Odins Auge Artikel

Die Arbeitsreligion

Ein sehenswerter Film

Am 2. Mai 2013, einen Tag nach dem „Tag der Arbeit“, kam ein unbedingt sehenswerter Dokumentarfilm in die Kinos: Frohes Schaffen – Ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral.

Konstantin Faigle machte sich auf, um den „Mythos Arbeit“ als solchen zu hinterfragen. Er zeigt, dass Arbeit für uns mehr ist als Broterwerb – eine Ideologie, ja eine weltliche Religion mit absurden Glaubensgrundsätzen.

Nur wer Arbeit – Erwerbsarbeit – hat, zählt als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Die Arbeit, egal welche, verheißt Wachstum, Wohlstand und Sinngebung. Wer sich hingegen dem strafenden Gott der Arbeit verweigert, kann nicht mit Gnade rechnen. Der wird ausgegrenzt und erniedrigt. „Hartz-IV“ nimmt in dieser „Religion“ die Funktion einer Vorhölle ein. (Die „Hölle“ gab es auch schon mal und anderswo immer noch: Arbeitslager für „Asoziale“ und angeblich „Arbeitsscheue“. Ich würde nicht darauf vertrauen, dass „so etwas“ bei uns, dank der historischen Erfahrung, nicht mehr denkbar wäre.)

Immerhin strukturiert auch unbefriedigende Arbeit den den Tag, und Arbeit gaukelt einen Sinn im Leben vor, auch wenn viele Tätigkeiten überhaupt nicht sinnhaft und oft auch nicht volkswirtschaftlich sinnvoll sind.

Direktlink: Trailer „Frohes Schaffen“

Trotz seines ernsten Themas ist der Film höchst amüsant, auch wenn er mit satirischen Mitteln vorsichtig umgeht, auf billige Polemik verzichtet und nicht mit modischen Stilmitteln wie „Wackelkamera“, hektischen Schnitten und Computeranimationen für alles und jedes nervt.

Ob der Film meine Arbeitsmoral langfristig senkt, kann ich nicht sagen. Er bringt mich aber sehr ins Nachdenken, über mein persönliches Verhältnis zur Arbeit und zur Pflichterfüllung, aber auch über die Gründe, aus der die in „Frohes Schaffen“ so eindringlich dargestellte Arbeitsreligion überhaupt entstehen konnte.

Absurde Glaubensätze der Arbeitsreligion

Ein Glaubenssatz ist, dass allein die Erwerbsarbeit und nach Möglichkeit berufliche Karriere ein erfülltes Leben, Selbstverwirklichung und letzten Endes Glück ermöglichen, ein anderer, dass „Fleiß“ keine Sekundärtugend sei – also eine von anderen Tugenden und Werten abhängige Tugend, die für sich genommen weder „gut“ noch „schlecht“ ist – sondern einen „Wert an sich“ darstellt. Fleißig sein, egal zu welchem Zweck, ist schon mal gut, was im Extremfall bedeuten kann, dass ein fleißiger Wirtschaftskrimineller insgeheim bewundert, ein fauler „Sozialbetrüger“, der vielleicht weniger als ein Tausendstel des Schadens des Wirtschaftskriminellen angerichtet hat, offen verachtet wird.

Wer fleißig ist, ist gemäß der Arbeitsreligion auch erfolgreich. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer dem Gott der Arbeit genug huldigt, dem verheißt er ein Stück vom irdischen Paradies. Wenn das, wie fast immer, ausbleibt, bietet er immerhin ein gutes Gewissen.

Bei ausbleibendem Erfolg hat man entweder etwas falsch gemacht oder sich eben doch nicht genügend angestrengt. Das erleichtert es, ein gutes Gewissen gegenüber den „Verlierern“ und der „Unterschicht“ zu haben. Im Umkehrschluss wird bei Misserfolg, selbst ganzer Volkswirtschaften, vermutet, z. B. die „faulen Griechen“ seien doch „selber schuld“ und der „Erfolg“ der deutschen (bzw. österreichischen, schweizer usw.) Volkswirtschaft sei auf besonderen Fleiß zurückzuführen.

Diese „Tugendvermutung“ sorgt auch dafür, dass sich der Neid der „Mittelschichtler“ gegenüben den „Besserverdienenden“ in Grenzen hält (was sich, da sich einige Manager allzu unverschämt bereichern, und die im Grunde leistungslosen Kapitaleinkünfte unübersehbar angewachsen sind, allerdings zu ändern beginnt), während der Neid gegenüber (dem Anschein nach) „Faulenzern“, die sich trotzdem dieses oder jenes leisten können, schon mal in Häme und Anfeindung umschlagen kann. Es tritt sogar die im Grunde absurde Situation ein, dass „Mittelschichtler“ die „faulen Unterschichtler“, die real weniger Einkommen haben, beneiden, weil sie „trotzdem ganz gut leben“. Sogar Arbeitslose werden, wenn sie z. B. so unverschämt sind, der Muße nachzugehen, beneidet und unter Umständen als „Sozialschmarotzer“ verachtet.

Aus diesen absurden Glaubenssätzen resultiert auch z. B. die offizielle verbreitete Vorstellung, Arbeitslose hätten täglich ihre acht Stunden für Arbeitssuche und Bewerbung aufzubringen, also die „Jobsuche zum Full-Time-Job“ zu machen. Natürlich weiß jeder, dass kaum jemand so etwas macht, und dass ständiges „Klinkenputzen“ und „Bewerbungen auf Teufel komm raus raushauen“, jedenfalls bei längerer Arbeitssuche, eher dazu taugt, sich die seelische Gesundheit zu ruinieren, als einen guten Job zu bekommen. Personalfachleute raten nicht erst seit gestern zu eher wenigen, aber sorgfältig vorbereiteten Bewerbungen, aber die Praxis vor allem der Jobcenter ist nach wie vor von der Vorstellung „viel hilft viel“ und Vorgaben, in einem Monat soundsoviele Bewerbungen nachzuweisen, geprägt.

Ein Blick in die Geschichte

Wie konnte die „Arbeit“ zur „Quasi-Gottheit“ werden, die sie nicht nur im Kapitalismus, sondern auch in ihrem Selbstverständnis nach sozialistischen Staaten wie China oder selbst Nordkorea ist?
Ein Grund ist die Ökonomie, sprich Kapitalismus und ggf. Post-Kapitalismus. Der andere die Religion, genauer gesagt, das protestantische Christentum, das indirekt, über die Gegenreformation, auch das katholische Christentum beeinflusste. (Und, in geringerem Ausmaß, der Konfuzianismus in Ostasien, den ich, da er hierzulande kaum eine Rolle spielt, außer Acht lasse.)

Wenn von „Arbeit“ die Rede ist, ist fast immer „Erwerbstätigkeit“ gemeint. Im weiteren Sinne bedeutet „Arbeit“ heute „ein Tun, das Werte schafft“ – materielle oder finanzielle, eher selten ideelle.

Das war nicht immer so. Um das zu erkennen, sind wir Freunde alter Sagen und Mythen im Vorteil, denn wie heißt es so schön gleich im ersten Satz des „Nibelungenliedes“:

Uns îst in álten mæren / wúnders vil geseit
Von hélden lóbebæren / von grôzer árebeit
von fröiden, hôchgezíten / von weinen und von klagen
von kuener recken strîten / muget îr nû wúnder hœren ságen.

Wenn von “grôzer arebeit” die Rede ist, dann bedeutet das im Mittelhochdeutschen des 12. Jahrhunders üblicher Zeitrechung „große Mühsal” oder „große Anstrengung“. Im Nibelungenlied ist es außerdem eine Umschreibung von “harter Kampf”.

Es ist kein Zufall, dass jenes Wirtschaftssystem, das wir heute „Kapitalismus“ nennen, und die protestantische „Arbeitsmoral“ in der Frühen Neuzeit gleichzeitig entstanden und sich gegenseitig beförderten.

Selbstverständlich arbeiteten die Menschen auch vorher schon, schon in der jüdischen Bibel (auch „altes Testament“ genannt) heißt es, der Mensch solle im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen. Schon im Mittelalter wurde die Arbeit als „Gottesdienst“ gepriesen, wie es bei den Benediktinermönchen des hieß: „Ora et labora“ („Bete und arbeite“, was allerdings auch bedeuten kann: „bete und strenge dich an“.)

Es gab aber noch nicht den abstrakten, sozusagen verselbständigten Begriff der „Arbeit“. Die Produktion des Mittelalters beruhte, wie die ganze Gesellschaft, auf persönlichen Abhängigkeiten. Beim Leibeigenen und seinem Verhältnis zum Grundherrn, dem er zu Hand- und Spanndiensten verpflichtet war, leuchtet das unmittelbar ein, jeder Leibeigenen wusste, dass er einen Teil seiner persönlichen Arbeitskraft im Dienst seines Herrn verausgabte. Aber auch beim Handwerker, z. B. einem Schuhmacher, war das ähnlich. Der Schuhmacher übte „sein Handwerk aus“ und fertigte Schuhe für einen bestimmten Menschen. Ihm war klar, dass er einen Teil seines Könnens, seiner Sorgfalt, seiner Lebenszeit für den Kunden aufwendete und dafür von ihm entlohnt wurde.

Ein abstrakter Begriff “Arbeit” im Sinne von “Wertschöpfung” war unnötig. „Arbeit“ und „Anstrengung“ waren gleichbedeutend.

Nun ist er schwer vorstellbar, dass so etwas wie „Anstrengung“ oder „Mühe“ zum Objekt der Verehrung oder gar, wie es unsere christlichen Mitbürger nennen würden, zum „Götzen“ wird. Bezeichnenderweise gibt es z. B. zahlreiche Handwerksgötter, auch übrigens für den Handel und Verkehr zuständige Götter, aber es gibt in keinem mir bekannten vorchristlichen Pantheon einen Gott der Arbeit.

Es war Karl Marx, der, was immer man vom Kommunismus halten mag, aus der Wirtschaftswissenschaft ebenso wenig wegzudenken ist wie Darwin aus der Biologie, der es auf den Punkt brachte: Das Geld, die Waren, das Kapital, der Markt, die Arbeit erscheinen als beseelte Dinge, die eigenständig agieren. (Wie oft heißt es z. B. aus Politikermund „die Märkte verlangen“, als ob „die Märkte“ ein eigenes Bewußtsein und einen eigenen Willen hätten.) Marx sprach vom „Fetischchrakter“ z. B. der Waren. Im umgangssprachlichen Sinne (nicht in ethnologischer, mythologischer oder in psychologischer Bedeutung) ist ein Fetisch ein Ding, dem Eigenschaften zugesprochen werden, die das Ding in Wahrheit nicht hat.

Die protestantische Arbeitsethik

Erst als die „Arbeit“ in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft ein „Fetisch“ oder ein „Götze“ geworden war, konnte die zunächst protestantische „Verehrung der Arbeit um ihrer selbst willen“ einsetzen. Es waren Werner Sombart und Max Weber, die, was immer man von ihren politischen Ansichten halten mag, ebenso wenig aus der Soziologie wegzudenken sind, wie Max Plank und Albert Einstein aus der Physik, die die Bedeutung der protestantischen Arbeitsethik für die Entwicklung des Kapitalismus erkannten.

Die protestantische Ethik entwickelte aus der Reformation Luthers und der damit neu aufgekommenen Idee der innerweltlichen Askese. Luther kam zu der Überzeugung, dass der Beruf eine von Gott gestellte Aufgabe sei. Um Gott wohlzugefallen, sei die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten unter allen Umständen der einzige Weg zum Heil, nicht etwa mönchische Askese.

Weber führte das unter Anderem darauf zurück, dass mit dem gestiegenen Handelsvolumen zur Renaissancezeit, also zur Zeit Luthers, die (arbeitsteilige) Berufsarbeit immer wichtiger wurde.

Sicherlich ist der Kapitalismus kein Ergebnis der Reformation, den Frühkapitalismus gab es in Italien schon vorher, und die Reformation wurde sicherlich auch nicht vom entstehenden Kapitalismus allein hervorgerufen, aber es sind, wie Weber das nannte, „bestimmte Wahlverwandtschaften zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar“. Der Protestantismus (und die Gegenreformation) begünstigen zweifellos neben der plichtethischen Berufsauffassung eine methodische Lebensführung, beides ist für eine kapitalistische Wirtschaft förderlich.

Die „Wahlverwandtschaften“ sieht Weber allerdings weniger beim lutheranischen Protestantismus als beim Calvinismus, der in den Hochburgen des Kapitalismus – der Schweiz, den USA, in gewissem Maße auch in Großbritannien und, zu Webers Zeiten, auch noch den Niederlanden, die gesellschaftlich tonangebende Religion war und z. T. immer noch ist. Wahrscheinlich hätte sich der Kapitalismus auch ohne den Calvinismus gegenüber feudalen und halbfeudalen Systemen durchgesetzt. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass es ohne die calvinistische Ethik im selben Maße zur „Vergötzung“ bzw. „Fetischierung“ der Arbeit gekommen wäre.

Die „Wahlverwandschaft“ zwischen Kapitalismus und Calvinismus begründet sich wesentlich in der Prädestination – der Lehre von der Gnadenwahl. Diese Lehre besagt, dass Gott durch seinen Beschluss einige Menschen zum ewigem Leben im Himmel und andere zu ewiger Verdammnis bestimmt habe. Eine Vorstellung, die sich schon beim Kirchenlehrer Augustinus finden lässt, weshalb sowohl die lutheranische wie auch die katholische Konfession eine etwas entferntere „Wahlverwandtschaft“ mit dem Kapitalismus haben als die Calvinisten, für die der Ratschluss Gottes unabänderlich ist, da ein allwissender Gott ja schon vorher weiß, wie sich ein Mensch verhalten wird.

Die Ungewissheit, „erwählt“ oder „verdammt“ zu sein, führt zu einer ständigen Angst der Gläubigen. Ein Ausweg liegt darin, dass der Gläubige es sich zur Pflicht macht, sich für erwählt zu halten. Anderenfalls erliegt der Gläubige dem Teufel, der Zweifel sät. Das führt zu einer demonstrativen Selbstgewissheit nach außen. Da der strenggläubige Calvinist sich niemandem anvertrauen kann, da er dann schon wieder zweifeln würde, und damit dem Teufel verfallen wäre, wird er selbst engen Freunden nie völlig vertrauen.

Ein anderer Ausweg aus der permanenten Höllenangst ist die Arbeit. Viel Arbeit, auch weit über das Ausmaß hinaus, das zum Lebenserhalt nötig wäre, um Selbstgewissheit zu erlangen, eigentlich aber um Angst abzubauen.

Um Gnadengewissheit zu erlangen, sind gute Werke, anders als in der katholischen und zum Teil auch lutheranischen Auffassung, ungeeignet, aber sie sind unentbehrlich als Zeichen der Erwählung. Ein (idealtypischer) Calvinist tut Gutes weder „von Herzen“, noch „um die Seligkeit zu kaufen“, sondern um die Angst um die Seeligkeit loszuwerden. Was die Neigung, „gute Werke“ gut wahrnehmbar und streng formal geregelt, etwa in Form von Stiftungen, zu tun, erklären könnte.
Der Gläubige setzt sich unentwegt selbst unter Kontrolle, und das ist eine konsequente Methode, um die gesamte Lebensführung zu gestalten.

Die innerweltliche Askese verlangt Sparsamkeit und Enthaltsamkeit. Auf Seiten der Kapitalisten führt das dazu, dass Gewinne nicht „verprasst“, sondern investiert werden, auf Seiten der Arbeiter und Angestellten dazu, anspruchlos, bescheiden und karrierebewusst zu sein. (In der Praxis werden Gewinne oft einfach nur gehortet, dem Anspruch nach müssen sie aber, bis auf „Reserven“, nutzbringend verwendet werden.)
An dieser Stelle sei auch an den staatstragenden „preußischen Prostestantismus“ erinnert, bei dem sich innerweltliche Askese und protestantische Pflichtethik mit striktem Gehorsam gegenüber der „Obrigkeit“ verbindet. Was z. B. Industriellen oder Großagrariern sehr zupass kam.

Die Prädestination lässt sich zwar nicht positiv beeinflussen, drückt sich jedoch im Diesseits durch Erfolg aus. Wer erfolgreich ist, besitzt also die Gnade Gottes, wem es, egal ob durch eigenes Verschulden oder durch Pech, dauerhaft schlecht geht, der ist verdammt.

Folgerung: kein Mitleid mit den Armen! Mildtätige Hilfe erfolgt nur aus Plichtbewusstsein und Angstabwehr, ist auf das absolut Lebensnotwendige begrenzt und stets an die Bedingung, einen „frommen Lebenswandel“ zu führen, geknüpft.

Von den calvinistisch geprägten Zentren des Kapitalismus breiteten sich die offensichtlich erfolgreichen Strukturen der protestantischen Arbeitsethik auf andere, religiös anders geprägte, Teile der Erde aus. Vielleicht teilten Industrielle, Großkaufleute, Bankiers und Kapitalanleger anderswo nicht alle „calvinistischen Werte“, so wie auch bei vielen calvinistischen Großkapitalisten von persönlicher Bescheidenheit keiner Rede mehr sein konnte, aber die protestantische Arbeitsethik bewährte sich.

Sie erwies sich sogar in den Ländern des „real existierenden Sozialismus“ (nach dem Muster der UdSSR) als ausgesprochen zweckmäßig, weil produktivitätssteigernd. Ein „Held der Arbeit“, der bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit schuftet und dabei nicht nach dem Sinn seiner Arbeit fragt, wäre ohne die letzten Endes protestantische Arbeitsethik nicht vorstellbar. Mehr noch: da alle konkurrierenden Weltanschauungen, und damit auch Religionen, aus dem öffentlichen Leben verdrängt wurden, wurde die Arbeitsreligion im „Realsozialismus“ quasi zur Staatsreligion. Was später im nur noch dem Namen nach sozialistischen China zu äußerst günstigen Bedingungen für ein schnelles Wirtschaftswachstum ohne größere „Reibungen“ (Aufstände, Streiks usw.) beitrug.

Die Sozialdemokratie und die Arbeitsreligion

Dass überzeugte Kapitalisten auch Freunde und Förderer der Arbeitsreligion sind, überrascht nicht: es ist zu ihren eigenen Nutzen.

Dagegen überrascht es schon, wie viele Sozialdemokraten fromme Anhänger der Religion der alleinseeligmachenden Erwerbsarbeit sind. Zusammen mit den auf „ökonomische Effizienz“ gebürsteten, für „neoliberale“ Rezepte aufgeschlossenen „Genossen der Bosse“ in der Folge der britischen „New Labour“ unter Tony Blair in den 1990ern trugen sie sehr stark dazu bei, dass die Sozialdemokratie in vielen Ländern Westeuropas sehr an „sozialem Profil“ verlor.

In Deutschland stand in den frühen 2000er-Jahren der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) exemplarisch für den forschen „Reformer“ mit besten Kontakten zur „Wirtschaft“, und Franz Müntefering, zuerst Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, dann Fraktionsvorsitzender der SPD, exemplarisch für den „Sozi alter Schule“, der einerseits z. B. die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder nach Kräften unterstützte, anderseits die ebenfalls von der Regierung Schröder vorangetriebene Liberalisierung der Finanzmärkte heftig angriff. (Er verglich z. B. Investmentgesellschaften mit „Heuschrecken“.)

Großes Medienecho erregte Müntefering im Mai 2006 mit seiner Aussage: „Nur wer arbeitet, soll auch essen.“ Diese Aussage findet sich so nicht in der Bibel, wo es heißt: „Denn als wir bei euch waren, haben wir euch die Regel eingeprägt: Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen.“ (Zweiter Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher, Kapitel 3, Vers 10) und war eigentlich eine Mahnung an Müßiggänger in der frühen Christengemeinde – wahrscheinlich sogar an sich es auf Kosten der Gemeinde gut gehen lassende Priester.

Franz Müntefering ist übrigens römisch-katholisch, ein weiteres Indiz dafür, dass eine protestantische Arbeitsethik nicht an eine protestantische Konfession gebunden ist.

Die quasi religiöse Überhöhung der Erwerbsarbeit ist keine Spezialität „rechter“ Sozialdemokraten, sie kommt auch im linken SPD-Flügel und bei den LINKEN vor, interessanterweise sogar bei Menschen, die sich selbst für Marxisten halten, trotz des von Marx erkannten „Fetischcharakters“ der Arbeit.

Das religöse Verhältnis zur Arbeit, dass viele Sozialdemokraten und Sozialisten, vor allem in Deutschland auszeichnet, ist keine neue Erscheinung. Als „Geburtsdokument“ der SPD, das die Vereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) auf dem „Gothaer Kongress“ im Mai 1874 besiegelte, gilt das „Gothaer Programm.“ Schon im ersten Paragraphen des „Gothaer Programms“ heißt es:

Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.

Niemand anders als Karl Marx kommentierte das in seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ so:

Erster Teil des Paragraphen: „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.“

Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, daß die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn geben. Nur soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und –gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.[…]

Der Glaube an eine „übernatürliche Schöpfungskraft der Arbeit“ wie auch der Umstand, dass die „Natur“ völlig ausser acht gelassen wurde, deuten auf ein stark religiöses Denken hin, was damals wahrscheinlich nur eingefleischten Atheisten, wie Marx es einer war, überhaupt auffallen konnte.

Die Arbeitsreligion und die deutsche Geschichte

Die Arbeitsreligion ist meines Erachtens die „entkirchlichte“ Form der der protestantischen Arbeitsethik, die, nachdem der christliche Glaube, vor allem in seiner streng calvinistischen Form, an Einfluss verlor, zur selbstständigen Heilslehre mit eigener Metaphysik mutierte.

In Deutschland kamen zur mehr oder weniger „importierten“ calvinistisch geprägten „kapitalistischen Arbeitsethik“ lutheranische und aus der katholischen Gegenreformation stammende „einheimische“ Vorstellungen hinzu. Eine große Rolle bei der deutschen „Konfession“ der Arbeitsreligion spielte sicherlich der von Gehorsam, Disziplin und Staatsnähe geprägte „preußische Protestantismus“.

Historisch wurde die Arbeitsreligion in Deutschland durch die schnelle Industrialisierung nach der Reichsgründung von 1871 begünstigt – das Deutsche Reich war bis 1914 der ökonomische „Tigerstaat“ seiner Zeit, mit Wachstumsraten, die an das China Anfang der 2000er erinnerte. „Deutscher Fleiß“ und „deutscher Erfindergeist“ wurden im Kaiserreich immer wieder als die entscheidenden Faktoren des wirtschaftlichen Erfolges gesehen. Der Stolz auf den Ruf deutscher Exportgüter nahm zu. (Die Bezeichnung „Made in Germany“ war ursprünglich als Warnhinweis vor minderwertigen importierten Produkten gedacht, was daran scheiterte, dass das Preis/Leistungsverhältnis vieler deutscher Waren besser als das vergleichbarer britischer Erzeugnisse war. Dieser „Flop“ war allerdings eher auf die Selbstüberschätzung der britischen Befürworter dieses Gesetzes als auf die überragende Qualität deutscher Waren zurückzuführen – wären in Deutschland damals die auch nicht üppigen britischen Löhne gezahlt worden, hätte es kein „Exportwunder“ gegeben.)

Die Arbeitsideologie der Nazis mit ihren verschwörungstheoretischen Ansätzen, nach der faule Schmarotzer und jüdische Parasiten die Feinde des fleißigen und ehrlichen deutschen Arbeiters seien, trug meines Erachtens ebenfalls sehr stark dazu bei, dass die Arbeitsreligion in Deutschland besonders aggressive Züge trägt.

Schließlich war es das „Wirtschaftswunder“ der 1950er und 1960er Jahre, die die Arbeitsreligion weiter beflügelte – nach allgemeiner Vorstellung war es die eigene harte Arbeit gewesen, die „uns aus den Trümmern geholt hatte“, unter Vernachlässigung anderer ökonomischer Faktoren. Nicht zu vernachlässigen sind auch starke kulturelle Einflüsse aus den „calvinistisch-kapitalistischen“ USA, die gerade zu dieser Zeit relativ unreflektiert übernommen wurde.

In der DDR existierte zur gleichen Zeit eine aus der UdSSR importierte Arbeitsreligion, die, vielleicht wegen des „preußisch-protestantischen“ Erbes dort mitunter besser „funktionierte“ als in ihrem Ursprungsland.

Nach der Vereinigung kam in den 1990er Jahren die „neoliberale“, d. h. eigentlich marktradikale, Ideologie hinzu.

Die Arbeitsreligion gewann auch deshalb an Fahrt, weil sie unbequeme Analysen und Denkarbeit erspart – wenn man so will, ist die Vergötterung des Fleißes Ausdruck geistiger Faulheit. Dass sie einfache Schuldzuweisungen ermöglicht, skizzierte ich schon weiter oben. Auch in ihrer „säkularisierten“ Form dient sie, wie seinerzeit bei den Calvinisten, der Angstabwehr, wenn auch Wirtschaftkrisen und sozialer Abstieg an Stelle der Höllenstrafen traten.

Neben den skizzierten Einflüssen ist der Anteil der Sozialdemokratie daran, dass die protestantische Arbeitsethik in einer weitgehend säkularen Gesellschaft zur Arbeitsideologie und sogar zur regelrechten Arbeitsreligion werden konnte, nicht gering zu schätzen. Immerhin war die Arbeitsreligion von Anfang an tief in der Sozialdemokratie verankert.

Martin Marheinecke, Mai 2013

6 Gedanken zu „Die Arbeitsreligion

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