt. Das mit seinem hochgezogenen Bug und Heck schon sehr nach „Wikingerschiff“ ausehende Kvalsund-Schiff aus der Zeit um 700 u. Z. hätte mit seinem ausgeprägten Kiel theoretisch schon gesegelt werden können, aber es fehlte jeder Hinweis auf einen Mast. Das um ca. 820, also schon mitten in der „Wikingerzeit“, gebaute Oseberg-Schiff war eindeutig mit einer Beseglung versehen.

Zwei große Boote oder kleine Schiffe voller erschlagener Krieger, die auf der estnischen Insel Saaremaa freigelegt wurden, könnten Licht in den Übergang vom Kurzstrecken-Ruderschiff zum Segelschiff, zur Herkunft der ersten „Wikinger-Krieger“ und der Entwicklung ihrer Taktik bringen. Nach Aussaga von Marge Konsa, einer Archälogin an der Universität Tartu, ist es unumstritten, dass die Gräber skandinavischer Herkunft sind.

Im zuerst gefundenen kleineren Boot lagen die Gebeine von sieben Männern, im größeren Fahrzeug von 33 Männern säuberlich wie Holzscheite gestapelt begraben, zusammen mit ihren Tieren und Waffen. Die Grabstätte macht den Eindruck eines hastig errichteten Massengrabs.
Die Archäologen nehmen an, dass die Männer zwischen 700 u. Z. und 750 u. Z. im Gefecht fielen, also lange vor dem „offiziellen Beginn“ der „Wikingerzeit“. Damit würden sie in die Vendelzeit fallen, einer Übergangszeit zwischen „Völkerwanderungszeit“ und „Wikingerzeit“.

Zwar war fast das gesamte Holz des 2008 gefundenen, Salme 1 genannten, Bootes weggerottet, aber Verfärbungen im Boden und ca. 275 erhalten gebliebene eiserne Nieten erlaubten die Rekonstruktion des ca. 11,50 m langen Fahrzeugs. Das schmale und ziemlich leichte Boot nur kann nur ein schnelles Kriegsboot gewesen sein. Die Radiokarbon-Datierung einiger erhalten gebliebener Holzfragmente weisen darauf hin, dass das Holz zwischen 650 und 700 geschlagen wurden. Allerdings war Salme 1, wie das Kvalsund-Schiff, ein reines Ruderfahrzeug.

Jüri Peets, Archaeologe an der Universität von Tallinn, entdecklte knapp 30 Meter von Salme 1 entfernt ein weitaus größeres und technisch raffinierteres Schiff, Salme 2, das 2012 ausgegraben wurde. Auch das Holz dieses Fundes war größtenteils nicht mehr vorhanden, aber anhand der Postion der über 1200 Nieten und der Bodenverfärbungen lässt sich rekonstruieren, dass Salme 2 ca. 16,30 m lang und ca. 3 m breit war. Das Fahrzeug hatte einen Kiel. Peets interpretiert Holz- und Eisenfragmente in der Rumpfmitte als Überreste der Masthalterung und im Tuchreste als Teile eines Segels. Wenn er recht behält, ist Salme 2 das bisher älteste im Ostseeraum gefundene Segelschiff.
Wenn Salme 2 ein Segel trug, wäre es in jeder Hinsicht ein „Wikingerschiff“ gewesen. Peets and Konsa stimmen darin überein, dass beide Fahrzeuge zur selben Zeit aus dem selben Anlass vergraben wurden. Eindeutige Spuren von Schwerthieben beweisen, dass die Männer im Kampf umgekommen waren.

Wahrscheinlich sammelten die Überlebenden einer Seite eines Gefechtes die Körper ihrer gefalllenen Kameraden zusammen und bestatten sie in zwei nicht mehr für die Heimreise benötigten Booten, die sie gut 70 Meter den sanft ansteigen Strand empor zogen, zusammen mit ihren unbrauchbar gemachten Waffen. Es fällt auf, dass die Männer im größeren Schiff besser bewaffnet waren und mit größerem Respekt bestattet wurden. Auch innerhalb der Besatzung von Salme 2 weist eine mehr oder wenige kostspielige Ausrüstung auf eine ausgeprägte Hierachie hin. Die Machtart der Pfeilspitzen und der Schwerter ist eindeutig skandinavisch.
Die Bestattung erfolgte offensichtlich unter Zeitdruck, und ein Grabhügel wurde nicht errichtet.

Obwohl Schiffbestattungen im Nordeuropa vor der Christanisierung nicht ungewöhnlich waren, ist ein Schiffsgrab dieser Art – nicht als Einzelgrab einer bedeutenden Persönlichkeit, sondern als „Soldatenfriedhof“ – bisher einzigartig. In schriftlichen Quellen wird diese Form der Bestattung für in der Ferne gefallene Krieger jedoch erwähnt.

Die Funde von Salme legen nahe, dass die „Wikingerzeit“ kein plötzlich auftretendes Phänomen war und dass Vendelzeit und Wikingerzeit allmählich ineinander übergingen. Sie bestätigen auch die aus Heldengeschichten und Sagas bekannte Überlieferung, dass die „Wikingerüberfälle“ von „adligen“ (oder zumindest wohlhabenden) Anführern und ihrer Gefolgsschaft verübt wurden.

Wer kämpfte gegen wen? Eine mögliche Verbindung könnte es zur, alllerdings hochmittelalterlichen, Sage um den schwedischen Edelmann Yngvar geben, der bei einem Überfall auf Estland im Kampf gegen ein estnisches Heer umkam. Er wurde nahe dem Strand bestattet.
Wenn das so war, stellt sich die Frage, was die schwedischen Krieger auf Saaremaa suchten – reiche Siedlungen oder gar Klöster gab es dort nicht.
Vielleicht kämpften sie auch gegen andere Skandinavier.
Konsa fand Pfeilspitzen dort wo die Aussenseite des kleineren Bootes war, so, als hätten sich im Holz gesteckt. Sie vermutet, dass die Schlacht auf See begann und auf dem Strand fortgesetzt wurde.

Quelle: The First Vikings – Archeology Magazine – Archaeological Institute of America

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