Des „listigen Guidos“ Erben (2): Die Ariosophie – eine Quelle der nationalsozialistischen Ideologie
Eine wichtige Figur in der weiteren Entwicklung der Ariosophie war Jörg Lanz „von Liebenfels“, der Gründer des „Ordo Novi Templi“. Adolf Josef Lanz, auch ein Adliger von eigenen Gnaden, war zunächst Zisterziensermönch. 1899 verließ er den Orden und gründete um 1900 den „Neuen Templer-Orden“ oder „Ordo Novi Templi“. Nach René Freund liest sich die Mitgliederliste des O.N.T. „wie ein Who’s Who? des k.u.k. Österreich – neben hohen Militärs finden sich Universitätsprofessoren, Wissenschaftler, Schriftsteller“.
Im Gegensatz zu List standen bei Lanz nicht „Woudanismus“ und Runenmystik im Vordergrund – er war eher (pseudo-)christlicher Esoteriker und Mystiker, was allerdings in der „alle Götter sind ein Gott“-Ideologie der Ariosophen wenig bedeutet. List verstand sich als politischer Denker.
Nach einige sozialdarwinistischen Büchern veröffentlichte er 1905 seine Schrift „Theozoologie“ und gründete die Zeitschrift „Ostara“, die
„einzige und erste rassenwirtschaftliche Zeitschrift, die die Ergebnisse der Anthropologie praktisch in Anwendung bringen will, um den Umsturz und das Urrassentum wissenschaftlich zu bekämpfen und die europäische Edelrasse durch Reinzucht vor dem Untergang zu bewahren“.
Die „Ostara“ hatte 1907 angeblich eine Auflage von 100.000 Stück und war in Wien an gewöhnlichen Kiosken zu finden.
Schwerpunkt der „Ostara“ waren antiliberalistischen und alldeutschen politische Theorien. „Rassenkunde“, Antifeminismus, Antisemitismus und Anti-Parlamentarismus nahmen breiteren Raum ein. Zu den Autoren zählten unter anderen Mitglieder der „Guido-von-List-Gesellschaft“, zu den Stammlesern gehörte ein gewisser Adolf Hitler.
Später behauptete Lanz vor Mitgliedern seines Ordens, Hitler sei „unser Schüler“ – was streng genommen nicht stimmt, auch wenn Hitler viele seiner Ideen von den Ariosophen übernahm.
In seinem Hauptwerk „Theozoologie oder die Kunde von den Sodomsäfflingen und dem Götter-Elektron“ vertrat Lanz die Ansicht, dass einst Mitgliedern der göttlichen Hierarchie, die er „Elektrozoa“ nannte, auf der Erde gelebt hatten. Die „guten“ „Theozoa“ hätten „Menschenhochzucht“ betrieben, wobei sie sich hochtechnischer Hilfsmittel bedienten; die „arische Rasse“ war das Resultat ihrer Versuche. Ihre Gegenspieler, die „Dämonozoa“ hätten sich mit den Tieren vermischt, woraus sich die „dunklen Rassen“ entwickelt hätten. Der christliche Sündenfall ist also nicht anderes als die in mythologische Form gekleidete Rassenvermischung.
Lanz’ Lehre weist einige Parallelen zum Weltbild der Paläo-Astronautik (prominentester Vertreter: Erich von Däniken) auf. Allerdings deutet nichts auf eine direkte ideologische Verwandtschaft hin – es gibt lediglich eine wage „Ideen-Traditionslinie“, die über einige frühe deutschen Zukunftsromane und die durch sie beeinflusste deutsche Science Fiction der 1950er Jahre zur Götter-Astronauten-Hypothese verläuft. Der extreme Rassismus und die „völkischen“ Phantasien der lanzschen „Theozoologia“ gingen nicht in die universalistisch geprägte „Acient-Astronaut“ bzw. „Palaeo Seti“-Weltanschauung ein, beeinflussten allerdings rechtsextreme UFOlogen wie Jan Udo Holey alias „Jan van Helsing“.
Lanz sah sich in einer Zeit der Herrschaft der „Niederrassen“ und entwickelte ein Programm zur Beseitigung dieser Zustände. Es nimmt die Rassenpolitik und Judenverfolgungen im NS-Staat vorweg. Lanz empfahl Prämien für „Blondehen“, Sonderrechte für Blonde, Klöster für „Zuchtmütter“, Reinzuchtkolonien, Vielweiberei für blonde Männer, „Ehehelfer“ für zeugungsunfähige Männer und ähnliches.
Als Maßnahmen gegen die „Tschandalen“, die „Minderrassigen“, empfahl er kinderlose Ehen, Propaganda von Verhütungsmitteln, Kastration, Sterilisation, Prostitution, Einstellung von Wohltätigkeiten, Sklaverei, Zwangsarbeit, Deportationen in die Wüste, Verwendung als „Kanonenfutter“ im Krieg.
Nicht „nur“ die spätere Praxis bezogen die Nazis aus ariosophischen Quellen. Die Ariosophie lieferte eine einfache, immer aufgehende, Sündenbock-Theorie: Was immer bei den angeblich „höheren Rassen“ und ihren Gemeinwesen nicht vollkommen sein sollte, verschulden immer die anderen, die „Dunklen“. Die Feindbilder können wechseln, ein Feind, auf den das eigene Minderwertigkeitsgefühl projiziert wird, ist aber immer präsent.
Der esoterisch-religiöse Rassismus der Ariosophie ist in erster Linie sozial zu verstehen. Es ging – und geht – den Ariosophen darum, eigentlich soziale und politische Veränderungen – in Richtung offene demokratische Gesellschaft wie in Richtung Sozialismus – abzufangen, und die ungleichen sozialen Verhältnisse zu zementieren oder noch extremer zu gestalten. Zu diesem Zweck werden Menschen aufgrund ihrer ethnisch-genetischen Abstammung abgewertet. Gegebenenfalls können „niedere Rassen“ je nach politischem Bedarf „konstruiert“ werden. Das „ideale Feindbild“ war nicht nur für Hitler in „bester“ ariosophischer Tradition „der Jude“, gerade weil es eigentlich so wenig konkret war. („Wer Jude ist, bestimme ich!“ – Ausspruch des Wiener Bürgermeister und Antisemiten Karl Lueger, später immer wieder gern von verschiedenen Nazigrößen, vor allem Hermann Göring, zitiert.) Egal, ob es gegen die „Bolschewisten“ oder das „internationale Finanzkapital“ ging – die Juden gaben in der Nazi-Weltsicht immer einen brauchbaren Sündenbock ab.
Der Rassismus der Nazis hatte unter anderem okkulte Wurzeln – ohne jetzt der unhaltbaren These, die Nazi seien „in Wirklichkeit“ Ausführungsgehilfen einer okkulten Verschwörung gewesen, das Wort zu reden. Hitler war sicherlich kein Okkultist – nachdem er sie nicht mehr brauchte, rückte er von vielen völkisch-esoterischen Gruppen ab und ließ sogar ehemalige Steigbügelhalter wie den „Tannenbergbund“ Ludendorfs unterdrücken. Fast alle authentischen Zeitgenossenberichte deuten darauf hin, dass Hitler den Okkultismus und Okkultes ablehnte, ja nicht einmal ernst nahm. Es wäre dennoch falsch, ihn als reinen, eiskalten, letztlich materialistischen Machtmenschen zu sehen, der Mythen nur für seine Zwecke vereinnahmte. Es bleibt eine Tatsache, dass Hitler eine vernunftbestimmte, logische Weltsicht durch die Bank als „jüdisch-rational“ ablehnte, er bevorzugte sein Leben lang Theorien „intuitiver Erkenntnis“, wie die Ariosophie oder auch die obskure „Welteislehre“. Dass Hitler sich selbst als eine Art „weltlicher Messias“ sah, als Günstling der „Vorsehung“, ist gut belegt.
Während des 1. Weltkriegs griff die „Germania-Loge“, die sich als „Gegengewicht“ zu den angeblich „jüdisch verseuchten“ Freimauererlogen verstand, und ihre Hauptorganisation, die „Thule-Gesellschaft“, ariosophisches Gedankengut auf.
Das Symbol der Thule-Gesellschaft
Der von Rudolf von Sebottendorf (eigentlich Adam Alfred Rudolf Glauer) gegründeten und geführten „Thule-Gesellschaft“ entstammten viele spätere Nazi-Funktionäre, wie der „Parteiideologe“ Alfred Rosenberg („Der Mythus des 20. Jahrhunderts“) oder Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess. Hitler trat 1920 mit der Thule-Gesellschaft in Kontakt. Ob er ein reguläres Mitglied wurde, wird heute mangels Belegen bezweifelt. Er war aber zu mehreren Vorträgen als Gast der Thule-Gesellschaft im Hotel „Vier Jahreszeiten“ anwesend.
Wenig bekannt ist, dass die DAP, aus der die NSDAP hervorging, ursprünglich der „politische Arm“ der Thule-Gesellschaft war, gegründet, um die politischen Ideen der Thule auch im „arbeitendem Volke“ zu verbreiten.
Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“, neben Hitlers „Mein Kampf“ das grundlegende weltanschauliche Werk des deutschen Faschismus, ist von der „Arier-Urheimat“ Atlantis bis zum „spirituell“ begründeten Antisemitismus auf weiten Strecken pure Ariosophie.
Auch andere ariosophisch geprägte esoterische Gemeinschaften waren „Denkfabriken“, in denen Teile der Nazi-Weltanschauung erbrütet wurden. So die Artamanen-Bewegung um den 1923 in München gegründeten Verein „Artam e. V.“. Bei den Artamanen verband sich die Ariosophie mit Gedanken der Lebensreform, der Naturschutzbewegung und Ideen Oswald Sprenglers („Der Untergang des Abendlandes“). Sie verfolgten eine stramm agroromantische Zielsetzung: Die Artamanen verherrlichten die Bauern als die einzigen „organischen Menschen“ und predigten die Abkehr von der „internationalen Asphaltkultur der Großstädte“. Sie verabscheuten die westliche „Zuvielisation“ und träumten von einem naturverbundenen Leben ohne Industrie.
Das Mittel zu diesem „sanften“ Zweck war brutale Gewalt bis zum Völkermord: „Lebensraum“ sollte im Osten erobert werden, damit das deutsche Volk wieder zur Scholle zurückkehren könne.
Aus den Artamanen rekrutierte sich etwas, was man den „grünen Flügel“ der Nazi-Partei nennen könnte. Wie der „linke“ Flügel der NSDAP („Beefsteak-Nazis“: außen braun, innen rot) oder viele völkisch-okkultistische Gruppen wurden sie bald nach der Machtergreifung zugunsten der „machtpolitisch wertvolleren“ Großindustrie ausgebootet.
Der ehemalige bayrische Gauleiter der Artamanen, Heinrich Himmler, betrachtete „seine“ SS als legitime Erbin der Artamanen. Er übernahm nicht nur die Uniform, das „Artamanenschwarz“, sondern auch die Weltanschauung, allerdings ergänzt um einen zynischen Opportunismus und ohne die ursprüngliche Technikfeindlichkeit. Der „Reichsführer SS“ war und blieb bis zu seinem Selbstmord 1945 – anders als Hitler – ein in der Wolle gefärbter Okkultist ariosophischer Prägung.
Sieht man die Ariosophie als eine religiös-gesellschaftliche Reaktion auf Arbeiterbewegung, Demokratie und Internationalismus, war es möglicherweise keine „Notlösung“, dass das deutsche Besitzbürgertum 1933 aus Angst vor der Arbeiterbewegung der NSDAP den Weg zur Macht ebnete. Dieser Schritt war lediglich konsequent, unabhängig davon, ob die verantwortlichen Bank- und Industriepotentaten diesen Zusammenhang erkannten oder nicht. Meisten hielten sie persönlich nicht viel von „völkisch-okultistischer Schwärmerei“. Sie erschien einfach im Sinne des Machtgewinns „nützlich“.
Der historisch beispiellose industriell betriebene Völkermord der Deutschen im 2. Weltkrieg bliebt wie die inzwischen erwiesene Tatsache, dass keine Regierung in der deutschen Geschichte bis heute sich auf eine so aktive und breite Unterstützung durch die Bevölkerung stützen konnte wie das NS-Regime, ein letztlich unerklärbares Rätsel, wenn man einzig soziale, politische, historische und ökonomische Erklärungen heranzieht. Erst die religiös-psychologische Dimension, der Missbrauch der Archetypen, der Appell nicht nur an „niedere Instinkte“, sondern vor allem an „alte Denktraditionen“, kann meines Erachtens annähernd rklären, wie aus braven Bürgern Hitlers willige Vollstrecker werden konnten. Legt man dem NS-Regime ein ariosophisch-esoterisches Weltbild zugrunde, wären Völkermord und Vernichtungskrieg nach wie vor Wahnsinn – aber ein Wahnsinn mit Methode, mit einer perfiden inneren Logik.