Boethius – ein christlicher oder ein heidnischer Philosoph?
Anicius Manlius Severinus Boëthius (geboren um 480, um 525 in Pavia hingerichtet) war ein spätantiker Philosoph, der „letzter Römer und erster Scholastiker“.
Boethius war bereits ein anerkannter Gelehrter und Konsul, als der ostgotische König
Theoderich als Herrscher über Italien ihn als magister officiorum, als ranghöchsten Beamten, an seinen Hof berief.
In den Machtkämpfen zwischen der pro-oströmischen und der anti-oströmischen gotischen Fraktion sowie zwischen alten senatorischen Geschlechtern und „Emporkömmlingen“ stellte sich Boethius schützend vor den Senator Albinus, der in einem kompromittierenden Briefverkehr mit Konstantinopel gestanden haben soll. Daraufhin wurde eine erfolgreiche Intrige gegen Boethius inszeniert, worauf er der Konspiration mit dem oströmischen Kaiser verdächtigt wurde. Er fiel bei Theoderich in Ungnade, wurde aller seiner Ämter enthoben, inhaftiert und in Abwesenheit zum Tode verurteilt. In der Zeit vor seiner Hinrichtung verfasste er sein einflussreichstes Werk, Consolatio Philosophiae („Trost der Philosophie“).
Boethius gilt (auch in der „Wikipedia“) als christlicher Philosoph. Allerdings gab es schon seit der Renaissance immer wieder Zweifel an seiner christlichen Gesinnung. Womit tröstet sich ein zu Unrecht zum Tode Verurteilter? Man sollte annehmen, dass ein überzeugter Christ Trost in der Religion sucht. Aber Boethius bezieht sich in der „Trost der Philosophie“ nirgends auf den christlichen Glauben, sondern behandelt zentrale metaphysische und ethische Fragen ausschließlich im Sinne der antiken philosophischen Tradition.
Sogar die Echtheit seiner theologischen Traktate wurde deshalb – zu Unrecht – angezweifelt.
Die Bochumer Philologen Prof. Dr. Nicola Kaminski und Prof. Dr. Reinhold Glei befassten sich in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Franz Lebsanft aus Bonn mit der Frage, welche Rolle das Christentum für den „letzten Römer“ und seine Rezeption spielte. Sie stellten fest: Boethius war zumindest nominell Christ. Aber er war, wie sein „Trost der Philosophie“ zeigt, kein christlicher Philosoph. Sein Heiland war Sokrates, nicht Christus, und seine Apostel waren nicht Petrus und Paulus, sondern Platon und Aristoteles.
Aber dieses Werk ist nicht, wie man erwarten könnte, das Tagebuch eines erschütternden persönlichen Schicksals, sondern eine fast nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was die antike Philosophie im Angesicht des Todes an Trostgründen aufbietet,
stellt Prof. Glei fest. Obwohl Boethius nominell Christ war und und obwohl er einige trockene Traktate über dogmatische Fragen verfasste, war er im Herzen und im Denken aber ein antiker Mensch, dem in der Todesstunde nicht die christliche Heilsbotschaft, sondern nur die abstrakte Lehre der Philosophie Trost zu spenden vermochte.
Trotzdem wurde er als christlicher Märtyrer verehrt – denn der arianische Christ Theoderich galt in der römisch-katholischen Kirche als „Ketzer“. Der arianische Glaube lehnte die „Dreieinigkeit“ ab, ihm zufoge war Christus nur gottähnlich, aber nicht gottgleich. Auch im heutigen Katholizismus zieht der Zweifel an der Dreieinigkeit Gottes die automatische Exkommuniktion nach sich – solche „Kleinigkeiten“ wie Sexualdelikte an Minderjährigen, Kindesmisshandlung, Unterschlagung von Gemeindeeigentum oder Legnung des Holocaustes bekanntlich nicht.
Den vielfältigen Transformationen des christianisierten Boethius gehen 15 Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in einem von den drei Philologen herausgegebenen Sammelband nach:
Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Reinhold F. Glei, Nicola Kaminski und Franz Lebsanft. Berlin: Walter de Gruyter, 2010.
Erstaunlich ist, dass eine Trostschrift ohne christlichen Inhalt im westeuropäischen Mittelalter die wichtigste Schrift nach der Bibel wurde, und Boethius nach Augustinus als zweitwichtigster christlicher Philosoph galt.
Dass der „Trost der Philosophie“ nichts Christliches enthielt, wurde geflissentlich ignoriert – immerhin widersprach die Schrift ja auch nicht ausdrücklich dem Christentum. Daher galt die Consolatio nicht als Teil des heidnischen Erbes, dessen Überlieferung infrage gestellt wurde, sondern als genuin christlicher Text. Es gibt im Mittelalter über 400 Handschriften, zahlreiche Kommentare und Übersetzungen in die Volkssprachen. In der Frühen Neuzeit wurde das Werk dann vielfach gedruckt, grammatisch erklärt und sogar im Streit der Konfessionen eingesetzt.
Für die abendländische Geistesgeschichte war diese Fehleinschätzung überaus segensreich.
Zwar blieb Boethius‘ großes Projekt, die Hauptwerke Platons und des Aristoteles durch Übersetzungen und Kommentare der lateinischsprachigen Welt zugänglich zu machen, wegen seines frühen gewaltsamen Todes unvollendet. Aber die vollendeten Aristotelesübersetzungen und -kommentare blieben bis ins 12. Jahrhundert die einzigen in der lateinischsprachigen Welt verfügbaren Schriften des Aristoteles, da Griechischkenntnisse in Westeuropa seit dem Frühmittelalter fast nirgends mehr vorhanden waren. Boethius übersetzte und kommentierte auch die Isagoge, die Einführung des Porphyrios in die aristotelische Logik, die im Mittelalter das wichtigste einführende Handbuch der Logik wurde. Ironie der Geschichte: Porphyrios war entschiedener Gegner des Christentums und Autor einer umfangreichen Kampfschrift „Gegen die Christen“.
Neben seiner Arbeit als Übersetzer und Kommentator verfasste Boëthius auch eigene Schriften, hauptsächlich über Syllogismen, aber auch über Mathematik und Musik. Seine Schrift De institutione musica vermittelte der mittelalterlichen Musiktheorie die antike griechische Harmonik.
Außerdem schrieb er, wie erwähnt, theologische Traktate, die Opuscula sacra. An einflussreichsten war die knappe Schrift De hebdomadibus über den Unterschied von göttlichem Sein (esse) und allem geschöpflich daran partizipierenden Seienden (ens), ein im wesentlichen neuplatonisches Traktat mit nur wenigen Bezügen zum biblischen Gottesbegriff.