„ALG II auf fünf Jahre begrenzen“ und das Ende der Demokratie
Gunnar Heinsohn ist, „dank“ eines massiv sozialdarwinistischen Gastbetrages in der „FAZ“ („Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzen“), wieder im Fokus des öffentlichen Interesses. Auf die meiner Ansicht nach menschenverachtenden Thesen in diesem Artikel sind andere schon ausführlich und treffend eingegangen (ich empfehle den Artikel „Das unwerte Hartz IV-Leben“ auf TP).
Auch ohne ihm eine Nähe zur Naziideologie zu unterstellen, würde eine zeitliche Begrenzung (und erst recht eine Abschaffung) von ALG II oder auch Sozialgeld meiner Ansicht nach das Entstehen eines autoritären Diktaturstaates begünstigen. Es wäre übrigens auch der Marktwirtschaft nicht zuträglich.
Was würde passieren, wenn Sozialhilfe auf fünf Jahre begrenzt wird? Ich versuche eine Antwort auf rein pragmatischer Ebene, der der instrumentellen ökonomischen und poltischen Vernunft, ohne jedes „Humanitätsgedöns“ und ohne Rücksicht auf die Menschen- und Bürgerrechte, die auch einem Armen nun einmal zustehen.
Die Idee, die Sozialhilfe auf fünf Jahre zu begrenzen, hört sich aus (wirtschafts-)liberaler Sicht grundsätzlich nicht einmal verkehrt an – das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass Heinsohn so viel Zustimmung bekommt. Es spart Sozialausgaben und motiviert die Leute, wirklich alles zu machen, um sich durchs Leben zu schlagen. Wie Heinsohn vermutlich zurecht vermutet, werden Langzeitarbeitslose es sich unter diesen Umständen zehnmal überlegen, ob sie wirklich Kinder haben wollen. (Dass unter den von Heinsohn vorgesehenen Rahmenbedingungen das zu illegalen Abtreibungen und Kindesaussetzungen / Kindsmord führen würde, steht auf einem anderen Blatt – aber wir wollen ja nicht sentimental werden.)
Der Haken: Jene, die von Sozialleistungen leben, betrachten die nämlich als ihr gutes Recht. (In den meisten Fällen zurecht, aber Radikalkapitalisten werden das anders sehen.) Mag sein, dass die die „Hartzer“ sich bisher sehr viel gefallen ließen, ohne aufzumucken. Ein wesentlicher Grund für diese „Ruhe“ liegt daran, dass selbst ein Langzeitarbeitsloser noch etwas zu verlieren hat – nur deshalb funktionieren ja die Sanktionen bei Fehlverhalten. Wenn es gar nichts mehr gibt, und sie nichts zu verlieren haben, werden sie sich mit Gewalt nehmen, was ihnen ihrer Ansicht nach zusteht.
In den USA führte das nach der zeitlichen Begrenzung der Sozialhilfe zu einem Anstieg der Kriminalität, die Gefängnisse sind überfüllt – auch auf Kosten der Allgemeinheit. Wer nichts zu beißen hat und im Winter in Gefahr läuft, zu erfrieren, den schreckt der Knast, wo es immerhin satt zu essen, ein Bett im Trockenen und eine Heizung gibt, nicht mehr ab.
Schlimmer noch: auch die Gefahr eines gewaltsames Aufstandes nimmt zu. Üblicherweise reagieren Regierungen auf Aufmüpfige mit Repression, mit Überwachen, hart durchgreifen und hart strafen. Wenn auf diese Weise der „Mob“ unten gehalten wird, bedeutet das erst einmal, dass die Gefängnisse noch voller würden. Also läge es schon aus Kostengründen nahe, in irgend einer Form die Zwangsarbeit einzuführen. (Ansätze dazu gibt es, in den USA, aber auch bei uns.) Also z. B. ein Bundesarbeitsdienst, eventuell mit Massenunterkünften (spart Wohnkosten!) für die folgsamen Langzeitarbeitslosen, „Gulags“ (um mal keinen Nazivergleich zu machen) für die, die „Aufmucken“.
Sklavenarbeit hat, wie z. B. ein Blick nach China zeigt, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen aber den Nachteil, dass sie konkurrenzlos günstig ist. Freie Arbeiter in der gleichen Branche verlieren dadurch ihren Job oder ihre Löhne werden so weit gedrückt, dass sie damit nicht mehr auskommen. Auf die Dauer wird das dazu führen, dass ein marktwirtschaftliches System sich nicht länger halten kann. Außerdem wird ein ausgebautes Gulag-System für „Aufmuckende“, auch wenn es ursprünglich „nur“ für „aufmuckenden Arbeitsscheue“ gedacht ist, unweigerlich dazu führen, dass auch andere „Unbequeme“ im Arbeitslager landen. Die Option „Zwangsarbeit“ ist also eine Gefahr für Demokratie und Marktwirtschaft. (Nicht für kapitalistische Eigentumsverhältnisse. Die waren z. B. bei den Nazis trotz gelenkter Wirtschaft intakt.)
Andere Möglichkeit, auch teilweise in den USA praktiziert, aber in Reinform in Ländern ohne „soziales Netz“ zu besichtigen: man überlässt die Armen einfach sich selbst. Hunger, Seuchen, Kriminalität? Alles egal, solange die Armen die Wohngebiete der Mittelschicht nicht plündernd heimsuchen und um die der Reichen einen weiten Bogen machen.
Heinsohns „einfache Lösung“ wird die Probleme absehbar verschärfen. Dafür sein kann eigentlich nur jemand, dem die Freiheit als Wert ziemlich schnuppe ist. Auch in letzter Konsequenz die eigene …
Ein Artikel zu Heinsohn als Vertreter oft schlecht untermauerter wissenschaftlicher Außenseiterpositionen und als beliebter „Öchsperte“ (als „Experte“ dargestellter Stichwortgeber für Kampagnen) ist in Arbeit. Darin werde ich auch auf das in Hexenkreisen ziemlich beliebte Buch „Die Vernichtung der Weisen Frauen“ eingehen, durch das Heinsohn zusammen mit seinem Co-Autoren Steiger einem breiten Publikum bekannt wurde.
Nachtrag 30. Mai:
Heinsohn – vom “Entfant terrible” der Hexenforschung zum “Klassenkämpfer von oben” ist endlich fertig!
Pingback: Heinsohn – vom “Entfant terrible” der Hexenforschung zum “Klassenkämpfer von oben” - Asatru zum selber Denken - die Nornirs Ætt
Im Licht dessen, was gerade im „Sparpaket“ beschlossen wurde, ist Heinsohns Aufsatz Rechtfertigung und Propaganda zugleich.
Die Maske ist gefallen (NachDenkSeiten):
Wie weit die Behauptungen, die Heinsohn in Zeitungsartikeln verbreitet von der Realität entfernt sind, wird aus anderen Zeitungsartikel überdeutlich klar.
Z. B. aus diesem Artikel der SVZ: Arm und schwanger: Kein Geld für die Pille.
Ein erschreckend unkritischer Artikel, der leider nur selbst ideologische Reflex-Reaktionen gegen diesen ungewöhnlichen Heinsohnschen Vorschlag wiederkaut/kopiert. Damit ist aber leider kein sachliches Argument gegen oder für etwas gegeben. Erst recht nicht, wenn man selbst Gespenster sieht wie „Radikalkapitalisten“ und wirtschaftsliberale. Diese beiden Gespenster gibt es de facto nicht – theoretisch vielleicht schon – genauso wenig wie den Kommunismus oder weitere abstrakte Ideen.
Ob mein Artikel unkritisch ist, lasse ich einmal dahingestellt. Ich halte den heinsohnschen Vorschlag leider nicht für „ungewöhnlich“, denn einerseits ist die Befristung der Sozialhilfe in den USA ja umgesetzt worden, anderseits sind Vorschläge in diese Richtung in der „Hartz IV-Debatte“ ebenso wenig ungewöhnlich, wie in der u. A. von Sarrazin befeuerten „Zuwanderer / Integrations“-Debatte.
Sachlich stehen dem Vorschlag die z. T. verheerenden, und von Heinsohn wohlweislich verschwiegenen, Folgen dieser Regelung in den USA entgegen. Diese sozialen Folgen wiegen meines Erachtens die möglichen ökonomischen Vorteile bei weitem auf.