Waren unsere Vorfahren Menschenfresser?
Zur Zeit macht eine Neubewertung eines schon einige Jahre alten archäologisches Fundes Schlagzeilen: 1996 wurde in Herxheim bei Karlsruhe bei einer 7000 Jahre alten Siedlung ein Massengrab von fast 500 Menschen gefunden – darunter auch Überreste von Säuglingen und Kindern. Bruno Boulestin von der Universität Bordeaux wertete nun den Fund gegenüber dem BBC als einen seltenen Fall von Kannibalismus in der Jungsteinzeit in Europa.
In der Not zu Menschenfressern? (epoc.de)
In der Tat weisen viele der bei Herxheim gefundenen Knochen Schnittspuren auf, die zuerst als Hinweis auf ein Massakers gedeutet wurde. Dagegen sprachen aber Keramiken und andere Grabbeigaben, die darauf hinwiesen, dass dort nicht nur Tote aus der näheren Umgebung bestattet wurden, sondern teils von weither stammten. Das weist darauf hin, dass es sich um eine überregionale rituelle Begräbnisstätte handelte.
Ohne das Reizwort „Kanibalismus“ bzw. „Menschenfresser“ hätte es die neue Funddeutung Boulestin wahrscheinlich nicht in die Massenmedien geschafft:
Archäologie: Die Spuren der Kannibalen (focus.de)
Die Menschenschlachter von Herxheim (Spon)
Boulestin hat an etlichen Gebeinen Schnitt-, Kratz- und sogar Bissspuren nachgewiesen. Viele Knochen seien zudem mutwillig zertrümmert worden. Von den Schädeln fanden sich oft nur die Decken. Für Boulestin ist damit klar, dass die Menschen „Linienbandkeramik-Kultur“ hier über Jahrzehnte hinweg Menschen getötet, zerstückelt, und gegessen hatten.
Das ist nach Ansicht der Speyerer Archäologin Andrea Zeeb-Lanz falsch: Archäologin: Keine Beweise für Kannibalismus (Abendblatt.de). Massenkannibalismus sei bei den Knochenfunden in der jungsteinzeitlichen Grubenanlage nicht beweisbar. Vielmehr handle es sich bei den Skeletten und systematisch zerschlagenen Knochen um Relikte eines unbekannten Rituals.
An und für sich wäre Kanibalismus im jungssteinzeitlichen Europa keine Sensation: Bereits 1986 hatten Archäologen in einer französischen Höhle ähnliche Hinweise auf kannibalische Riten in der Steinzeit entdeckt. Kannibalismus in Ethnologie und Geschichte (wikipedia) Der besondere Sensationswert von Boulestins Deutung liegt wohl darin, dass ritueller Kanibalismus bei den nach landläufigen Vorstellungen schon „zivilisierten“ Ackerbauern der Linienbandkeramik-Kultur mit den landläufigen Klischees kollidieren, die Menschenfresser nur unter „Wilden“ (in exotischen Weltgegenden) und unter „ganz Primitiven“ (Altsteinzeit) verorten.